Gehalt

Einkommen

Da ich mit dem unten beschrieben Mittelwert-Verfahren selbst die besten Erfahrungen gemacht habe, sei ihr Werdegang beschrieben. Am Anfang stand für mich das Kapitel „Das Rechtsorgan“ in Waldorfschule und Dreigliederung von Dieter Brüll 1992:

Zeitgemäß dürfen wir heute nennen, daß mein Einkommen aus dem Betrag besteht, den die anderen Mitarbeiter mir zur Verfügung gestellt haben. So können wir es auch in dem von Rudolf Steiner beschriebenen Hauptgesetz lesen. Konkret gesprochen: Was je 29 von den 30 Mitarbeitern dem 30. geben wollen. Daß dabei die Frage, was der 30. nötig hat (Bedürfnis) in seiner Lage (zum Beispiel zwei Familien zu ernähren oder gezwungenermaßen eine teure Wohnung), eine Rolle spielt, ist selbstverständlich, aber es drückt sich nicht in der Selbstgerechtigkeit, sondern im Verständnis der anderen aus. Auch anderes jedoch schlägt sich im Geld nieder: daß man an Frau Regsam niemals vergeblich appelliert, daß Herr Clever stinkfaul ist, daß Frau Weiniger für jeden Schmerz ein offenes Ohr hat. – Die wenigen Erfahrungen, von denen ich weiß, stimmen recht zuversichtlich. Die Herausforderung, ganz objektiv aus dem Du heraus zu urteilen, scheint eine gewisse Hellfühligkeit hervorzurufen. Und die Tatsache, daß man ja selber auch der 30. wird, mag eine etwas unterentwickelten Redlichkeit stützen. Sollte aber wirklich einmal ein testimonium abeundi zum Vorschein kommen, so ist das gewiss nicht immer negativ zu werten. Andrerseits war es beeindruckend, daß gerade sehr bescheidene, nie in den Vordergrund tretende Kollegen extra bedacht wurden: natürlich innerhalb des Erwirtschafteten.

Sollte der Kreis der Kollegen sich aber vertan haben, dann ist es gut, die Möglichkeit geschaffen zu haben, daß Revision erbeten werden kann. Vielleicht hat Frau Kümmerlich wirklich ganz für sich behalten, daß sie nicht nur alleinstehende Witwe ist, sondern auch noch ihre und die Eltern ihres Gatten versorgt. Erzählt sie das dem Vertrauensmann – das sollte lieber nicht der Schatzmeister sein, der ja „berufshalber“ zur Pingeligkeit neigt -, dann kann dieser an das Rechtsorgan herantreten. Er kann, ohne das Geheimnis von Frau Kümmerlich der Öffentlichkeit preiszugeben, einfach mitteilen, daß er nach Erkenntnis der Lage von Frau Kümmerlich überzeugt ist, daß ihr Einkommen um soundsoviel Mark erhöht werden sollte.“

In einigen zwar zeitlich begrenzten Unternehmungen konnten wir solche gegenseitig zuweisende Verteilung vornehmen per Mittelwert:

Jeder einzelne weist jedem anderen den Betrag zu, den der verdienen solle aus seiner Sicht. (Zwar geht das sinnvoll nur nach Mitteilung des Bedarfs, die ist aber etwas anderes als die eigene Bestimmung eines Wunschgehalts!)
Der Mittelwert aller Zuweisungen bestimmt das Gehalt.
So ist jeder in die Verantwortung gestellt, jedoch nicht für sich, sondern für die anderen. „Wenn Menschen Verantwortung bekommen, machen sie was daraus.“ (s.u.)
Die Umkehrung des Blicks – weg von sich, zum anderen hin – schafft Freiheit. Den Blick auf den eigenen Bedarf kann jeder frei von irgendwelchen Nöten wagen, da keine Verbindlichkeit damit verbunden ist – die anderen werden entscheiden. Jeder kann frei von Beeinflussung oder Angst vor Moralisierungen seitens der Kollegen seinen eigenen Maßstab anwenden, zum Beispiel:

  • Wer meint, alle seien gleich und sollten darum also das Gleiche bekommen, braucht sich um die Bedarfsmeldungen nicht zu kümmern, da sind die Eintragungen schnell gemacht.
  • Wer denkt, der individuell gewünschte Betrag sei heilig – auch das eingetragen geht schnell von der Hand.
  • Ein Dritter mag die gesellschaftlichen Gepflogenheiten so wie sie sind für gerecht halten und also nach Ausbildungstand, Leistung und Dauer der Mitarbeiterschaft verteilen bzw. nach Tarif oder BAT…
  • Ein Vierter kann einen der drei Grundsätze zur Basis nehmen, jedoch die Beträge sozialisieren – nach welchen Kriterien auch immer.

Usw..
Sollte es extreme Ansichten geben – sie relativieren sich von allein durch die Gesamtheit. Gewiss werden als unverschämt empfundene Ansprüche zurechtgestutzt. Gewiss auch wird falsche Bescheidenheit korrigiert. Das Wichtige: nicht durch Moralin geschieht die Korrektur, sondern strukturell oder systemisch durch die Wirklichkeit der Einzelansichten selbst.
Das Ganze geht schnell und leicht, erfordert keinerlei Diskussion. Und Demokratie wird wirklich: jede Stimme hat das gleiche Gewicht.
(Nichts gegen Diskussion, die soll es gerne geben, da lernt man sich kennen, schön! Nur die Entscheidung selbst sei getrennt davon.)

(12.10.2014)

Ein interessanter Artikel zum Thema: https://www.faz.net/aktuell/beruf-chance/arbeitswelt/mitarbeiter-bestimmen-arbeitszeit-und-gehalt-selbst-13186671.html

Wir legen unsere Gehälter jetzt alle zusammen fest.“ (Julian Vester, Hamburg, Elbdudler.) „… jeder sollte sein Wunschgehalt aufschreiben… Anschließend musste jeder seine Forderung mit den Kollegen diskutieren. „So viel Offenheit erfordert Mut und tut auch emotional weh““ (s.o.) Es ist sehr bewundernswert, dass Menschen diesen Mut aufbringen – Chefs, solches zu initiieren, Mitarbeiter, dabei mitzutun.
Der beschriebene emotionale Schmerz ist jedoch vermeidbar (nur genau dieser ist gemeint, nicht jeder Schmerz!), wenn der Sinn der Fragestellung umgekehrt wird:

  • Im Beispiel wird der einzelne aufgefordert, zu wünschen, ist die Geste ein potentielles Nehmen, welches sich dann diskutorisch korrigieren lassen muss. (Allerdings ist im FAZ-Artikel nicht erwähnt, was denn die Diskussion bedeutet, wird danach abgestimmt? Wie? Bestimmt jeder trotz Diskussion frei selbst? Entscheidet am Ende der Chef?)
  • Anders geht es, wenn umgekehrt die Geste ein Geben ist. Siehe oben!