Digital und Erbsünde

Tendenz zur Digitalisierung bei den Sinnen – Beobachtungen in Sinnesfeldern:

1. Farben, Licht & Finsternis –

Um uns herum gibt es ein „Flutendes Farbenmeer“ – jedoch unterscheiden wir nur einige bezeichnete Farben. Wie man geschichtlich eine Zunahme von verwendeten Farbwörtern beobachten kann, so auch in der individuellen Kindesentwicklung: Rot wird als erstes unterschieden (neben Hell & Dunkel, Weiß & Schwarz), dann Gelb. Die Grenze von Grün und Blau bleibt am längsten unscharf… Wie überall prägt das Begriffsrepertoire umgekehrt wieder die Wahrnehmung: ein Kind, welches noch kein Orange kennt, neigt nicht nur dazu, die Dinge gelb oder rot zu nennen, sondern auch sie so zu sehen!

  • Das ist die Ursünde, wir sondern. Müssen es tun, Bewusstsein und Verständigung wären nicht möglich, wenn wir für die unendlichen Zwischentöne unendlich viele Begriffe bilden müssten.
  • Das ist die Erbsünde, denn wir haben sie geerbt – von Gott, der als erster schied Licht von Finsternis, Tag von Nacht; sonderte Himmel von Erde, flüssig von fest…

Auf einfacher Sprachstufe sind die Farbwörter einfach hinweisend auf Gegenstände: so kommt „braun“ von „prunus“ und bedeutet als Pflaumenfarben alles von Grünbraun bis Lilablau. Später erst gibt es Begriffe rein für Farben.
Nicht nur die vorhandenen Begriffe beeinflussen die Wahrnehmung immer in Richtung der von ihnen angebotenen Stufen, sondern auch sogar die Erinnerung: so erleben wir Tomaten, weil rot gewusst, als roter denn ein gleiches Rot unbekannter Objekte. So erscheint Gras noch grün in solcher Dämmerung, in welcher grasgrüne Gegenstände außerhalb unserer Erinnerung längst grau genannt werden.

aus „BLAU – wie die Schönheit in die Welt kommt“ (Kai Kupferschmidt 2020):

BLIND FÜR BLAU
William Ewart Gladstone hatte zwei Leidenschaften: Politik und das klassische Altertum. Die Politik wurde zu seinem Beruf. 1832 wurde Gladstone, im Alter von 22 Jahren, erstmals ins britische Unterhaus gewählt. Er verließ das Parlament 63 Jahre später. In der Zwischenzeit war er vier Mal Premierminister unter Königin Victoria und ebenso häufig Schatzkanzler (im Grunde Finanz und Wirtschaftsminister in einem).
Doch Gladstone war auch ein Gelehrter mit einer außer gewöhnlichen Liebe für den Dichter Homer, jenen »Schöpfer unsterblicher Werke, dessen Leistungen noch heute unübertroffen dastehen«. In seinem monumentalen Werk Homerische Studien untersuchte Gladstone auf mehr als 1700 Seiten alles von »Homers Sinn für die Schönheit der Landschaft« über seinen »Gebrauch von Zahlen« bis hin zu »Homers Auffassung und Gebrauch der Farben.«
Und was Gladstone über Homers Farben zu sagen hatte, hatte es in sich: Die Farbwörter, die Homer nutzte, schienen bei genauer Betrachtung mehr als seltsam.
Gladstone ging gewissenhaft jede Textstelle durch, an der eine Farbe auftaucht, und seine Analyse ist noch heute beeindruckend zu lesen: Am häufigsten nutzt Homer demnach schwarz und weiß, hell und dunkel. Alle anderen Farbwörter sind viel seltener und sie werden für völlig unterschiedlich erscheinende Dinge genutzt. Mit dem Wort »phoinios« (Φοίνιος) beschreibt Homer sowohl das strömende Blut des verwundeten Menelaus wie auch ein Pferd. Das ließe sich auch dann nur schwer erklären, wenn man das Wort als »kastanienbraun« übersetzte, schreibt Gladstone. »Noch gesteigert wird diese Schwierigkeit, wenn wir finden, dass mit dem Beiwort »phoinios« eine junge Palme belegt wird.« Das Wort »chloros« (χλωρός), grün, nutzt Homer für junge Zweige, eine Keule aus Olivenholz – und Honig.
»Blau« taucht gar nicht auf. Mit dem Wort »kuanos« (κυανός), das später »blau« bedeutet, charakterisiert Homer dunkle Dinge: Eine dunkle Wolke, die Trauerkleider der Thetis, das Haar des Poseidon und die Augenbrauen des Zeus. Es steht aber auch für Gegenstände aus Bronze. Das Wort »oinops« (οίνοψ), was so viel bedeutet wie weinfarben, verwendet Homer achtzehn Mal, um das Meer zu beschreiben. Dabei habe das Meer mit dem Wein höchstens gemeinsam, dass beides dunkel sei, schreibt Gladstone. Und Homer benutzt dasselbe Wort, wenn es um Ochsen geht.
Die Indizien brachten Gladstone zu einer »überraschenden Schlussfolgerung«: Homers Wahrnehmung der Regenbogenfarben sei im Allgemeinen mangelhaft und unbestimmt gewesen. Der große griechische Dichter habe die Welt offenbar vor allem in hell und dunkel eingeteilt. Als überwältigenden Beweis sah Gladstone es an, »dass, obgleich Homer unter einem südlichen Himmel lebte, er doch niemals diesen Himmel blau nennt.«
Als Grund sah Gladstone nur eine Möglichkeit: »dass unter den Griechen seiner Zeit das farbempfindende Organ nur teilweise entwickelt gewesen wäre«. Die Griechen, behauptete Gladstone, konnten das Blau der Ägäis schlicht nicht sehen.

BUNTE THEORIE
Gladstones provokante Idee inspirierte andere, vor allem in Deutschland. Der Sprachforscher Lazarus Geiger untersuchte zahlreiche alte Quellen und verkündete, Homer sei keine Ausnahme. In anderen alten Texten werde die Farbe Blau ebenso wenig erwähnt. Selbst die Bibel finde keine Gelegenheit, der blauen Farbe zu gedenken. Und über die Rigveda, eine Sammlung von Hymnen und der älteste heilige Text des Hinduismus, schreibt Geiger: »Diese Lieder, aus mehr als 10000 Versen bestehend, sind fast in ihrer Gesamtheit mit Schilderungen des Himmels angefüllt, kaum ein anderer Gegenstand findet sich häufiger erwähnt; das Farbenspiel, das Sonne und Morgenröthe täglich an ihm bilden, Tag und Nacht, Wolken und Blitze, Luftraum und Aether, dies alles wird in unerschöpflicher Fülle immer und immer wieder mit aller Pracht vor uns entfaltet: nur, dass der Himmel blau ist, würde, wer es nicht wüsste, aus diesen uralten Gedichten nicht erfahren können.«
Ein anderer Deutscher, der Ophthalmologe Hugo Magnus aus Breslau, entwickelte schließlich eine Art wissenschaftliche Theorie: ein Stufenmodell für die Entwicklung der Farbwahrnehmung. Magnus glaubte, dass die Netzhaut des Menschen zunächst nur in der Lage war, hell und dunkel zu unterscheiden. Erst durch die ständige Reizung durch Licht habe die Netzhaut dann langsam die Fähigkeit entwickelt, Farben zu unterscheiden. »Die Netzhaut, so stellen wir uns das vor, wurde durch die unausgesetzt und unaufhörlich auf sie eindringenden Lichtstrahlen allmählich in ihrer Leistungsfähigkeit erhöht«, schrieb er. Magnus glaubte, dass sie bei dieser Entwicklung den Farben des Regenbogens folgte.
Gladstone nahm die Theorie dankbar auf und verbreitete sie: »Im Beginn herrschte bei den primitiven Menschen absolute Farbenblindheit, schrieb er. Dann sei die Wahrnehmung für die Farben an einem Ende des Spektrums erwacht: Rot, Orange, Gelb. Das erkläre die herausragende Bedeutung der roten Farbe in der frühen Malerei und in der Kleidung der Antike. Und es erkläre auch Homers seltsame Beschreibung der Welt, denn er habe in dieser Phase der menschlichen Entwicklung gelebt. Erst später seien die Grüntöne wahrgenommen worden. Und zuletzt »in der vierten Entwicklungsphase beginnt die Erkenntnis der blauen Farbe sich Bahn zu brechen«. Doch diese sei noch nicht abgeschlossen. So werde berichtet, »dass in Birma blau und grün überraschend häufig verwechselt werden«.
Den Grund für diese Abfolge sah Magnus im »Gehalt an lebendiger Kraft« der verschiedenen Farben. Kurz: Rotes Licht sei besonders energiereich und habe sich deshalb auf der Netzhaut zuerst bemerkbar gemacht. Dann seien nach und nach die anderen Farben des Regenbogens gefolgt. Er hielt die Entwicklung für noch nicht abgeschlossen. »Wir möchten viel eher glauben, dass im Lauf der kommenden Zeiten der Farbensinn eine noch weitere Ausbildung erfahren und sich über das äusserste heute sichtbare violette Ende des Spectrum noch in das Gebiet des Ultravioletten hineinerstrecken werde.«
Die ganze Theorie war im Rassismus der Zeit mariniert. Die Entstehung des Menschen wurde damals als langsame Vervollkommnung angesehen und viele Naturvölker galten den vermeintlich zivilisierten Gelehrten als Zwischenstufen dieser Menschwerdung. So spekulierte Gladstone, ein Indiz für den weniger fortgeschrittenen Farbsinn bei Naturvölkern sei »die Vorliebe der unzivilisierten Völker für brennende und schreiende Farben«.

SPRACHLOS
Gladstone, Geiger und Magnus waren mit ihren Gedanken nicht allein. Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele große Intellektuelle von der Theorie überzeugt. So schrieb der Philosoph Friedrich Nietzsche in Morgenröte: »Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen muss, das Auge für Blau und Grün blind war.« Auch andere Gelehrte verbreiteten die Theorie. »Ein volles Jahrzehnt hindurch blieb es einer der beliebtesten Stoffe für einen packenden Journalartikel, den Lesern zu erzählen, daß die Griechen das herrliche blaue Meer ihrer Küsten und die Pracht ihres tiefblauen Himmels gar nicht zu würdigen vermocht hätten«, monierte der Apotheker und Schriftsteller Ernst Ludwig Krause 1880 in einem Artikel in der Zeitschrift Die Gartenlaube. »Eine Schaar oberflächlicher Philosophen schwelgte in der Idee, der Farbensinn gehöre zu den höheren geistigen Fähigkeiten, die erst im Menschen langsam zum Ausdruck gekommen seien.«
Krause, einer der wichtigsten Popularisierer von Charles Darwins Ideen in Deutschland, zählte in seinem Artikel auch die Gründe auf, warum die Theorie von Magnus unsinnig erschien. Da war zunächst die Tatsache, dass zahlreiche Tierarten Farben unterschieden. Sollte das menschliche Auge diese Fähigkeit erst vor wenigen tausenden Jahren erlernt haben, obwohl selbst Bienen dazu in der Lage waren? Außerdem gab es zahlreiche Beweise, dass Griechen mit Blau gemalt hatten und vor allem auch Lapislazuli bewundert hatten. »Da der Stein aber nicht glitzert, glänzt oder durchscheinend ist, kann er eigentlich nur für seine Farbe gepriesen werden«, schrieb Krause.
Heute scheinen uns auch andere Sachen suspekt. So wissen wir, dass die langwelligen Lichtstrahlen am roten Ende des Spektrums weniger Energie haben als das kurzwellige Licht am blauen Ende. Magnus‘ Theorie behauptete genau das Gegenteil. Auch Magnus‘ Vorstellung von Evolution ist völlig falsch. Seine Erklärung ist wie die Geschichte von den Giraffen, die sich immer weiter streckten und so lange Hälse bekamen. In Wirklichkeit werden erworbene Eigenschaften nicht an Nachkommen weitergegeben. Würde die Netzhaut wirklich durch das eintreffende Licht langsam empfindlicher werden für Farbeindrücke, würde jede Generation erneut bei null anfangen. Doch Darwins Evolutionstheorie war damals noch jung. Sein Buch Über die Entstehung der Arten wurde 1859 veröffentlicht, ein Jahr nach Gladstones epischem Werk. Darwin selbst korrespondierte mit Gladstone und mit Krause, hielt sich aus der Debatte aber weitgehend heraus.
Krause und andere Kritiker akzeptierten, dass etwa der Mangel an »Blau« in der Ilias und der Odyssee nach einer Erklärung verlangte. Aber es sei weit wahrscheinlicher, argumentierten sie, dass sich nicht der Farbsinn, sondern die Farbvokabeln allmählich entwickelt hatten. Und sie wiesen darauf hin, dass sich dies durch Untersuchungen an anderen Sprachen überprüfen ließe.
Tatsächlich zogen bald manche Wissenschaftler los, um zu er forschen, welche Farben Menschen anderer Kulturen benennen und welche sie wahrnehmen konnten. Der deutsche Arzt Rudolf Virchow untersuchte zum Beispiel den Volksstamm der Nubier, die damals vom Tierhändler Carl von Hagenbeck im Berliner Zoo zur Schau gestellt wurden. (Solche »anthropologisch-zoologische Schauen«, wie Hagenbeck sein Spektakel nannte, waren damals keine Seltenheit und sollten die »Entwicklungsstufen« des Menschen zeigen. Virchow gab dem Rassismus mit seinen Untersuchungen zu Kopfform oder Farbvokabeln einen wissenschaftlichen Anstrich.) Die Ergebnisse deuteten alle in dieselbe Richtung, schrieb der Magnus-Kritiker Rudolf Hochegger 1884: »Die Untersuchungen über den Farbensinn der Naturvölker haben klar dargethan, dass die gesonderte Empfindung aller Farben vorhanden sein kann, wenn auch der sprachliche Ausdruck fehlt.«
Magnus selbst wollte das zunächst nicht wahrhaben. Er entwarf mit Forschern am Museum für Völkerkunde in Leipzig einen Fragebogen, »bis zu welchem Grade die Naturvölker die Farben empfinden und durch Benennung unterscheiden wie die Culturvölker«. Mit Unterstützung von Ärzten und Missionaren ließ er zahlreiche Ethnien in Afrika und Asien befragen, aber etwa auch die Sioux in Nordamerika und die Letten in Europa. Das Ergebnis war für Magnus ernüchternd. Er stellte fest, dass zum Beispiel die Herero, ein Hirtenvolk in Afrika, zahlreiche Wörter für die Farben ihrer Rinder hatten. Was keine Viehfarbe ist, so besonders Blau und Grün, können sie nicht benennen, obwohl sie die Farben von den anderen unterscheiden können und wenn nöthig, Fremdworte gebrauchen.« Viele von ihnen fänden es sogar »sehr lächerlich, dass es für diese Farben Namen geben soll«.
Die Schlussfolgerung lag auf der Hand: Es sei klar geworden, dass man von den Farbwörtern eines Volkes nicht auf sein Farbempfinden schließen könne, gab Magnus zu. Und doch, seine Theorie von der allmählichen Entwicklung des Farbsinns wollte er nicht widerrufen: »an dieser Theorie halten wir im Gegentheil auch jetzt noch unter allen Umständen fest«, schrieb er.
Doch ohne die Beweislast der Wörter fiel die Argumentation von Gladstone, Geiger und Magnus in sich zusammen. Die Ergebnisse waren eindeutig: Nicht das Auge hatte sich weiterentwickelt, sondern die Sprache. Es war eine Frage der Kultur des Menschen, nicht der Anatomie seines Auges. Die Debatte schien beendet. Doch einige Jahrzehnte später sollte das Farbspektrum erneut zum Schauplatz intellektueller Gefechte werden. Wieder ging es um die Unterschiede zwischen Kulturen. Und wieder ging es um die Farbe Blau.

BLÜN
Als Paul Kay in den fünfziger und sechziger Jahren in den USA Anthropologie studierte, galt eines als unumstößlich: Jede Sprache kann das Spektrum nach Belieben in Farben aufteilen, unabhängig von jeder anderen Sprache. »Es gibt keine natürliche Einteilung des Spektrums. Jede Kultur hat das spektrale Kontinuum genommen und es auf eine Art und Weise eingeteilt, die beliebig ist«, schrieb 1952 etwa der Anthropologe Verne Ray.
Sollte das stimmen, müsste es ziemlich schwer sein, Farben von einer Sprache in eine andere zu übersetzen. Denn wo die Deutschen Blau und Grün sehen, könnten Menschen einer anderen Kultur fünf verschiedene Farben oder nur eine sehen. Sie könnten Orange und Gelb zu einer Farbe zusammenfassen, Rot in ein Dutzend Schattierungen unterteilen oder die Hälfte des Bereichs Rot mit einem Viertel von Violett zu einer Farbe zusammenziehen.
Die Anhänger dieser Auffassung beriefen sich häufig auf den Sprachforscher Benjamin Whorf und dessen Lehrer Edward Sapir. Ihre Theorie der linguistischen Relativität, die meist schlicht als Sapir-Whorf-Hypothese bezeichnet wird, stellte zwei Behauptungen auf: Dass unterschiedliche Sprachen die Wirklichkeit unterschiedlich abbildeten. Und dass diese Aufteilung dann wiederum beeinflusste, wie die Menschen die Welt sahen. Dass die Sprache also das Weltbild prägte, vielleicht sogar bestimmte.
Obwohl Sapir und Whorf selbst nie über Farbwörter geschrieben hatten, war das Farbspektrum zum entscheidenden Prüfstein ihrer Hypothese geworden. Hatten Geiger und Magnus aus dem Fehlen von Farbwörtern vorschnell auf Unterschiede in der Biologie des Menschen geschlossen, kehrten die Anhänger von Sapir und Whorf den Spieß gewissermaßen um. Für sie waren Unterschiede in der Sprache nicht ein Indiz dafür, dass das Auge etwas anderes sah. Die Sprache selbst war eine Art geistiges Auge, durch das der Mensch die Welt auf unterschiedliche Weise sah.

Kay ging für seine Doktorarbeit nach Tahiti, wo er die sozialen Strukturen in der Hauptstadt Papeete erforschte. Dort lernte er auch Tahitianisch und er war überrascht, wie gut sich die meisten Farbwörter ins Englische übertragen ließen. Nur eine Besonderheit gab es: Was in den USA oder Deutschland Blau oder Grün wäre, war in Tahitianisch nur eine Farbe, »Blün« gewissermaßen.
Nach seiner Rückkehr in die USA lernte Kay Brent Berlin kennen. Berlin war Linguist und hatte in Mexiko die Maya-Sprache Tzeltal gelernt. Zu ihrer Überraschung stellten die beiden fest, dass sie genau die gleiche Erfahrung gemacht hatten. Die Farbwörter in Tzeltal waren erstaunlich leicht mit denen in europäischen Sprachen in Bezug zu setzen bis auf den einen Unterschied, dass es für Blau und Grün keine getrennten Wörter gab.
Kay und Berlin wussten das damals nicht, doch tatsächlich war einigen Zeitgenossen von Gladstone und Geiger bereits das Gleiche aufgefallen. So schrieb der Leipziger Völkerkundler Richard Andree 1872: »Es bleibt jedenfalls eine auffallende und noch zu erläuternde Thatsache, dass über den ganzen Erdball zerstreut zahlreiche Völker gefunden werden, die Blau (Schwarz) und Grün zusammenwerfen und mit einem Ausdrucke bezeichnen.«

Kay und Berlin entschieden sich, der Sache auf den Grund zu gehen. Zunächst befragten sie mit Hilfe einiger Studenten Muttersprachler in zwanzig verschiedenen Sprachen. Dabei versuchten sie zunächst die »basic color terms« herauszufinden. So nannten sie jene Farbwörter wie »blau« oder »rot«, die nicht zusammengesetzt sind (wie himmelblau), nicht aus einer fremden Sprache stammen (wie ecru), sich nicht auf eine bestimmte Quelle beziehen (wie lachsfarben) und die allgemein im Gebrauch sind. Nachdem sie diese Grundfarbwörter gefunden hatten, baten die Forscher die Teilnehmer, auf einer großen Farbtafel zu zeigen, welchen Bereich jede dieser Farben umfasste und welches das beste Beispiel für die Farbe war. Neben den zwanzig Sprachen fanden Kay und Berlin in der Literatur Angaben für 78 weitere Sprachen, die sie ebenfalls einfließen ließen.
Ihre Ergebnisse hielten die Forscher in einem schmalen Band fest, der 1969 erschien. Unterschiedliche Sprachen hatten tatsächlich eine unterschiedliche Zahl an Grundfarbwörtern, schrieben Kay und Berlin. Während manche Sprachen nur zwei oder drei solche Wörter besaßen, gab es im Englischen elf: »schwarz«, »weiß«, »rot«, »gelb«, »grün«, »blau«, »braun«, »violett«, »pink«, »orange« und »grau«. Doch die Aufteilung des Farbraums schien keineswegs beliebig. Was Sprecher als bestes Beispiel einer Farbe angaben, stimmte für die meisten Sprachen erstaunlich gut über ein. Und Sprachen mit weniger Farbwörtern hatten das Farbspektrum zwar gröber unterteilt, aber ihre Grenzen verliefen an den gleichen Stellen wie die Grenzen von Sprachen mit mehr Farbwörtern, sie hatten nur weniger davon. Es war, als hätte das Farbspektrum Sollbruchstellen, an denen es am ehesten in unter schiedliche Farben zerfiel.
Und noch eine Regelmäßigkeit stellten Kay und Berlin fest: Sprachen mit nur drei Farbwörtern unterschieden in der Regel schwarz, weiß und rot. Als Nächstes kamen meist gelb und grün hinzu. Als Sechstes wurde dann schließlich Blau als eigene Farbe unterschieden. Es war die gleiche Reihenfolge, die Geiger nach seinem Studium alter Quellen vorgeschlagen hatte.

WELT DER FARBEN
Das Buch von Berlin und Kay entfachte die Debatte über Farben aufs Neue. Teilten Menschen in verschiedenen Sprachen Farben doch im Großen und Ganzen gleich ein und gab es tatsächlich eine Regelmäßigkeit in der Reihenfolge, in der Farben benannt werden? Während viele Psychologen die Ergebnisse schnell akzeptierten, wehrten sich manche Anthropologen vehement. »Wir haben ein Dogma angegriffen, das nicht nur akzeptiert war, sondern auch beliebt«, sagte mir Kay, als ich ihn fast fünfzig Jahre nach Erscheinen seines Buchs in Berkeley besuchte. »Es gibt heute noch Menschen, die uns vorwerfen, düstere imperialistische Ziele zu verfolgen.«
Viele Kritiker wiesen zu Recht auf Schwachpunkte in der Studie von Berlin und Kay hin: Die beiden Forscher hatten nur zwanzig Sprachen untersucht und für einige der Sprachen nur einen einzigen Menschen befragt. Hinzu kam, dass die meisten Teilnehmer auch Englisch sprachen. War es nicht möglich, dass…


SPRACHE IM KOPF
Ich schaue auf den weißen Bildschirm eines Computers und ich denke: Halbkreis, Dreieck. Halbkreis, Dreieck. Martin Maier hat mir gesagt, dass ich auf diese beiden Formen achten soll. Auf dem Bildschirm werden gleich dreizehn geometrische Formen sehr schnell hintereinander erscheinen. Ich soll hinterher sagen, ob ein Halbkreis dabei war. Und wenn ja, ob es die obere oder die untere Hälfte eines Kreises war. Und auch, ob ein Dreieck dabei war. Und wenn ja, ob es nach rechts oder links gezeigt hat. Halbkreis, Dreieck, Halbkreis, Dreieck, denke ich.
Der Computer steht in einem kleinen Raum der Humboldt Universität in Berlin-Adlershof. Maier ist Forscher in der Arbeitsgruppe von Psychologie-Professorin Rasha Abdel Rahman, und auch wenn es nicht danach klingt, untersucht er in der Studie, wie meine Sprache beeinflusst, wie gut ich Blau wahrnehme.
Dann geht es los. Die dreizehn Zeichen blitzen nur jeweils für den Bruchteil einer Sekunde auf. Da ist ein Halbkreis. Ich habe ihn deutlich gesehen. Dreieck? Fehlanzeige. Die ganze Sequenz ist nach weniger als zwei Sekunden vorbei. Nach ein paar Durchläufen wertet Maier meine Ergebnisse aus.
Ich habe einige Dreiecke übersehen. Immer dann, wenn das Dreieck kurz nach dem Halbkreis auftauchte. Das ist ganz normal, sagt Maier. Forscher nennen das »Aufmerksamkeitsblinzeln«. Mein Bewusstsein ist noch damit beschäftigt, dass ich den Halbkreis gesehen habe, und sieht deshalb das Dreieck nicht, wenn es kurz danach auftaucht.
Der Clou: Wäre meine Muttersprache nicht Deutsch, sondern Russisch oder Griechisch, dann hätte ich vermutlich mehr von den Dreiecken gesehen.
Martin Maier hat die Studie 2017 mit drei verschiedenen Gruppen durchgeführt, und dass es sich dabei um Deutsche, Griechen und Russen handelte, war kein Zufall.
Eine der Schlussfolgerungen von Kay und Berlin, die nicht stimmten, war, dass eine Sprache maximal elf Grundfarbwörter hat, so wie im Deutschen oder Englischen: »schwarz«, »weiß«, »rot«, »gelb«, »grün«, »blau«, »braun«, »violett«, »pink«, »orange« und »grau«. Tatsächlich haben viele Sprachen zwölf Farbwörter, denn sie unterscheiden zusätzlich zwischen einem hellen Blau und einem dunklen Blau. Im Russischen zum Beispiel bezeichnet goluboy (голубой) ein helles Blau und siniy (синий) ein dunkles Blau. Auch im Griechischen gibt es zwei Wörter: galazio (γαλάζιο) und ble (μπλε). Diese Wörter werden schon von kleinen Kindern gelernt und im Alltag genutzt.
Die Dreiecke in Maiers Experiment waren Kombinationen aus zwei Farbtönen, zum Beispiel ein hellblaues Dreieck auf dunkelblauem Hintergrund. Doch wo Deutsche stets blau auf blau sahen, sahen Griechen in manchen Fällen ble auf ble oder galazio auf galazio und in anderen Fällen sahen sie einen Kontrast: ble auf galazio oder galazio auf ble. Diese Dreiecke, die ich meist übersehen hatte, sahen Griechen häufiger als die Deutschen. Offenbar ist der Farbkontrast, den Griechen in diesen Situationen sehen, in der Lage, durch das Aufmerksamkeitsblinzeln hindurchzubrechen (Gleiches galt für Russen). Sie sahen also mehr, weil sie feinere Kategorien hatten. In Maiers Experiment waren es nicht die Griechen, die blaublind waren, sondern die Deutschen.
Maier und Abdel Rahman beschäftigt der zweite Teil der Sapir Whorf-Hypothese: Ob die sprachlichen Kategorien, in die wir die Welt einteilen, einen Einfluss darauf haben, wie wir die Welt wahrnehmen. Ihre Studie ist einer der bisher deutlichsten Hinweise, dass das tatsächlich der Fall ist.
Es ist nicht der einzige.
Bereits 2007 untersuchten Lera Boroditsky und ihre Kollegen Russisch- und Englisch-Muttersprachler. Boroditsky wollte wissen, ob die Unterscheidung zwischen goluboy und siniy im Russischen beeinflusst, wie schnell Russen zwischen Blautönen unterscheiden können. Fünfzig Testpersonen bekamen an einem Computer jeweils drei blaue Felder angezeigt, wie diese: () Ihre Aufgabe war es, so schnell wie möglich zu entscheiden, welches der beiden unteren Felder die gleiche Farbe hat wie das obere. Manchmal waren beide Möglichkeiten ein helles oder ein dunkles Blau. Manchmal war eine Wahl hell- und eine dunkelblau. Die Aufgabe wiederholte sich hunderte Mal. Tatsächlich entschieden die Russischsprecher schneller, wenn sie die Wahl zwischen goluboy und siniy hatten, als wenn beide Möglichkeiten in die gleiche Kategorie fielen. Für Englischsprecher gab es dagegen keinen Unterschied.
Doch das wirklich Spannende war eine weitere Wendung. Die Forscher baten die Teilnehmer, bei einem Durchgang während der Aufgabe eine Folge aus acht Ziffern in ihrem Kopf zu behalten. Wenn sie das taten, löste sich der Unterschied zwischen Russen und Engländern auf. Offenbar lässt sich der Teil des Gehirns, der für diese bessere Unterscheidung ursächlich ist, tatsächlich mit einer Sprachaufgabe (dem »Vor-sich-Hinsagen der Zahlen«) ablenken. Es ist, als würde Sprache, wenn wir sie nicht gerade zum Sprechen benutzen, uns beim Sehen unterstützen.
Was bedeuten diese Ergebnisse für uns Menschen? So wie das Sehen von Farben ein kreativer Prozess ist, in dem unser Gehirn die Signale von drei verschiedenen Zapfentypen miteinander und mit Annahmen über die Welt verrechnet und daraus die Farben vor unserem inneren Auge erzeugt, so ist auch das Sprechen ein kreativer Prozess. Wir teilen das Farbspektrum, das unser Gehirn erzeugt, mit unseren Wörtern auf und ordnen so die Farbenvielfalt der Welt. Und diese Ordnung üben wir dann wieder und wieder bei jedem Blick hinaus in die Welt, bis es uns viel leichter fällt, ein Blau von einem Grün zu unterscheiden als ein Hellblau von einem Dunkelblau.
In ihrer Veröffentlichung schreiben Boroditsky und ihre Kollegen: »Der entscheidende Unterschied ist nicht, dass Englischsprecher nicht zwischen hell- und dunkelblau unterscheiden können, sondern dass Russischsprecher nicht darum herumkommen, sie zu unterscheiden: Sie müssen das tun, um gewöhnliches Russisch zu sprechen.« In gewisser Weise trainieren Russen und Griechen also ihr ganzes Leben die Unterscheidung zwischen Hellblau und Dunkelblau und es ist vielleicht nicht weiter erstaunlich, dass sie darin besser sind als Deutsche, die diese Unterscheidung seltener treffen müssen.
Das Experiment von Rasha Abdel Rahman und Martin Maier geht allerdings darüber hinaus. Schließlich konnten Griechen und Russen Hellblau und Dunkelblau nicht einfach schneller unterscheiden, sie nahmen ein Muster in den beiden Farben tatsächlich häufiger wahr. Eine der schönsten Spekulationen zur Sapir-Whorf-Hypothese ist Ted Chiangs großartige Kurzgeschichte Geschichte deines Lebens (auch der darauf basierende Science-Fiction-Film Arrival lohnt sich). In Chiangs Geschichte erlernt eine Linguistin die Sprache von Außerirdischen, die zur Erde gekommen sind. Diese Außerirdischen nehmen die Welt anders wahr als Menschen, für sie gibt es nicht das Nacheinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern eine Art Nebeneinander der verschiedenen Zeiten. Indem die Übersetzerin ihre Sprache lernt, beginnt sie auch die Zeit ein wenig so wahrzunehmen wie die Aliens und sie kann sich plötzlich an die Zukunft erinnern!
Es ist ein wunderschönes Gedankenexperiment. In Wirklichkeit hat Sprache wohl kaum solche Macht. Die Effekte, die wir anhand der Farbe Blau im Labor nachweisen können, sind interessant, aber sie sind winzig. Der Unterschied, den Abdel Rahman und Maier in ihrem Experiment zwischen Deutschen und Griechen sahen, betrug knapp drei Prozent. Das heißt, wenn ein Deutscher im Schnitt hundert Dreiecke übersieht, übersieht ein Grieche nur 97. Im Alltag dürfte dies wohl kaum zu Unterschieden zwischen Griechen und Deutschen führen.
Und doch.

2. Laute, Vokale & Konsonanten –

Auch die von Menschen erzeugten Laute entstammen einem Kontinuum unendlicher Möglichkeiten. Zwar gibt es übliche Sortimente, aber doch erstaunliche Abweichungen. „Das gesamte phonetische Inventar in den Sprachen variiert zwischen nur 11 in Rotokas und 10 – nach allerdings umstrittenen Analysen – in Pirahã, der phonemärmsten Sprache der Welt, und bis zu 141 Phonemen in ?Xóõ oder !X?, der phonemreichsten.“
Spannend ist es, in „Der Turm zu Babel“ (Arnold Wadler, Basel 1935) zu lesen, wie zB ein elementar wichtiges „L“ im Durchgang durch eine Sprache, welche „L“ und „R“ nicht unterscheidet, danach als „R“ die gleiche Unterscheidungsrelevanz hat für dasselbe Wort. Und weil es Sprachen mit sehr reduziertem Lautschatz gibt, ist auf diese Art fast jede Lautverschiebung möglich!
Schon innerhalb einer Sprache gibt es eine große Variationsbreite von Aussprachen bestimmter Laute – von einem „richtig“ oder „falsch“ zu sprechen mag dennoch für eine einzelne Sprache angehen, menschheitlich ist ein „richtiges A“ oder „falsches G“ grober Unfug. Myanmar zB ist nur eine neue Schreibweise des gleichen Klanges wie Birma oder Burma! Wie verwaschen muss man beide Worte aussprechen, um das als gerechtfertigt anzusehen?;-) Aber so ist es!

aus „Der Turm zu Babel“ (Arnold Wadler, Basel 1935):

VIII. Metamorphose der Konsonanten.

Als Voltaire spöttisch Etymologie eine Wissenschaft nannte, in der Vokale nichts, Konsonanten wenig gelten, ahnte er nicht, daß seine Karikatur einer Definition ein Körnchen Wahrheit barg. Ein Jahrhundert nach ihm ging ein ernster Forscher, G. v. d. Gabelentz, viel weiter: «Darum kann man kühnlich behaupten, jeder Laut kann im Laufe der Zeit, auf längerem oder kürzerem Wege, in jeden anderen Laut übergehen» (Sprachwissenschaft 1901, S. 191). Zum Glück gilt dies nicht für viele Worte, gewiß nicht für alle Sprachen. In manchen afrikanischen und amerika nischen Idiomen, vor allem im Chinesischen, sind tief umwälzende Lautänderungen festzustellen. Gabelentz war Sinologe, darum ist sein Ausspruch verständlich. Doch dem Trieb zur Metamorphose wirkt in den Sprachen ein erhaltendes Prinzip wieder entgegen, dessen Einfluß in den meisten Idiomen gerade der bedeutendsten Kulturvölker, Inder, Perser, Ägypter, Semiten, europäischer wie auch anderer Nationen, die Wirkung hatte, daß viele Worte im Wandel der Jahrhunderte wie Granit allen Stürmen getrotzt haben. Durch Jahrtausende hat der Konsonantengehalt vieler Stämme sich unversehrt erhalten. Wir sahen dies schon an dem Schlangen-Namen S-r-p, der heute noch lebt (z. B. in der Serpentine), in Europa wie einst in Afrika und Asien bis zum Fernen Osten. Noch deutlicher beweist es der uralte Weg-Name D-r-g.

  • Sumer DIRIG
  • Hebräisch DEREG
  • Assyrisch DURUG-u
  • Russisch DOROG-a
  • Tibetisch DRAG (eilig, Post)

Wir sehen schon, so hoffnungslos, wie es Voltaire hinstellte, v. d. Gabelentz noch mehr, im Hinblick auf bestimmte Erscheinungen in einzelnen Idiomen, ist die Wortforschung nicht, trotzdem die Laute sich wandeln. Jedenfalls erweisen die Konsonanten, nicht bloß im Bereich einer Sprache, sondern auch beim Übergang von Volk zu Volk, Geschlecht zu Geschlecht, Idiom zu Idiom, sich viel widerstandsfähiger und stabiler als die Vokale. Schon diese äußere Tatsache zeigt deutlich, daß die Vokalisation der Worte in ihren schier unbegrenzten Schwankungen ein wesentlich anderes Phänomen ist als die Metamorphose der Konsonanten, die eher schon bestimmten Prinzipien, wenn auch gewiß nicht ausnahmslos, sich fügt.

An zwei uralten Kultnamen göttlicher Wesenheiten konnten wir dies schon gewahren. Wir fanden für die Wesenheit des Planeten Venus:

  • Phöniker ASTAR-te
  • Hebräer ESTHER
  • Assyrer ISTAR
  • Basken OSTIR-ala
  • Germanen OSTAR-a
  • Inder USR-a

Auch der indische Name, der Morgenröte bedeutet, hängt mit diesem Stamme zusammen, dessen Anlaut die ganze Skala der Grundvokale durchläuft. Ähnlich verhält es sich mit dem Namen des Feuergottes Agni:

  • Inder AGN-i
  • Römer IGN-is
  • Alt-Slaven OGN-i
  • Litauer UGN-is

Selbst im Bereich der ostasiatischen monosyllabischen Sprachen, deren Wortstämme mangels einer Flexion wie erstarrt erscheinen gegenüber der schmiegsamen Flexibilität etwa indeuropäischer oder semitischer Worte, finden sich noch viele Spuren schwankender Vokalisation. Das Urwort für Wasser, hebr. MAIמי, assyrisch MU, ägypt. MU-i zeigt in den austro-asiatischen Mundarten (Matsumoto Nr. 39) folgende Varianten: MA MEA MI MO MU MUA (regnen).

Der Ablaut erweist sich als ein allgemeines Phänomen der Sprachen; was in bestimmten Idiomen ihn besonders eigenartig erscheinen läßt, während er heute in anderen mehr zurücktritt, ist ein Mehr oder Weniger an symbolischem Vokalwechsel. Besonders intensiv erweist er sich beim Übergang von einer Mundart zur anderen, von einem Volke zum anderen. Mehr als der Konsonant ist somit der Vokal Ausdruck des Zerfalls der Menschheit. Wenn der Deutsche einen Stock erwähnt, denkt der Engländer gleich an Stich (stick); O wird zu I. Was der Deutsche mit Lieb-e hegt, erweckt beim Engländer höchstens Lob (love); I wird zu O. Dem Hebräer aber war LEBלֵב LIB-aליבה (Herz) Organ und Sitz des Lebens wie der Liebe und zugleich Inneres des Leibes, Leib: was der Deutsche durch verschiedene Vokale später geschieden, Liebe, Lob, Leben, Leib, war dem Hebräer noch eine Einheit. Ähnlich, durch Spezialisierung der Ideen, ist einstige Einheit von Berg und Burg zerfallen. Dient eine Burg nicht zum Berg-en, ist sie nicht eine Her-berg-e? Wir sahen schon (Tab. 35), wie stark der symbolische Vokalwandel noch heute im Deutschen ist. Auf Schritt und Tritt begegnet er uns. Gestern drasch der Dresch-er, heute drisch-t er wieder; hoffentlich hat er kein leeres Stroh ge-drosch-en: es wäre schade um den Drusch! Wir roch-en Brandge-ruch, nun riech-en wir Rauch. Bös mitge-nomm-en hat ihn die Ver-nehm-ung, doch nahm und nimm-t er keine Ver-nunf-t an. Der Fuch-s (engl. fox) fing eine Gans: guter Fang. Wir haben Fing-er, doch der Aar hat Fäng-e. Der Zug zieh-t an. Ihr zag-t und zög-ert: nun ist er abge-zog-en. Unsere An-kunf-t war will-komm-en, be-quem die Fahrt. Der Baier kommt nicht, er kumm-t oder kimm-t, wie einst die Goten. Bauer, das Obst ver-dirb-t auf dem Baum, ist oft ver-dorb-en; mancher muß darb-en, ver-derb-en, weil Äpfel ihm mangeln. Mit der Scher-e schor der Hirte schier die ganze Schar der Schafe: Schaf-schur! Falt-er flatt-ern flott vorüber, einem Flut-en gleicht ihr Flug. Flitt-er flatt-ert, und die Fled-ermaus. Ein Klepp-er klapp-ert klopf-enden Hufes an Kluf-t und Klipp-e vorüber.

Welcher Vokal soll hier Stammvokal sein? Schon in derselben Sprache ist es kaum möglich, mit Sicherheit ihn festzustellen. Wenn Grimm sich an den Vokal des Präsens hielt, so war dies Willkür, genau wie es Willkür wäre, bei LIEB-e neben LOV-e die deutsche Sprache als maßgeblich anzusehen. Welche aber von den vielen Sprachen birgt die ursprüngliche Vokalisation? Diese Frage stellen, heißt dies nicht, den Blick wenden zur Ursprache? Wichtig und lehrreich ist die Suche nach den Urvokalen der Worte. Es hat schon etwas zu bedeuten, wenn die Vokale von Idiom zu Idiom heftiger schwanken als die Konsonanten, wenn Hebräer mit LEB noch Lieb-e, Leben, Leib darstellten, wenn aus LIEB-e in England LOV-e, in Rußland LIUB-ov wird! Genau wie der Wandel der Vokalisation der Idee Tod tiefen Sinn birgt.

  • Ägypter MVT
  • Assyrer MAT-u
  • Hebräer MOT
  • Griechen THANAT-os
  • Römer MORS
  • Deutsche TOD
  • Slaven SMERT-j

Rudolf Steiner gerade wies hin darauf, wie Seelisches im Selbstlaut sich ausspricht, wie jeder Zunahme der Vokalisation in der Sprache Verinnerlichung vorangeht. Den Sinn der Grundvokale umschrieb er:

Tabelle 46. (Gefühlswert der Vokale, nach R. Steiner.)

  • A = Staunen, Verwunderung, Bewunderung.
  • E = Sich Erhalten in der Berührung, wenn etwas uns zu gefügt wird.
  • I = Innerlich freudiges Erleben. Selbstbehauptung.
  • 0 = Sympathie. Verständnis für die Geschehnisse der Welt.
  • U = Sich klein Fühlen. Empfindung von Angst und Furcht.

Finden wir nicht schon in den Todesnamen Bestätigung dieser Deutung? Drückt ägypt. MVT nicht Angst vor dem Tode aus, spricht nicht die gleiche Scheu aus dem Bestreben der Ägypter, durch Konservierung der Hülle (Einbalsamieren) die Wirkung des Todes zu dämpfen? Assyrer und Griechen spürten noch Staunen vor dem Sterben. Den Slaven ist Tod dasselbe, was den Deutschen Schmerz: der Slave sucht in der Berührung des Todesengels sich zu erhalten. Dem Hebräer, dem Römer, dem Deutschen war Tod ein Phänomen, dem er mit Verständnis begegnen wollte. Wer Wesen wie Sinn des Todes durchdringt, steht ihm nicht nur in Furcht oder Verwunderung, auch nicht bloß in Abwehr gegenüber. Der weiß, daß es eine Re inkarnation gibt, daß Tod nur die ihm verfallene Materie treffen kann, daß er nur ein Durchgang ist, eine Pforte, die zurückführt zur geistigen Welt, wie Geburt die Gegenpforte, durch die wir den physischen Plan betreten. Darum tönt MORT- an PORT-a (Pforte) an, darum reimt franz. MORT auf BORD (Ufer), weil der Genius der französischen Sprache beim Formen, ja schon bei der Wahl dieser Worte die gleiche Empfindung ausdrücken wollte wie Goethe, wenn er Faust, den Tod vor Augen, vom Aufreißen der Pforten, von einem Durchgang sprechen, ihn rufen läßt: Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag! Es wäre, besonders völkerpsychologisch, sehr lehrreich, auf Grund der Gedanken Rudolf Steiners gerade die Frage der Vokalisation eingehend zu behandeln.

Dies kann aber nicht hier, sondern muß bei anderer Gelegenheit geschehen. Was wir über die Aufgabe, die Funktion der Vokale im Worte bisher erfuhren, bekräftigt nur die Überzeugung, daß wir mit Fug und Recht in der Etymologie und vergleichenden Sprachforschung nur den Konsonantengehalt der Worte schreiben, also Lieb, Leib, Lob gleicherweise L-b. Diese Schreibweise soll gar nicht aussagen, daß die Wortstämme nur aus Konsonanten bestehen: sonst hätte Delitzsch recht, wären sie unaussprechbar. Die Schreibweise L-b für Leib, Lieb, Lob ist nichts als ein Schema, wie jede Wurzel, jeder Wortstamm zunächst, solange wir nicht Laut für Laut seine Konfiguration in der Ursprache rekonstruieren können, nur ein Schema bleibt. Die konsonantische Schreibweise, die den Raum offen läßt für Vokale, deutet an, daß von Ort zu Ort, von Epoche zu Epoche im gleichen Wortstamm sich verschiedene Vokalisation vorfindet. Nicht bedeutungslos ist der Vokal im Worte, aber viel labiler als der Konsonant, so labil, daß für das Problem der Urverwandtschaft der Grenzwert der Vokale beinahe Null ist. Deswegen kann die Frage der Vokalisation bei den Varianten eines Wortstammes offen gelassen werden, sie bleibt Problem, doch nur von sekundärer Bedeutung. Die Vokalisation der Worte ist eine wesentlich andere Erscheinung als ihre konsonantische Konfiguration. Drum sprechen wir so wenig wie möglich von vokalischer Metathese, vermeiden wir Begriffe wie vokalischer Lautwandel. Eigentliche Metamorphose der Laute ist nur konsonantischer Lautwandel.

Hätten alle Völker die gleichen Schriftzeichen und gleiche Schreibweise, ein großer Teil der Fragen, um die im 19. Jahrhundert so heftig gestritten wurde, wären schnell entschieden. Käme ein Pott und wollte uns erzählen, man könne eine semitische Wurzel nicht mit einer indeuropäischen vergleichen, ihr Bau sei verschieden, die semitische bestehe zumeist aus drei Konsonanten und diese Trikonsonanz sei das Lebensprinzip der morgenländischen Idiome, unübersteigbares Hindernis für einen Vergleich – wir hätten nur ein Lächeln für solche Schwärmerei, führten den Zweifler an eine Tafel und schrieben:

  1. deutsch: g-r-s (Grieß) – hebr. g-r-s (Grieß)
  2. latein.: s-r-p (Schlange) – hebr. s-r-p (Schlange)
  3. russisch: d-r-g (Weg) – hebr. d-r-g (Weg)

Wir könnten den Zweiflern sagen: Seht diese ägyptosemitische Schreibweise der Worte an, die nur aus Konsonanten besteht, ihr könnt viel daraus lernen, auch für die übrigen Sprachen. Bald werden wir einen anderen Fall kennen lernen, da können die Semitisten wieder von den indischen Grammatikern sich Rat holen. Die Probleme sind überall gleich oder ähnlich. Auch die Probleme des Lautwandels.

Was in der Phonetik, der Lautlehre, heute vor allem mangelt, ist ein Katalog der Laute, die jede Sprache besitzt oder nicht besitzt. Dieser Mangel vor allem ist für das Problem des Lautwandels besonders wichtig. Lautmangel war in historischen Zeiten immer und ist heute viel ausgedehnter als wir gewöhnlich ahnen. In Babel waren wie in Italien die Hauchlaute H und CH im Schwinden, Griechen und Römern fehlte der SCH-Laut, in Ägypten und Alt-Persien haperte es mit dem L, den Russen mangelt heute das H völlig, den Arabern das P, Chinesisch und Japanisch besitzen, wie manche andere ostasiatische Mundarten, nicht alle Sprachelemente. Ganz besonders lautarm erweist sich die Mundart der Irokesen Nordamerikas. Nach Du Ponceau (C. R. Lepsius, Standard Alphabet, S. 292) ver fügt diese Indianermundart nur über acht Konsonanten: K, T, N, H, S J, R, W. Es fehlen ihr G und D, B, P und F, ihr ganzer Reichtum an Lippenlauten beschränkt sich auf den W-Laut. Lautarmut hat bestimmte phonetische Folgen, nämlich Notwandel: Worte, gleichgültig, ob eigene oder von fremden Sprachen entlehnte, welche Laute bergen, die sich in einem Idiom nicht oder nicht mehr finden, werden verändert, die fehlenden Laute müssen im Notwandel durch andere ersetzt werden. Achten wir auf die Laute, die einspringen in der Not, und wir erhalten schon Hinweise auf die allgemeine Natur des Lautwandels.

Der Russe ersetzt den ihm mangelnden H-Laut meist durch G, selten durch J oder CH. Der Dichter HEINE wird bei den Russen zu GEJNE, aus HAUFFS Märchen werden GAUFFS Märchen, aus Hauptwache wird GAUPTWACHTA. Doch der Gefreite wird, ähnlich wie in Ostpreußen, zu einem JEFREJTER. Wir sehen nur ganze geringe Schwankungen: die Ersatzlaute gehören dem gleichen Kreis der Artikulation an wie jene mangelnden Laute, die sie vertreten, mag der Ersatz selbst auch nicht regelmäßig sein. Denselben Eindruck gewinnen wir im Arabischen. Bald tritt für das fehlende P ein F ein, z. B. für Platon: IFLATUN; dann wieder ein B, wie in LAMBA aus ital. lampa (Lampe) und WABUR für ital. vapore (Rauch, Dampfer). Wir bemerken schon hier ein Grundgesetz der Sprache: Lautwandel vollzieht sich vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, zwischen verwandten Lauten. Ein konservativer Zug in der Sprache tritt in solcher Tendenz zutage. Wohl finden wir auch anderen Lautwechsel, bei dem Laute gleichsam von einer Artikulationssphäre in die andere springen, wie Achter-deck neben After-mieter und Aber-glaube. Achter ist eine mundartliche Variante für After (= hinten, nach). Doch auch in solchen Erscheinungen stecken ähnliche Tendenzen. Immer weben geheime oder sinnfällige Beziehungen zwischen den Lauten, die im Wechsel sich ablösen, mag diese Verwandtschaft auch nicht an der Oberfläche liegen und erkennbar sein. Solch geheimnisvolles Band entdecken wir zunächst zwischen dem R-Laut und dem L-Laute.

2. R-Sprachen und L-Sprachen.

6. Allgemeine Regeln des Lautwandels.

Wer seinen Ehrgeiz drein setzt, Sprache zu eines Objekt mechanisch-materialistischer Betrachtung zu machen, wird dem Trieb erliegen, auch in der Evolution der Idiome starre Formeln zu entdecken, nach denen „ausnahmslos“ der Wandel sich vollzieht. Wer dagegen in der Sprache, im Worte ein urgeistiges Phänomen erkennt, wer weiß, daß im Reiche des Geistes Freiheit waltet, nicht Zwang, wird selbst bei Aufstellung von Regeln der Entwicklung sorgfältig alles meiden, was starr, gezwungen, künstlich erscheinen könnte. Die Grundsätze, die wir in der Metamorphose der Laute verwirklicht sehen, wurden schon 1925 dargestellt und von mir veröffentlicht, in den folgenden Jahren immer wieder erprobt. Sie haben sich bewährt. Dennoch sollen sie nicht als Dogmen, sondern nur ab Richtlinien betrachtet werden, die wir dem Werdegang der Sprachen und ihrem Wesen, in freier Anschaung, ablesen konnten. Behutsamkeit ist Hauptgebot aller Phonetik. Sahen wir doch, daß selbst organischer Wandel, selbst Notwandel weder schematisch, noch gleichmäßig sich vollzieht, daß in solchen Fällen sogar eine gewisse Freiheit in der Sprache sich kundgibt. Als Tendenzen, nicht als Gesetze sollen diese Linien der Entwicklung gelten.

Schon die Frage wäre begründet, warum wir beim Lautwandel von den Sonorlauten B, G, D ausgeben, ob nicht durch solche Wahl erst Kadenzen sich ergeben. Diese Frage ist komplizierter als sie erscheint; hängt sie doch innig mit anderen Problemen zusammen, wie Bau der Wortstämme, Trisonanz. Zwei Gründe führten zu solcher Wahl. Zunächst die Wahrnehmung, daß in der Sprache der Inder, Perser, Semiten in vielen, gerade altertümlichen Worten stimmhafte Konsonanten dominieren. In einer Kette wie

  • Sanskrit BHAR
  • Hebräisch BHAR-ברא
  • Gotisch BAIR-an
  • Griechisch PHER-0
  • Latein FER-0

(ge-BÄR-en, schaffen) sehen wir überall Sonorlaute, auch die Ausnahmen in Hellas und Rom sind nur scheinbar. BRY-o hieß in Hellas „sprießen“, BREPH-os – die Leibesfrucht. In Rom war PAR-io (gebären) und neben -FER (in frugi-FER = frucht-BAR) findet sich in urtümlichen Worten noch -BER, z. B. salu-BER (heil-bringend). Der Sohn hieß aram. BARבר, got. BAUR, ags. BYR-e, in Schweden heute noch BAR-n (Kind).

Einen weiteren Fingerzeig gewährt die Anordnung des Alphabets bei den Semiten und alteuropäischen Völkern. An der Spitze der Zeichen stehen folgende Buchstaben:

Tabelle 67. (Kleine Lautwelt im Anfang des Alphabets.)

  • Hebräisch A, ALEPH / B, BETH / G, GIMEL / D, DALETT / H, HE
  • Griechisch A, ALPHA / B, BETA / G, GAMMA / D, DELTA / E, E-psilon
  • Latein A / B / G / D / E

Das Aleph der Semiten war, wie ursprünglich griech. Alpha, nur Intonationslaut, leichter Hauch (Spiritus lenis); das semit. He, aus dem so gut griech. E-psilon wie lat. E hervorgingen, war der H-Laut, der starke Hauch (spiritus asper). Zwischen diesen beiden Hauchlauten eingebettet sehen wir die drei sonoren Verschlußlaute B, G, D. Elemente sind sie aller Laute, gleichsam ihr Mikrokosmos, der keimhaft den ganzen Makrokosmos in sich birgt: können doch aus dieser kleinen Lautwelt im Lautwandel alle übrigen hervorgehen. Nicht Zufall entschied die Reihenfolge der Buchstaben, noch manches Geheimnis bergen sie. Die 22 Zeichen der Semiten zerfielen einst in zwei Hälften, Stäbe, in das eigentliche Alphabet (Aleph-Bet usw.) und in das Element (L, M, N). Bei den Südsemiten waren die beiden Stäbe vertauscht, begann die Ordnung der Zeichen mit der Element-Reihe. (Im lateinischen Alphabet, das aus dem westgriechischen hervorging, stand ursprünglich G an der Stelle, wo heute C ist.)

So können wir B, G, D als Mutterlaute anschen der anderen, jedenfalls der meisten anderen. Unzweifelhaft spielen sie als Träger der wichtigsten Lautkreise, der Lippen-, Gaumen- und Zahnlaute, die bedeutendste Rolle in der Metamorphose der Konsonanten.

Schon wenn wir die phonetischen Winke beachten, die Schrift und Schreibweise der Völker uns erteilen, lernen wir die dynamische Seite der Artikulation und eine wesentliche Art der Lautverwandtschaft kennen. Wir erhalten zunächst eine doppelte Reihe:

B G D – P K T

Wir hörten schon, daß diese Gruppen früher als „harte“ und „weiche“ Laute der gleichen Artikulationssphäre angesehen wurden, fanden sie in Wortstämmen des gleichen Idioms abwechselnd nebeneinander wie ahd. BERG neben PERG, GRIOZ neben CRIOZ (Sandkorn, Grieß), DRIGIL neben TRIGIL (Diener). Besonders in der Silbenschrift tritt ihre enge Verwandtschaft deutlich zutage. Die kyprische Schrift unterschied weder stimmhafte, noch stimmlose, noch behauchte Verschlußlaute, sie verwandte für B, P und PH (F), für G, K, CH sowie D, T, TH nur je 1 Zeichen. Ähnlich verfährt die japanische Silbenschrift, die den Buchstaben F für B und P zugleich verwendet, indem sie besondere Kennzeichen beifügt und nicht anders Ka und Ga, Ta und Da unterscheidet.

Lautverwandtschaft war den Bildnern der Alphabete früh schon bewußt, die semitische wie die indische Lautschrift, auch andere, beweisen es deutlich, indem verwandte Laute dort meist durch ähnliche oder gleiche Zeichen umschrieben werden. Im Hebräischen werden Spiranten (F, CH usw.) vielfach durch dieselben Buchstaben wie die einfachen Verschlußlaute bezeichnet: B wie W usw. Ein Punkt (Dagesch) dient zur Unterscheidung. Aus dem griechischen B-Zeichen bildete die kyrillische Schrift zwei Lautzeichen: W und B. Im Neugriechischen, im Spanischen wird B vielfach wie W ausgesprochen. Sorgfältige Analyse der Schrift und Schreibweise würde uns die wesentlichsten Grundsätze der Lautverwandtschaft und des Lautwandels klar machen. Beide hängen aufs innigste zusammen. Oberster Grundsatz jeglichen Lautwandels ist zunächst: Verwandte Laute können füreinander einspringen, wechseln ab in den Worten, von Mundart zu Mundart, von Sprache zu Sprache wie im gleichen Idiom. Blicken wir auf die Fülle lautlicher Variationen der Urworte, dann gewinnen wir den Eindruck, einst habe es viel weniger Einzellaute gegeben, wie in Dolden vereint waren die Laute, ehe ihre Individualität sich entfaltete. Nicht an den heutigen Einzellauten haftete ursprünglich der Sinn, sondern an wenigen Urlauten. Nicht umsonst sprechen die Mythen vieler Völker, in Hellas wie in Mexiko, von einer ursprünglich geringen Zahl der Buchstaben, etwa 15 oder 16.

Bei der Kritik der Lautgesetze erwähnten wir schon ihre Unvollständigkeit. Besonders im Kreise indeuropäischer Sprachen ist dieser Mangel erstaunlich. Während nämlich die Ägypto-Semiten, die angeblich nur die Konsonanten im Wortstamm beachteten, uns wertvolle Hinweise auf die Vokalisation der Worte gaben, verdanken wir den Indern, die Vokale bezeichneten in ihrer Schrift und sie zum Bestand der Wurzellaute zählten, gerade tiefe Erkenntnisse der Konsonanz. Vom phonetischen Gesichtspunkt ist die Gruppierung der indischen Laute geradezu meisterlich, die beste Einführung in den Vorgang des Lautwandels. Die Verschlußlaute sind so geordnet:

Tabelle 68. (Indische Gruppierung der Verschlußlaute.)

  1. Lippenlaute: P PH B BH M
  2. Gaumenlaute: K KH G GH N (Ng)
  3. Zahnlaute: T TH D DH N

Zwei Tatsachen springen hier ins Auge. Die erste zeigt uns eine Verbindung der Hauchlaute (H) mit den übrigen Verschlüssen, aus welcher wieder zwei Gruppen neuer Laute, gleichsam diphthongierte Konsonanten, hervorgehen, Aspiraten und Spiranten. Je nachdem diese Verbindung lockerer oder enger ist, zugleich das Tempo der Artikulation langsamer oder schneller, erhalten wir Aspiraten (PH, BH) oder Spiranten (F, W). Die zweite, phonetisch äußerst wesentliche Tatsache ist die Zuteilung eines besonderen Nasals (M, Ng, N) zu jedem Lautkreis.

Etymologisch ist es das einzig Richtige, die hebräischen Verschlußlaute B, G, D und P, K, T auf indische Art zu lesen und zu umschreiben: es entspricht sogar den mund artlichen Variationen, die wir heute noch in der Aussprache dieser Laute feststellen können. Hebr. PELAGG-a (Abteilung) ist mundartlich sicher auch PHELAGG-a gesprochen worden, ebenso assyr. PULUNG-u auch wohl PHULUNG-u, also ähnlich wie griech. PHALANX. Dies beweist schon das Arabische, wo fast immer P durch F (PH) ersetzt wird. In der WURM-Reihe (S. 302) finden wir ein Beispiel der Abwandlung eines Wortstammes durch die ganze Skala der Lippenlaute. Unschwer können wir die gleiche Tatsache auch für die übrigen Lautkreise dartun. Es ist überhaupt natürlicher, im Gegensatz zur „Lautverschiebung“ und ihren „Gesetzen“, zunächst innerhalb der gleichen Sprache den Laufwandel zu beachten, als lebendigen, organischen Vorgang, und von da aus zur Variation in den Sprachen überzugehen.

Die Gruppierung der Laute im Indischen (Tab. 68) ist leicht zu ergänzen und wir erhalten vollständige Lautreihen, innerhalb deren der Wandel sich vollzieht.

Tabelle 69. (Lautvariationen der Lautkreise.)

  1. Lippenlaute: P PH F B BH W M U
  2. Gaumenlaute: K KH CH G GH CH Ng J
  3. Zahnlaute: T TH S D DH Z N A

Auch die Vokale sind hier beigefügt (Halbkonsonanten), zu denen die einzelnen Lautkreise neigen. In HAU-en, HIEB sehen wir, wie die Lippenlaute dem U-Vokal nahestehen, in latein. NAV-is (Nachen), NAU-e neben NAPF, japanisch NABE (Pfanne) wiederholt sich der Vorgang. Andere Reihen wie WEG, lat. VEH-i (bewegen), VIA und engl. WAY (Weg) deuten auf die Verwandtschaft der Gaumenlaute mit I, J. Wird nicht in manchen Teilen Deutschlands G wie J gesprochen, Jold für Gold, jeb-en für geb-en, wie der Engländer YARN für Garn setzt, YELP für franz. GLAP-ir (kläffen) und neben GARD-en – YARD (Hof) spricht. Keine germanische Eigenart ist es: fanden wir doch für das gleißend-glänzende Gestirn bei den Türken YILD-iz; im Hebräischen tritt nicht selten J für einen stärkeren Gaumenlaut ein, so in MAJ (Wasser) neben MUG (wogen) und M-qq (zerfließen) oder JAD (Hand) neben hebr. AHAZ, aram. AHAD (ergreifen). Die Wortkette S. 189 können wir nun erweitern, schon ahnen wir, wie das Rätsel der ungleichen Namen der Organe (S. 3) sich lösen wird. Neben assyr. KAT-u (Hand) tritt aram. KET-a (gewinnen), gleich engl. GET, sowie na-KAT (ergreifen), neuhebr. n-K-T (reichen). Und altind. HAST-a (Hand) zeigt wie NEST neben lat. NID-us wieder das seltsame ST, als Bindeglied gleichsam der Formen mit S oder T allein. Ein anderer Fall ähnlichen Lautwandels scheint hebr. J-r-d (hinabsteigen) zu sein, der Stamm von Jordan. Es fügt sich dem lat. GRAD-us (Stufe, Schritt), russisch grias-ti, GRIAD-u (schreiten) an, ebenso tibet. GROD-pa (wandern).

Bei den Gaumenlauten zweigen zwei Nebenreihen ab, die Labio-Velaren Qu, Gu, Hu usw., eine Art konsonantischer Diphthonge, Mischlaute zwischen Gaumen- und Lippenlauten, ferner die Palatalen, durch Zusatz von J und Vorschieben der Artikulation erweichte (palatalisiertes) Gaumenlaute, die hinüberführen zu Tsch, Dsch, Sch, Sk, Sg usw. Wieder stehen wir hier vor dem Schibolet, dem Satem-Problem. Die Sprache Tibets ist besonders reich an Satem-Kentum-Parallelen, neben GROD-pa finden wir dort auch SGROD-pa (to go, to travel). Ist es nicht der Stamm des SCHERZO? Scherz hatte noch im Mittelalter den gleichen Sinn wie hebr. SCHERETZ (springen, hüpfen, dann wimmeln, kriechen), auch «Reptil», wie altnordisch SKRIDH-a (kriechen, gleiten). Eine seltsame Wortkette liegt hier vor, mit Kentum- und Satem-Formen.

  • Hebräisch Sch-r-tz
  • Griechisch SKIRT-ao (hüpfen, tanzen)
  • Tibetisch SGROD- (schreiten)

Aram. KARTA und neuhebr. K-r-t bedeuten „springen, hüpfen“, zweifellos Satem-Varianten von hebr. Scheretz (Reptil). Seltsam, die KRÖT-e, ahd. KROT-a steht wieder vereinsamt. „Das Wort ist nur deutsch“ (Kluge). Andere Krötennamen sind PADDE (vgl. Schild-patt Schild-kröte), = engl. padd-ock und PROTZ. „Etymologisch alle dunkel.“ Lesen wir, wie vorgeschlagen, hier wieder im Hebr. K-r-t das schließende t´ zusammen, etwa wie engl. TH in path, dann haben wir wieder die Trisonanz von KRÖT-e K-r-t. Und lesen wir im biblischen Froschnamen Sp-r-d das schließende d´ wie engl. dh (= th in the) und lassen vorerst den S-Vorschlag als rätselhaft weg, dann erkennen wir den anderen „dunklen“ Krötennamen im Deutschen: PROTZ. Wir erkennen noch mehr, wie wir bald sehen werden. Und wir beginnen zu zweifeln, aus ganz bestimmten Gründen, ob es überhaupt „nur deutsche“ oder „nur griechische“, „nur semitische“ Worte gibt, oder ob dies auch nur ein wissenschaftlicher Aberglaube ist wie mancher andere.

3. Gerade & Krumme, Bogen & rechter Winkel, Himmelsrichtungen –

Wer sich selbst in dieser Hinsicht aufmerksam beobachtet, stellt bei Fahrten und Wanderungen leicht fest, wie fastrechte Winkel als echterechte genommen werden, wie leichtgebogene Wege begradigt werden (wo ist denn der Kirchturm, gerade war er noch genau vor uns!;-)
Wer sich in einem bewaldeten Autobahnkleeblatt die Aufgabe stellt, einen Viertelkreis zu bestimmen, kann sich wundern, aus wie vielen Vierteln ein ganzer besteht!;-)
Wer in einem Straßennetz einige Abbiegungen fährt, wundert sich oft, dass der in Flucht gedachte Mond nicht wie erwartet steht: Vermeintlich rechtwinklige Straßenraster sind es oft nur sehr annähernd!
Für die sogenannte Orientierung biegen wir Richtungen ins Raster der 4 Himmelsrichtungen. Städte in NNO werden nördlich erinnert, manchmal immerhin in NO…

aus „Digitale Demenz“ (Manfred Spitzer, 2014):

„Digitale Demenz“ (Manfred Spitzer, 2014): „… Wie stark gerade die Leistung der räumlichen Orientierung vom Lernen abhängig ist, zeigen nicht nur die Londoner Taxifahrer. Auch bei ganz normalen Kindern unterschiedlicher Herkunft lässt sich sehr schön zeigen, dass die Orientierung im Raum mehr oder weniger gut beherrscht wird – je nachdem, welches Training man hatte. Kinder und Jugendliche, die in indischen Sanskrit-Schulen aufwuchsen, schneiden in Tests über die Orientierung im Raum besonders gut ab. Warum ist das so? Wie Latein ist Sanskrit eine tote Sprache aus der indogermanischen Sprachfamilie, doch ist sie nach wie vor eine von insgesamt 22 anerkannten Nationalsprachen in Indien und wird in den meisten indischen Schulen der Sekundarstufe nach Hindi und Englisch als dritte Sprache gelehrt. Sanskrit ist mehr als 3000 Jahre alt, wurde in verschiedenen Schriften geschrieben und mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt bereits systematisiert. Bei den Hindus gilt sie als heilige Sprache und wird im Rahmen religiöser Rituale bis in die Gegenwart verwendet, denn alle wichtigen religiösen Schriften (die Veden und die Upanishaden) sind in Sanskrit verfasst. Die älteste der vier Veden ist die Rig-Veda, eine religiöse Schrift über Götter, Mächte, Kräfte und die Natur, in der – wie in der übrigen Sanskrit-Literatur auch – der Raum in zehn Raumrichtungen aufgeteilt ist: Neben oben und unten gibt es acht Himmelsrichtungen, also nicht nur Nord, Süd, Ost und West, sondern auch Nordost, Nordwest, Südost und Südwest. Die geistige Kodierung des Raumes ist daher bei Menschen, die eine gründliche Ausbildung in Sanskrit erfahren haben, durch dieses Schema der acht Himmelsrichtungen geprägt. Es bestimmt gewissermaßen die Güte der kognitiven Landkarte, spielt also eine wichtige Rolle in der Bestimmung des eigenen Ortes in der Welt. Menschen, die in dieser »Weltsicht« sozialisiert sind, betrachten den Raum, ihre Welt, in einer ganz bestimmten Weise – etwa so, wie Schachspieler die Figuren auf dem Brett auf ganz besondere Weise betrachten oder wie Musiker ihre Instrumente in besonderer Weise erleben. Es geht in diesem Zusammenhang keineswegs nur um ein paar Namen für Raumrichtungen: Vielmehr durchzieht das geozentrische Sanskrit-Raumverständnis viele Aktivitäten des täglichen Lebens, sowohl in der Schule als auch im familiären Umfeld, die durch religiöse und kulturelle Praktiken gemeinschaftlich eingeübt und damit intensiv gelernt werden.
Bei Kindern in Sanskrit-Schulen ist die Vermittlung von Wissen über die acht Himmelsrichtungen ein sehr aktiver Prozess. Ihnen werden nicht nur die Richtungen im Raum und ihre kulturelle Bedeutung vermittelt; sie werden vielmehr auch angehalten, sie in ihren alltäglichen Übungen wie beispielsweise beim Morgen- und Abendgebet anzuwenden, und sie werden entweder vom Lehrer oder von älteren Schülern hierbei genauestens angeleitet. Bei Fehlern werden die Schüler korrigiert und dahingehend unterwiesen, wie sie Fehleinschätzungen der Himmelsrichtung künftig vermeiden können.‘

Fragt man zehn- bis vierzehnjährige Schüler aus Sanskrit Schulen nach den Himmelsrichtungen im Freien oder sogar in einem geschlossenen Raum, so können 87 Prozent von ihnen richtige Angaben machen, Hindi-Mittelschüler hingegen nur in 43 Prozent der Fälle. Eine weitere Studie bestätigte dies auf noch eindrucksvollere Weise: Zunächst wurden 51 indische Schulkinder im Alter von elf bis fünfzehn Jahren nach den Himmelsrichtungen gefragt – erst im Freien und dann im Raum –, und alle machten sie richtige Angaben. In einer ähnlichen, in Genf durchgeführten Studie konnte im Testraum kein einziges Kind die Himmelsrichtungen angeben. Daraufhin wurde das Experiment gesteigert: Man verband den Kindern die Augen und drehte sie dreieinviertel Drehungen im Kreis. Auch danach waren noch 80 Prozent der Sanskrit-Schüler in der Lage, die Himmelsrichtungen korrekt anzugeben. Dann wurden sie – immer noch mit verbundenen Augen – um ein paar Ecken in einen anderen Raum geführt und nochmals dreieinviertel Mal gedreht und wieder nach den Himmelsrichtungen befragt.
(Man achtete in allen Fällen darauf, dass die Kinder nach den Drehungen nicht in der gleichen Richtung standen wie vorher und dass der Versuchsleiter, der die Kinder drehte und mit ihnen sprach sowie sie über die Richtungen befragte, nicht am gleichen Ort stehen blieb.) Auch danach konnten noch 56 Prozent der Kinder die Aufgabe lösen – also nach Verblindung, einer Dreieinvierteldrehung, dem Wechsel in einen zweiten Raum um einige Ecken und nach einer weiteren Dreieinvierteldrehung um die eigene Achse und noch immer mit verbundenen Augen! Wer seine Schulzeit in einer Sanskrit-Schule verbracht hat, der nimmt die Himmelsrichtungen gleichsam immer mit sich mit, und zwar in 45-Grad-Feineinteilung, und er verfügt daher über ein sehr verfeinertes Orientierungsvermögen. Diese Experimente zeigen, was mittlerweile in der gesamten Neurowissenschaft die Spatzen von den Dächern pfeifen: »Auf die Dauer nimmt die Seele die Farben deiner Gedanken an«, wie schon der römische Kaiser Marc Aurel bemerkte. Er wusste zwar nichts von Neuroplastizität – aber recht hatte er!

4. Begriffe selbst – Kategorien als Schubladen oder Rankstäbe?

Viele begriffliche Unterscheidungen scheinen selbstverständlich, wem ginge das nicht so z.B. beim Begriffspaar Schwester/Bruder? Und doch gibt es Sprachkulturen, die anders unterscheiden: nach Altersunterschied wird zuerst sortiert, „ältere Geschwister“/“jüngere Geschwister“ ist dort die einfachste, erste oder elementarste Gliederung.
Meine Schwestern“ zu sagen, wird dann für unser Begreifen umständlich: „meine weiblichen jüngeren Geschwister und weiblichen älteren Geschwister zusammen„. Man kann sich aber leicht vorstellen, dass eine solche Unterscheidung für kleinere Kinder durchaus viel relevanter ist!?

aus “Die Analogie – das Herz des Denkens” (Douglas Hofstadter & Emmanuel Sander 2013/14):

Die Gratiszugaben einer Sprache als Grundlage für die Aufteilung der Welt

Jede Sprache umfasst einen immensen Bestand an Kategorien-Bezeichnungen, die die Menschen im Lauf von Jahrtausenden als nützlich empfunden haben, und in unserer Kindheit und Jugend nehmen wir – überwiegend nur durchs Hören – einen beträchtlichen Teil dieses Bestandes auf, wenn auch natürlich bei Weitem nicht alles. Die vielen Tausende von Kategorien, die uns quasi gratis überlassen werden und die wir gewissermaßen mit offenen Armen und anscheinend anstrengungslos in unserem Denken willkommen heißen, scheinen uns, wenn wir sie erst einmal internalisiert haben, absolute Selbstverständlichkeiten über die Welt zu vermitteln, in der wir leben. Die Art und Weise, wie wir die Welt mit Wörtern und Wortkombinationen aufteilen, scheint uns die richtige Art zu sein, das Universum zu sehen – dabei sind wir uns alle darüber im Klaren, dass jede Sprache die Welt auf ihre ganz eigene Weise aufteilt, so dass der Kategorienbestand, den Englisch sprechende Menschen empfangen, nicht mit dem übereinstimmt, der französischen oder deutschen Muttersprachlern oder Menschen anderer Zungen vorgegeben wird. Kurz, »die richtige Art«, die Welt zu betrachten, hängt davon ab, wo und wie man auf gewachsen ist.

Ein sehr gutes Beispiel dafür liefert ein Vergleich des Englischen und Deutschen mit dem Indonesischen. Die Wörter Bruder und Schwester erwecken für uns den Anschein, als würden sie das, was in der Vorstellung von Verschwistert-Sein steckt, perfekt zum Ausdruck bringen und diese Vorstellung darüber hinaus an den offensichtlich vorgegebenen Fugen aufteilen. Doch auch die indonesischen Wörter »kakak« und »adik« decken die Vorstellung von Verschwistert-Sein perfekt ab, nur dass sie sie an einer völlig anderen Fuge als der des Geschlechts in zwei Unterbegriffe aufbrechen, nämlich der des Alters. »Kakak« bedeutet dementsprechend »älteres Geschwister«, während »adik« ein »jüngeres Geschwister« bezeichnet. Für indonesische Muttersprachler ist das die natürliche Art und Weise, die Welt aufzuteilen; sie haben nicht das Bedürfnis, mit nur einem einzigen Wort »Schwester« zu sagen, so wenig wie wir deutschen Muttersprachler das Bedürfnis haben, mit nur einem einzigen Wort »älteres Geschwister« zu sagen. Menschen, die Indonesisch sprechen, kämen nie auf den Gedanken, dass in ihrer Sprache etwas fehlt. Natürlich können sie »weibliches kakak oder adik« sagen, was dasselbe bedeutet wie »Schwester«, genau wie wir Englischen und im Deutschen »älterer Bruder oder ältere Schwester« sagen können, was dasselbe bedeutet wie »kakak«. Jede Sprache kann durch eine Wortgruppe das ausdrücken, was die jeweils andere Sprache mit einem einzigen Wort formuliert. Das Französische wiederum verhält sich im Hinblick auf diese Begriffe bewundernswert diplomatisch, indem es ihm gelingt, die Welt auf beide Arten aufzuteilen. Die Männlich-weiblich-Dichotomie ist dabei die gebräuchlichere (»frère« vs. »sœur«), doch daneben gibt es auch die Älter-jünger-Dichotomie (»aîné« vs. »cadet«), man hat also beide Möglichkeiten zur Verfügung. Daran wird deutlich, dass es gar nicht so natürlich ist, wie es auf den ersten Blick aussieht, die Welt entlang ihren natürlichen Fugen aufzuteilen.

Unterschiedliche Arten, die Welt aufzuteilen, sind alles andere als exotische Seltenheiten. Um treffende Beispiele für dieses Phänomen zu finden, muss man auch gar nicht auf Sprachpaare zurückgreifen, die in Weltregionen gesprochen werden, welche einen halben Globus voneinander entfernt sind. Direkt vor unserer Haustür finden wir sie genauso, man muss nur ein bisschen in den Sprachen herumstochern, die unserer Muttersprache am nächsten sind, und man kann auch gleich mit ganz zentralen Wörtern und Begriffen anfangen.

Für Englischsprachige ist nichts offensichtlicher als die Bedeutung von time. Wir wissen, what time it is right now, wie spät beziehungsweise wie viel Uhr es jetzt gerade ist; wir wissen, how much time, wie lange oder wie viel Zeit, es braucht, um zum Flughafen zu kommen; und wir wissen, how many times, wie oft oder wie viele Male, wir das früher schon gemacht haben. Diese drei Vorstellungen sind für uns ganz eindeutig um lediglich einen zentralen, monolithischen und immens wichtigen Begriff herum angeordnet: den Begriff time (übrigens das am häufigsten gebrauchte Substantiv der englischen Sprache). Dabei gibt es, man höre und staune, doch tatsächlich Sprachen, für die diese drei Ideen auch nicht ansatzweise mit demselben Begriff verbunden sind! Sie wissen als Person mit französischer oder deutscher Muttersprache, wie viel Uhr es jetzt ist, Sie wissen, wie viel Zeit Sie brauchen, um zum Flughafen zu fahren, und wie viele Male Sie das bereits getan haben. Hier wird also nicht dasselbe Wort, ja es werden nicht einmal irgendwie verwandte Wörter benutzt, und die drei Begriffe, die mit den Wörtern »Uhr«, »Zeit« und »Mal« bezeichnet werden, sind für Französisch- und Deutschsprachige außerdem relativ weit voneinander entfernt.

Und als wäre das nicht schon schlimm genug, bezeichnen die Franzosen mit dem Wort »temps«, einer Unterart des englischen Begriffs time, außerdem noch das »Wetter«! (Und im Deutschen steht das Wort »Uhr« nicht nur für die Uhr-»Zeit«, sondern wird auch im Sinn des Zeitmessgeräts gebraucht.) Die Sprecher des Französischen verwechseln also auf ihre skurrile Art das Wetter mit der Zeit! Andererseits vermischen wir Englischsprachigen die Tageszeit mit der Anzahl der Gelegenheiten, zu denen irgendetwas stattgefunden hat! Welcher Fehler ist jetzt da der dümmste?

Die englische, die französische sowie die deutsche Sprache sind sich überhaupt nicht einig in der Frage, wie die Welt in Kategorien eingeteilt werden soll, nicht einmal bei den am häufigsten gebrauchten Substantiven, zu schweigen von den Kategorien, die durch Verben, Adverbien, Präpositionen und so weiter bezeichnet werden. So unterscheiden etwa diese unverbesserlichen Franzosen irrationalerweise zwischen zwei Arten von »in« – und zwar zwischen »dans« und »en«. Kann man sich etwas Sinnfreieres vorstellen? Wir scharfsinnigen Englischsprachler hingegen unterscheiden (höchst vernünftig, versteht sich) zwischen zwei Arten von »von« (»de«) – nämlich »of« und »from«. Gibt es etwas Einleuchtenderes?

Derartige Diskrepanzen sind absolut typisch dafür, wie unterschiedliche Sprachen die Welt auf je eigene Art aufteilen, und egal welche beiden Sprachen man vergleicht, es werden sich Myriaden Diskrepanzen ergeben. Aber wie kann es dann überhaupt gelingen, dass Menschen sich über Sprachgrenzen hinweg verständigen?

Wortspiel mit dem Wort »Spiel«

Das Verb »spielen« liefert eine ergiebige Reihe von Zeugmata beziehungsweise, je nach Muttersprache und persönlicher Zuordnung der jeweiligen Aktionen, Non-Zeugmata. Zum Beispiel:

Edmond spielt Basketball und Fußball.

Dieser Satz klingt auf den ersten Blick wahrscheinlich völlig normal und natürlich und scheint nichts mit »Zeugmatizität« zu tun zu haben. Dabei unterscheiden sich die beiden Aktivitäten, obwohl sie beide zur Kategorie Sport gehören, in mehrerer Hinsicht voneinander. Beispielsweise ist bei der einen Sportart der Ball vor allem in Kontakt mit dem Fuß (fallweise mit dem Kopf), bei der anderen vor allem mit den Händen (und praktisch nie mit dem Kopf). Es gibt also womöglich englischsprachige (und deutschsprachige) Personen, die ein wenig davon befremdet sind, dass dasselbe Verb auf zwei ziemlich unterschiedliche Aktivitäten angewendet wird.

Wenn essen und fressen (im Gegensatz zum Englischen) im Deutschen als Aktivitäten verstanden werden, die zu zwei unterschiedlichen Kategorien gehören, dann gibt es keinen Grund, sich nicht eine Sprache vorzustellen, in der man sagen könnte:

Edmondus snuoikt Basketballum pluss iggfrudet Soccerum.

Die Sprecher dieser hypothetischen Sprache würden das Tun von Basketball-Spielern – oder besser gesagt von Basketball-Snuoikern – im Vergleich mit dem Tun von Soccer-Iggfrudern als ebenso unterschiedlich empfinden wie den Klang »snuoik« und den Klang »iggfrud«.

Für den Fall, dass die »Zeugmatizität« in diesem Beispiel als zu schwach erscheint, hier ein weiterer Zugang zum selben Punkt:

Sylvia spielt Tennis, Monopoly und Geige.

In diesem Satz kommen ein Musikinstrument sowie zwei Arten von Spielen vor, die sich sehr viel stärker voneinander unterscheiden als Basketball und Fußball. Würde man den Versuch unternehmen, die Abstände zwischen diesen drei Begriffen zu messen, indem man mehrere Personen bittet, diese Abstände abzuschätzen, dann würden wohl die meisten Geige ziemlich weit von Tennis und Monopoly abrücken, und die beiden Spiele, obwohl sie sich nicht allzu ähnlich sind, hätten zueinander eine sehr viel größere Nähe als zu Geige. Und das passt, was nicht allzu überraschend ist, genau zum Italienischen, in dem der obige Satz wie folgt lautet:

Sylvia gioca al tennis e a Monopoly, e suona il violino.

Auf Italienisch wäre es undenkbar, dass jemand ein Musikinstrument (im Sinn von giocare) spielt; allein schon der Gedanke lässt einen Italiener lächeln. Eine solche Wendung würde beispielsweise die Vorstellung wachrufen, dass mit einer Stradivari Fangen gespielt wird. Während es für das Englische, Französische und Deutsche selbstverständlich ist, das Geigenspiel in dieselbe Kategorie aufzunehmen wie das Fußball- und das Basketballspiel, käme diese Vorstellung Italienern ausgesprochen albern vor.

Im Französischen wird das Verb jouer sowohl für Musikinstrumente als auch für sportliche Aktivitäten benutzt, allerdings mit jeweils unterschiedlichen Präpositionen verbunden. Man spielt an (à) einem Sport, aber von (de) einem Musikinstrument. Spaltet diese syntaktische Regel den Begriff jouer in zwei klar unterschiedene Unterbedeutungen auf? Im Englischen und Deutschen gibt es keine eindeutige syntaktische Regel, die eine mentale Aufteilung des Verbs »spielen« in zwei getrennte Bereiche zur Folge hätte; es fühlt sich vielmehr einfach monolithisch an.

Musikalische und sportliche Spiele im Chinesischen

Die italienische Unterscheidung zwischen »giocare« (für Sport) und »suonare« (für Musikinstrumente) mag einem als etwas künstlich erscheinen. Schließlich wird nicht nur im Englischen und im Deutschen, sondern auch in vielen anderen Sprachen dasselbe Verb für beide Aktivitätsarten benutzt – im Französischen heißt es »jouer«, im Russischen »иrpaть« und so weiter. Und wie sieht es im Chinesischen aus?

Das Mandarin ist in dieser Hinsicht noch pedantischer als das Italienische: Mandarin-Chinesen kennen vier Obergruppen von Musikinstrumenten, und jede Gruppe hat ihr eigenes Verb. Für Saiteninstrumente wird das Verb »拉« verwendet (ausgesprochen lä), es bedeutet ungefähr ziehen, während man bei Blasinstrumenten, »吹«, »chui«, benutzt (»blasen«). Bei Instrumenten wie der Gitarre, deren Saiten gezupft, oder dem Klavier, dessen Tasten mit den Fingern gedrückt werden, ist das geeignete Verb »彈«, »tán«, und bei Trommeln sagt man »打« (»dǎ«).

Kurioserweise kann man ein Verb, das spielen bedeutet (etwa in dem Zusammenhang: »mit einem Spielzeug spielen«), auch auf jedes Musikinstrument anwenden (es lautet »玩«, ausgesprochen »wan«), allerdings entspricht die Bedeutung leider nicht dem, was man im Deutschen erwarten würde: Es evoziert vor allem die Vorstellung des Herumstümperns am fraglichen Instrument, und darüber hinaus ist dieser Gebrauch von »玩« extrem informell, ja geradezu salopp.

Nun könnte man sich natürlich überlegen, wie man auf Chinesisch eine allgemeinere Frage stellt wie etwa: »Wie viele Instrumente spielt Baofen?« Die beste Übersetzung dieses auf Deutsch vollkommen natürlichen Satzes umschifft das Problem elegant, indem sehr allgemeine Verben verwendet werden wie etwas »学习« (»xuéxí«) oder »会« (»hui«), die »lernen« beziehungsweise »können, beherrschen« bedeuten und keine spezifische Beziehung zur Musik haben. Kurz- es gibt im Mandarin kein Verb, das der musikalischen Bedeutung von »spielen« entspricht, obwohl diese Vorstellung englisch- oder deutschsprachigen Personen völlig logisch, ja zwingend vorkommt; andererseits sind sich diejenigen, die Chinesisch sprechen, dieser Lücke in ihrem Wortschatz, die uns so krass vorkommt, nicht bewusst.

So weit, so gut. Wie sieht es nun aber mit dem Spielen von Brettspielen und mit sportlichen Wettkämpfen aus – dafür wird es doch im Chinesischen hoffentlich nur einen Begriff geben? Nun, zunächst einmal spielt man im Mandarin Brettspiele und Sport durchaus nicht mit demselben Verb. Bei Schach übt man die Tätigkeit des »下« (»xià«) aus, eine Bezeichnung, die im Zusammenhang mit einem Ball nie verwendet wird. Und für eine Sportart, die mit einem Ball ausgeübt wird, hängt dann alles davon ab, welche Art von Ball im Spiel ist. Für Basketball lautet das Verb »打« (»da«), man verwendet also dasselbe Wort wie für das Spielen einer Trommel (für einen Nicht-Chinesen vielleicht eine eher befremdliche Verbindung), wohingegen für Fußball »踢« (»ti«), »mit dem Fuß stoßen«, verwendet wird. Man würde also sagen: »Ich stoße lieber Fußball, als dass ich den Basketball schlage«. Wieder sehen wir, dass auf einem Gebiet, das einem Deutschsprechenden monolithisch vorkommt – alles wird gespielt, und damit hat es sich! –, im Chinesischen Unterscheidungen nicht nur weit verbreitet, sondern unumgänglich sind.

Man verwendet zwar im Englischen und im Deutschen nur ein Verb (to play/spielen), aber es ist nicht allzu schwer nachzuvollziehen, dass dieses Verb zwei ziemlich unterschiedliche Aktivitäten – rhythmische Geräusche erzeugen und Spaß haben – zusammenfasst und dass die so entstandene begriffliche Einheit durchaus nicht unumgänglich ist, sondern geradezu etwas beliebig wirkt. Was andererseits nicht so unmittelbar einleuchtet, ist das Fehlen einer natürlichen Einheit innerhalb dieser beiden Bereiche. Wenn uns jemand fragen würde, ob mit Puppen spielen, Schach spielen und Fußball spielen denn wirklich jeweils »dieselbe Aktivität« sei, könnten wir zwar Unterschiede aufzählen, aber die Beschäftigung mit solchen Nuancen würde uns doch eher pedantisch vorkommen. Und wenn wir erfahren, dass man im Mandarin für Fußball spielen und Basketball spielen zwei unterschiedliche Verben braucht, dann käme uns das auch eher so vor, als würde man hier des Guten zu viel tun – ähnlich wie wenn in irgendeiner exotischen Sprache zwei unterschiedliche Verben für »trinken« benutzt werden müssten, je nachdem, ob es sich um weißen oder um roten Wein handelt. Andererseits ist das für begeisterte Weintrinker eine wichtige Unterscheidung, man könnte sich also vorstellen, dass sie der Idee, zwei solche Verben zu haben, durchaus nicht abgeneigt wären.


Zeugma und Begriff

Unser kurzer Ausflug nach »Zeugmaland« erreicht seinen Gipfel mit der folgenden kühnen Prognose:

Sie werden dieses Zeugma ebenso sehr genießen wie ein Schokoladen- oder Musikstück.

Der Satz hat mehrere zeugmatische Seiten. Erstens spielt er mit zwei Bedeutungen des Substantivs »Stück«. Bei einigen Lesern wird die Wahrnehmung dieses Kontrasts ein Lächeln hervorrufen, auch wenn nicht geleugnet werden kann, dass beide Verwendungen des Worts völlig normal sind. Zweitens spielt der Satz mit drei Bedeutungen des Verbs »genießen«- einmal geht es um eine Geschmackserfahrung, dann um eine Hörerfahrung und schließlich um den Genuss einer sprachlichen Nuance. Natürlich hat jeder Leser einen anderen Eindruck von der Größe des Abstands zwischen diesen drei Bedeutungen des Worts.

Abgesehen davon, dass sie uns amüsieren, eröffnen Zeugmata uns die Möglichkeit, über die verborgene Struktur hinter der Oberfläche eines Worts oder einer Wendung nachzudenken – also über den Begriff, der mit einer lexikalischen Einheit verbunden ist, oder, genauer, über die Gruppe der mit ihr verbundenen Begriffe. Da aus den meisten Wörtern Zeugmata gebildet werden können (selbst, wie oben im Vergleich zwischen Russisch und Deutsch gezeigt, aus so schlichten Wörtern wie gehen), erhöht das Phänomen natürlich unsere Sensibilität für das Wunder, dass das menschliche Gehirn fähig ist, praktisch alles, was ihm begegnet, einer vorab bekannten Kategorie zuzuordnen. Trotz der unvermeidlichen und undefinierbaren Verschwommenheit der »Ränder« all unserer Kategorien und trotz ihrer immens großen Anzahl schafft es unser Gehirn ja durchaus, solche Zuordnungen in Sekundenschnelle und einer Art und Weise vorzunehmen, deren wir uns nicht im Geringsten bewusst sind.

Im oberen Beispiel zeigt sich die Nähe von Erbsünde zur Sexualität auf ganz neue Weise: im Wortsinn ist Sexualität die Zerschneidung/Trennung, Sonderung in zwei polare Hälften. (Wie in der Chemie sind erst die dann entstehenden „freien Radikale“ wirklich aggressiv – in gebundenem oder kolloidalem Zustand ist alles friedlich;-)

Wie viele Sprachen kennen nur das entweder/oder von männlich oder weiblich!?
Und wie sehr krankt die Suche der heutigen Gesellschaft nach Gendergerechtigkeit daran, dass die Unterscheidung als Entweder/Oder überhaupt fraglich scheint?
Der Schutz von Intersexualität ist noch sehr neu, bis vor kurzem wurde generell zum Entweder/Oder operiert.
Vielleicht gibt es eines Tages auch ein Kontinuum von Geschlechtlichkeit?;-)