Ostsseetagung 1995

DIE OSTSEE-MYSTERIEN IM WERDEGANG DER MENSCHHEITSGESCHICHTE

Mit Beiträgen von Oskar Borgman Hansen, Erdmut-M. Hoerner, Hans-Jørqen Høinæs, Arne Klingborg, Sergej O. Prokofieff, Manfred Schmidt-Brabant, Virginia Sease, Reijo Wilenius

HERAUSGEGEBEN VON DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IN DEUTSCHLAND, ARBEITSZENTRUM OST
Vortragsreihe anläßlich der Tagung »Die Ostsee-Mysterien im Werdegang der Menschheitsgeschichte« vom 15. bis 18. Juni 1995 in Binz (Rügen), die von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland/Ost in Verbindung mit der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Goetheanum, Dornach/Schweiz und den Anthroposophischen Gesellschaften in den Ländern der Ostsee gestaltet worden war.

Herausgeber: Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland eV, Arbeitszentrum Ost,
Geschäftsstelle: Angelikastraße 4, 01099 Dresden, Tel. 0351 – 802 23 72
www.anthroposophie-ost.de

Inhalt:

  • Peter Schmiedel – Einleitung
  • Arne Klingborg – Aufgaben im Ostseeraum
  • Manfred Schmidt-Brabant – Die Geburt der Ostseemysterien aus der Geistvergangenheit der Erde
  • Virginia Sease – Das frühe Amerika und der Ostseeraum
  • Reijo Wilenius – Der europäische Norden. Der lange Weg zur Geistselbst-Kultur
  • Hans-Jørqen Høinæs – Die Schwertritter, die Deutschritter und die Christianisierung des Baltikums. Was waren die Hintergründe des nordischen Kreuzzugs?
  • Oskar Borgman Hansen – Über den Geist des Nordens
  • Erdmut-M. Hoerner – Geologische Aspekte der Menschheitsentwicklung im Ostsee- und Mittelmeerraum
  • Sergej O. Prokofieff – Die geistige Bedeutung des Ostsee-Raumes und das Schicksal Rußlands
  • Manfred Schmidt-Brabant – Die Zukunft der nordischen Mysterien

Diskussionsbeiträge:

  • Sirje Purga – Die Kalevala und das Kalevipoeg
  • Ewa Wäsniewska – Der Ostsee-Bernstein und seine Bedeutung in den Mysterien

Einleitung
Peter Schmiedel

Sehr verehrte Anwesende, liebe Freunde,
ich möchte Sie sehr herzlich auf unserer Ostsee-Konferenz begrüßen. Wir sind hier zusammengekommen am Ostufer einer Ostseeinsel, um uns mit dem Wesen Ostsee zu beschäftigen und ihm näher zu kommen. Dieses geheimnisvolle Wesen ist ja daran beteiligt, daß die fünfte nachatlantische Kultur in die sechste nachatlantische Kultur übergeht. Aber es wird das nicht allein bewerkstelligen, sondern wir sind aufgerufen, intensiv daran mitzuarbeiten, daß dieser Übergang keine Karikatur wird, sondern daß er recht und in seiner eigentlichen geistigen Höhe erfolgt. Das ist Grund genug, um uns mit diesem Wesen zu beschäftigen und zu versuchen, dem näher zu kommen, was wir in diesem Übergang tun können.
Es sind ja schon in den Jahren 1926 und 1927 zwei Tagungen über die Ostseeproblematik gewesen, und zwar in Danzig, damals hatte Frau von Bredow die Organisation gemacht und überhaupt wohl den Impuls für diese Tagung gegeben. Merkwürdigerweise ist diese Frau 1889 geboren und 1989 gestorben, und sie hat am kommenden Samstag, während wir hier noch zusammen sind, Geburtstag.
Diese Tagung, die wir heute beginnen, ist eine reine Vortragstagung. Das haben wir uns für den Anfang so gedacht. Wir dachten allerdings, daß wir weitere Tagungen folgen lassen im Abstand von vielleicht zwei, drei, vier Jahren. Diese und weitere wollen wir mehr als eigentliche Arbeitstagungen einrichten, auf denen wir gegenseitig noch besser Kontakt haben, denn es ist ja nötig, um sich mit diesem Wesen Ostsee auseinanderzusetzen, daß wir uns, die um die Ostsee herum leben und wohnen, zusammenfinden. Und so ist also diesmal gedacht an eine Orientierungstagung und dann später mehr an Gesprächs- und Arbeitstagungen, vielleicht auch in kleineren Gruppen.
So wünsche ich Ihnen und uns ein gutes Gelingen und viel innere Erbauung.

Aufgaben im Ostseeraum – Arne Klingborg

Aufgaben im Ostseeraum
Arne Klingborg

In der jüngsten Zeit ist das Interesse an dem Ostseegebiet sehr gewachsen. Auch viele anthroposophische Initiativen entwickeln sich im Osten, mehr und mehr. Begegnungs- und Arbeitssituationen entstehen, im Bereich der Pädagogik und der Landwirtschaft wie auch im Zusammenhang mit unserer großen Anthroposophischen Gesellschaft. Wir sehen also viele neue Möglichkeiten, die vor einigen Jahren nicht vorhanden waren.

Nun, diese schöne Wasserfläche, die Ostsee! Ich wohne dicht an der Ostsee und blicke jeden Morgen auf ihre Wasserfläche, eine Bucht der Ostsee. Ich habe, seitdem ich Kind war, mit dieser Wasserfläche mehr oder weniger bewußt gelebt, und es ist doch etwas Interessantes mit Wasserflächen und besonders mit der unserer Ostsee.

Schon die Gesten und Situationen, die im Ostseeraum entstanden sind rein geologisch, sind interessant. Diese verschiedenen Gesten bilden die bottnischen und finnischen Buchten, die Rigaer Bucht und andere Küstenlandschaften. In der Gegend von Järna gibt es etwa zwanzigtausend Inseln, die weitergehen, an der Insel Åland vorbei bis zur finnischen Küste mit ihren abertausenden Inseln, so daß eine Art Inselbrücke existiert von Schweden über Finnland bis nach Rußland.

Ein anderes ist, daß das Wasser ab und zu die Möglichkeit hat, Spiegel zu bilden. Die Wolken können sich spiegeln, die Sonnenaufgänge und in der Nacht die Sterne. Es kann auch geschehen, daß das Nordlicht sich im Eis spiegelt. Aber dieser Spiegel ist nicht immer da. Brisen kommen, das Wasser kommt in Bewegung, und die Sonne glitzert über die Fläche. Aber das Wetter wechselt schnell, und so wird diese Fläche von Wellen bewegt, ja sogar von sehr großen Wellen – unruhig, bewegt, dramatisch, temperamentvoll. Aber nicht so wie der Atlantik – man nennt ja die Baltik auch das milde Meer -, aber trotzdem sehr temperamentvoll und bewegt. Von Zeit zu Zeit ist die Wasserfläche so voll mit Dunst und Nebel, daß man Wasser und Nebel nicht mehr unterscheiden kann, sie gehen ineinander über, und ab und zu fällt das Wasser als Regen herab. Im Winter friert es zu; das Wasser, das sonst in Bewegung ist, wird Eis.

So kann man die Wasserfläche in sehr verschiedenen Zuständen beobachten: als Spiegelphänomen, in Bewegung und sogar als etwas Festes. Man wird in eine ganz bestimmte Bewußtseinssituation hereingeführt, die sich zwischen der Spiegelfläche und dem sehr Bewegten zeigt. Vielleicht ist es ein besonderes Bewußtsein, das angeregt wird, wenn man mit einer Wasserfläche lebt, die ja auch die ganze Landschaft beeinflußt.

Noch etwas Interessantes! In diese riesengroße Wasserfläche strömt immer wieder Wasser herein. Es strömt süßes Wasser von den hohen, oft noch mit Schnee bedeckten Bergen in Norwegen und Schweden nach Osten. In Finnland fließen alle Ströme nach Süden und nach Westen. Hier werden die Flüsse durch eine phantastische Tausendseenlandschaft erzeugt, wo der eine See in den anderen herüberfließt und Ströme bildet. Langsam fließt es herunter nach Süden und Südwesten in den Finnischen Meerbusen. Von Osten nach Westen kommen die Flüsse aus Ladoga. Wir können auch alle die Flüsse verfolgen, die aus dem Süden kommen, große, mächtige Flüsse, die Meilen durch Landschaften, Städte und Dörfer in die Ostsee fließen. Wieviele Ströme laufen zusammen in der Ostsee, wieviel verschiedenartiges Wasser!

Aber alles dieses Wasser ist Süßwasser. Es strömen jedoch auch mindestens zwei große Ströme von Westen in die Ostsee herein. Aus dem Atlantik, dem Kattegatt und dem Skagerrak, kommen die Wasserströme, die durch den Öresund oder durch die Inseln von Dänemark, durch das Große und das Kleine Belt, hereinfließen. Das ist Salzwasser, und das ganze Lebensverhältnis der Ostsee beruht auf dem Ausgleich dieser Ströme von Salzwasser und Süßwasser.

Wir haben zwar nicht Ebben und Fluten in der Ostsee, aber bei uns in Järna kann die Wasserfläche um 75 Zentimeter sinken oder steigen in den Jahreszeiten, und das hängt davon ab, wieviel Wasser hereingepreßt wird von dem Atlantik oder durch die Flüsse.

Das Wasser der Ostsee ist ein spannendes, sehr lebendiges Element. Ich habe so viel Zeit für diese Schilderung genommen, weil es nicht möglich ist zu verstehen, was alles im Ostseeraum vorgeht, wenn man nicht ein lebendiges Wasserbewußtsein entwickelt. Alle diese kleinen Eindrücke sind für mich Teil einer Art Wasser-See-Bewußtseins, das man wirklich erleben und entwickeln kann. Das ist ein imaginatives, bewegliches Bildbewußtsein, und ohne dieses kommt man nicht an verschiedene Geheimnisse dieses Ostseegebiets heran. Um das alles zu illustrieren, habe ich eine Karte gemalt.

Sie kennen ja sicher die verschiedenen Elemente. Man muß die Wolken und das, was Wetter ist, miteinbeziehen. Vom Atlantik kommen immer Stürme und Regen herein, dagegen vom Osten viele kalte Winde, nebelartige Winde. Alle diese verschiedenartigen Elemente treffen auf der Ostsee zusammen.

Nun gibt es noch eine Karte. Es wohnen ja Menschen ringsherum der Ostsee. Diese Karte der »Menschenlandschaft« zu malen, wird sehr schwierig. Man müßte eigentlich mehrere Bilder malen, um zu zeigen, daß es sich um ein Zeit-Bild handelt, das sich durch die Jahrhunderte verändert. In diesem Zeit-Bild gibt es einige Motive, auch strömende Motive. Das sind die Ströme, die von dort, wo wir jetzt wohnen, nach Osten in der Wikingerzeit gegangen sind. An unseren Küsten sieht man häufig Runensteine. Auf einem steht etwa »Dieser Stein ist über Björn gereist, der im Osten geblieben ist.« Das ist eine Andeutung aus der Geschichte, die uns von Strömen von Westen nach Osten erzählt. Andere große, mächtige Ströme gingen vom heutigen Südschweden, von Norwegen und Dänemark nach Westen und Süden. Die nordische Mythologie und die Kalevala-Bilderwelt sprechen von den religiösen Strömen in der früheren Zeit, und gehen wir durch Jahrhunderte weiter, kommen wir zu den uralten Mysterienstätten in Dänemark, von denen wir sicher noch viel hören dürfen.

Alle diese Ströme haben zu einer ungeheuren Dramatik geführt, befruchtend, aber auch zu sehr dramatischen und machtvollen Situationen mit sehr tragischen Folgen: den Machtkämpfen um die Herrschaft im Ostseeraum. – Dazu kommen auch die Ströme des Wirtschaftslebens, zum Beispiel der Hansa-Bund.

Wenn wir uns in diese Ostseesituation vertiefen wollen, müssen wir uns viel Zeit geben, um alle diese Ströme der sichtbaren Geschichte im Bewußtsein zu haben, die dabei mitwirkten, diese Kulturlandschaft zu bilden. Verschiedene Rassen und Völker wie auch verschiedene Religionen und Bewußtseins[-]Nuancen haben sich hier zusammengefunden.
Das sind die sichtbaren Ströme, die nachforschbar sind. Jetzt möchte ich mich bei einigen für die große Öffentlichkeit noch unsichtbaren Strömungen aufhalten.

Vor zweihundert Jahren kam eine mächtige Strömung von Süden, die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen von Friedrich Schiller! Er hat die 27 Briefe an eine Gruppe von Menschen, die ihm ökonomisch geholfen hatten, geschrieben, es sind Briefe an Friedrich Christian von Augustenborg in Dänemark und seinen Freundeskreis. Viele von Ihnen kennen ja diese Briefe.

Was hat Schiller eigentlich angeregt? Es ist ein Übungsbuch, wie man die Möglichkeit des Menschen erfahren kann, Freiheit zu gewinnen zwischen den beiden großen Kräftefeldern Stofftrieb und Formtrieb. Schiller hat diese Begriffe wunderbar ausgearbeitet, aber wir müssen diese selber mit Lebenserfahrungen ausfüllen, so daß wir in unserer Gesellschaft sehen können, wo der Stofftrieb hauptsächlich wirksam ist und wo besonders der Formtrieb wirksam ist. Und weiter – wo können wir das finden, was Schiller Spieltrieb nennt? Der Spieltrieb, die menschliche Fähigkeit, das Gegebene im Gebiet des Stofftriebs zu verwandeln: Form zu geben in geformtes Leben. Das, was Tendenzen hat, sich zu befestigen im Gebiet des Formtriebes zu verwandeln: Leben zu geben in lebendige Formen. Der schöpferische Mensch, der nicht stehen bleibt in dem, was gegeben ist durch Erbschaft im Gebiet des Stofftriebes oder durch die Prägung der Zivilisation im Gebiet des Formtriebes. Der schöpferische Mensch, der ein Gebiet mit Möglichkeiten und Aufgaben entdeckt. – Aber was Schiller andeutet, möchte Lebenserfahrung werden und Willensimpulse anregen.

Schiller arbeitete seine Briefe so aus, daß sie eigentlich eine Anregung für alle Menschen sind. Langsam sollte in die Zivilisation eine Art Gesinnung, durch Erfahrung, entstehen, die notwendig ist, um eine Gesellschaft zu schaffen, wo freie Menschen schöpferisch tätig sind. Durch die schöpferische Tätigkeit des Menschen wird die Gesellschaft vermenschlicht.

Schillers Briefe sprechen von der Möglichkeit, Freiheit zu erfahren, zu erleben, und davon, welche Konsequenzen dieses Erleben für das soziale Leben haben kann. Sie sprechen von dieser schöpferischen Tätigkeit als einer umfassenden künstlerischen Tätigkeit, und Schiller ist damit der erste, glaube ich, der den Begriff des schöpferischen Menschen erweitert hat. Künstler ist nicht nur der Maler oder Musiker, sondern in allen Menschen wohnen soziale Keime eines künstlerischen Wesens. Das ist Schiller: Wir sind nicht nur, was wir sind, sondern was wir werden können.

Diesen wunderbaren Strom, der von Süden gekommen und in Kopenhagen im Ostseegebiet zuerst angelandet ist, haben wir vielleicht wahrgenommen. Aber nach zweihundert Jahren ist es uns noch nicht gelungen, diese lebendige Inspirationsquelle, die heute vielleicht mehr aktuell ist als damals, im heutigen Kulturleben nachzuweisen und zu aktualisieren.

Nun gibt es noch einen Strom, der fast unsichtbar im öffentlichen Leben ist, und das sind Rudolf Steiners Vorträge in Oslo – damals Christiania – über die Mission der Volksseelen anhand der nordischen Mythologie.1) Das ist etwas Unglaubliches, was in diesen elf Vorträgen vorhanden ist. Rudolf Steiner macht uns auf die im Zusammenhang mit Sprachen oder mit Völkern und Kulturimpulsen inspirierenden geistigen Wesen aufmerksam. Er vermittelt nicht nur ein geisteswissenschaftliches Wissen, sondern es handelt sich um Anregungen. Er geht so weit, daß er sagt: Wenn diese Anregungen nicht ernst genommen werden, wird es schwierig für die Menschheit. Sie wissen sicher, was Rudolf Steiner uns in diesen Vorträgen schildert, wie Zersplitterungstendenzen in der Menschheit zustande gekommen sind, und wie diese Aufsplitterung in der Zukunft überwunden werden muß.

So malt Rudolf Steiner durch alle Vorträge ein Riesentableau davon, wie hohe Wesen zusammenwirken und die Menschheit verschiedenartig beeinflussen. Rudolf Steiner stellte die Inhalte dieser Vorträge einer größeren Öffentlichkeit zu Verfügung, aber bis heute spielen sie keine Rolle in unserem öffentlichen Kulturleben.

Hier stehen wir also vor noch einer weiteren großen Aufgabe. Wenn man sich mehrere Jahre mit diesen Vorträgen beschäftigt hat, beginnt man langsam etwas davon zu erfahren, wo Volksgeister sichtbar und in Bewegung sind und wo wir die Arbeit von den Zeitgeistern ahnen können. Aber hier warten Aufgaben, die nicht zu lösen sind, wenn wir nicht konkrete Symptome und Erfahrungen suchen: Hier wirken Engelwesen, hier Erzengelwesen. Der eine Zeitimpuls löst sich auf, der nächste kommt. Die Sprachen entwickeln sich und so weiter. Im zehnten Vortrag sagt Rudolf Steiner etwa: »Wir müssen sehen, wie in Europa das gesamte europäische Geistesleben zusammenwirkt, wie durch die Tätigkeit der verschiedenen Volksgeister ein Fortschritt der Menschheit bewirkt wird. Aus uralten Zeiten heraus, durch unsere Gegenwart hindurch, in die Zukunft hinein – jedes einzelne Volk, ja sogar jeder einzelne kleine Volkssplitter hat seine besondere Aufgabe in diesen großen Gesamtgemälde.«

Diese Vorträge haben eine große Zielsetzung. Sie bewirken, daß wir als Menschen Menschheitsziele formulieren und erwägen können. Rudolf Steiner spricht davon, wie vielleicht dieser Ostseeraum wie eine Art vorbereitender Schulungsraum sein könnte für eine kommende Kultur, die sich dann in der sechsten Kulturepoche im russischen Gebiet ausbreiten will. Denn die Zeugung des Geistselbstes in kommender Zeit muß vorbereitet werden. Sie kommt nicht aus Naturnotwendigkeit, sondern nur dadurch, daß Menschen sich in diese Zielhaftigkeit von Impulsen hineinüben wollen.

Sie wissen sicher, wie er andeutet, daß schon prophetisch das eine oder das andere angelegt ist für eine zukünftige Entwicklung, zum Beispiel bei dem russischen Philosophen Solowjow. Er sieht voraus, daß in der Zukunft eine neue Menschlichkeit entstehen wird, die eine durchchristete Menschlichkeit ist. Rudolf Steiner bezeichnet diese Solowjowsche Philosophie als eine Vorahnung, als etwas ungeheuer Wichtiges für die Zukunft. »Insbesondere interessant ist es zu sehen, wie unter diesem Einfluß im Osten ein viel fortgeschrittenerer Christus-Begriff hat zustandekommen können als in Westeuropa, soweit er dort nicht durch die Geisteswissenschaft zustande gekommen ist. Von allen ihr Fernstehenden hat den fortgeschrittensten Christus-Begriff der russische Philosoph Solowjow. Er hat einen solchen Christus-Begriff, daß er nur von Schülern der Geist-Erkenntnis verstanden werden kann, weil er ihn immer weiter hinaufentwickelt und in unendlicher Perspektive zeigt.«

In seinen Reden zum Andenken an Dostojewski malt Solowjow etwas aus, was er schon bei Dostojewski sieht und was uns ungeheuer tief anregen kann. Er spricht von »einer die ganzen Menschheit umfassenden rechtgläubigen Kirche. Nicht nur von einer göttlichen, unverändert fortdauernden Einrichtung, sondern auch von ihrer Aufgabe, die gesamte Menschheit im Namen und im Geiste Christi zu vereinigen. Im Geist der Liebe und der Barmherzigkeit, der Opferung und Selbstopferung. Eine Kirche der ganzen Menschheit in dem Sinne, daß in ihr die Trennung in Stämme und Völker, die sich bekämpfen und miteinander wetteifern, verschwinden muß. Sie alle können und müssen sich, ohne ihren natürlichen Charakter einzubüßen, aber befreit von ihrem nationalen Egoismus, zum gemeinsamen Werke finden.«

Er redete nicht nur davon, was ist, sondern was sein soll – wir haben also dieselbe Thematik wie bei Schiller – und er arbeitet aus, was Dostojewski schon als Vision von einer kommenden Menschheit, als großes Menschheitsziel vor sich sah. »Vor unserer Seele« – so Rudolf Steiner anknüpfend an Solowjow im zehnten Vortrag in Oslo – »steht ein Christentum, von dem wir wissen, daß Christus in allen Zeiten wirksam war, und daß wir Christus finden werden an allen Orten, wohin wir kommen werden. Daß das Christus-Prinzip das allergeisteswissenschaftlichste Prinzip ist.«

Man könnte noch weitersprechen von diesem fast unsichtbaren Strom, der von Rudolf Steiner gekommen und noch nicht entwickelt ist. Denn er sagt, zunächst konnte da nur erreicht werden eine feine, sublime geistige Anschauung in der Philosophie von Solowjow. Doch »… von den Volkskräften muß diese dann erfaßt und durchdrungen werden, damit sie allgemeines Menschheitsgut werden kann, damit sie verständlich werden kann auf dem weiten Terrain unseres Erdenlebens«. Und nun kommen wir zu unserer großen Aufgabe: Alles, was in Solowjow vorgebildet ist und in der ganzen Geisteswissenschaft, dieses große Tableau der geistigen Hierarchien, die wirksam sind im Kosmos und im Menschen, volkstümlich zu bearbeiten. Wir können nicht bei dem bleiben, was in den Vorträgen steht, sondern wir müssen das so bearbeiten, daß wir es im Leben vertreten können. Es muß volkstümlich bearbeitet werden, sonst wird es verschwinden. Rudolf Steiner sagt auch, daß dies nicht aus einer Automatik geschehen wird. Als innerster Impuls muß diese Arbeit stattfinden.

Ich habe von zwei Karten erzählt. Die dritte Karte wäre nun, daß wir langsam ein Bewußtsein davon entwickeln, wie geistige Wesen auf verschiedene Art von allen Seiten hereinströmen und inspirierend wirken. Aber davon kann man nicht eine faßbare Karte malen, sondern man kann das als eine Art geistiger Symphonie im Bewußtsein haben. Rudolf Steiner sagt, daß man diese Vorgänge symphonisch-musikalisch erleben können muß.

So wie es nicht möglich ist, unser Ostseegebiet zu verstehen ohne eine Art imaginatives Wasserbewußtsein zu haben, auch nicht ohne Zeitbewußtsein, mit dem wir die Sprache der Geschichte hören können, so werden wir unsere Zukunftsaufgaben nicht ergreifen können, wenn wir nicht eine Art symphonisches Bewußtsein entwickeln, das Bewußtsein einer Symphonie, in der wir konkret mitspielen.

Man kann Bilder sehen. Man kann in Bildern leben. In Bildern lebend ahnt man ein imaginatives Bewußtsein. Man sieht nicht Details, Stücke, sondern die Teile fügen sich zusammen und werden Bilder, wo Wesentliches von Unwesentlichem sich abzeichnet.

In einem Tableau der Geschichte fangen Bilder an zu sprechen, zu tönen, und Entwicklungssymptome melden sich an. In Die Stufen der höheren Erkenntnis spricht Rudolf Steiner von einer weiteren Bewußtseinssituation, in der man in schöpferische Vorgänge verwickelt ist.

»Es sind gewisse Linienformen, Gestalten, die man erlebt. Doch nicht etwa so erlebt man sie, daß man sie vor sich in irgendeinem Raume gezeichnet sähe, sondern so, als ob man in fortwährender Bewegung mit seinem Ich jedem Linienschwung, jeder Gestaltung selbst folgte. Ja, man fühlt das Ich als den Zeichner und zugleich als das Material, mit dem gezeichnet wird. Und jede Linienführung, jede Ortsänderung sind zugleich Erlebnis dieses Ich. Man lernt erkennen, daß man mit seinem bewegten Ich hineingeflochten ist in die schaffenden Weltenkräfte. Die Weltgesetze sind nun dem Ich nicht etwas äußerlich wahrgenommenes, sondern ein wirkliches Wundergewebe, an dem man spinnt.«2)

Ich glaube, es wird nicht möglich, unsere Zukunftsaufgaben zu greifen, wenn wir nicht hereinsteigend als Willensmenschen uns identisch machen mit unserem Zeitenschicksal. Unser Ostseeraum bietet eine besondere Übungssituation, vom Geologischen her, vom Geschichtlichen bis hinein zum Ergreifen, zum Erleben dessen, was in den Zyklen von Oslo und Helsinki gegeben ist.

Eine große Aufgabe steht vor uns. Wie wird es möglich, geisteswissenschaftliche Tatsachen volkstümlich zu vermitteln? Vielleicht müssen wir lernen, in vielen Sprachen sprechen zu können. Ich meine nicht, daß wir nun lernen sollen die elf Sprachen, die um die Ostsee vorhanden sind, sondern daß wir mehr und mehr lernen mit unseren Zeitgenossen über geistige Realitäten verständlich sprechen zu können, uns im Dialoge neu zu formulieren.

Unsere geisteswissenschaftlichen Erfahrungen sollen nicht nur von einer Elite, sondern von vielen Menschen gefühlt und erlebt werden, nicht nur von Waldorfschülern oder Anthroposophen. So, wie man sagt, »in jedem Menschen wohnt ein Künstler«, kann man auch sagen »in jedem Menschen wohnt ein Anthroposoph«. Alle Menschen haben die großen Fragen: Wer bin ich, woher komme ich, wo gehe ich hin? In allen Menschen sind solche Fragen vorhanden, nur daß ab und zu Hemmungen vorgeschoben sind, zivilisatorische Hemmungen, auch Hemmungen, die wir gemacht haben. Der Paragraph vier unserer anthroposophischen Prinzipien spricht ja davon: Wir haben eine Gesellschaft für alle Menschen – von verschiedenen Religionen, Lebenssituationen und so weiter -, die ein Berechtigtes sehen in diesen Bemühungen, eine geisteswissenschaftliche Forschung zu pflegen. Das, was von Rudolf Steiner gegeben ist, immer wieder lebendig zu machen, ist unsere große Aufgabe. Wir leben in dem Ostseeraum, und wir sollen nicht nur sehen, was war und was ist, sondern auch die Zukunftsmöglichkeiten, die vorhanden sind, sehen. Große Aufgaben kommen uns entgegen.

1) Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der nordisch-germanischen Mythologie, GA Bd. 121
2) Rudolf Steiner, Die Stufen der höheren Erkenntnis, GA Bd. 12

Die Geburt der Ostseemysterien aus der Geistvergangenheit der Erde – Manfred Schmidt-Brabant

Die Geburt der Ostseemysterien aus der Geistvergangenheit der Erde
Manfred Schmidt-Brabant

Sehr verehrte Anwesende, liebe Freunde!

Mit dem Anbruch dieses Jahrhunderts öffneten sich die Blickrichtungen in neue Bereiche, die bisher nur schlafend im Bewußtsein der Menschen lagen. Es hängt das damit zusammen, daß dieses zwanzigste Jahrhundert charakterisiert wird durch den Wechsel zweier großer menschheitsgeschichtlicher Zeitalter: Wir sprechen vom Ende des Kali Yuga, des finsteren Zeitalters, und vom Beginn eines neuen, lichten Zeitalters, in dem der Mensch wieder Zugang findet zur geistigen Welt.

Zu diesen neuen Blickrichtungen gehörte auch, daß die Frage entstand nach der spirituellen Bedeutung geographischer Räume, in die das Schicksal den Menschen gestellt hat oder die er aus anderen Gründen verstehen will in Bezug auf ihr spirituelles Gewicht. Und so begann schon im vorigen Jahrhundert durch den Skandinavier Kjellèn eine Blickrichtung, die man dann später die Geopolitik nannte, die auch unselige Ausläufer hatte durch Haushofer in den nationalsozialistischen Bereich hinein. Oder es entstanden Untersuchungen über die Kraftlinien, wie man sagte, die bestimmte Orte miteinander verbinden, und die daraus entwickelte Geomantik. Vor allen Dingen aber durch die Anthroposophie selber wird diese Blickrichtung nach zwei Seiten fundiert, sachlich gewichtet: Das eine war, daß man hinblicken lernte auf die unterschiedlichen Konfigurationen der Ätherarten über die Erde hin. Eine Äthergeographie wurde durch Rudolf Steiner inauguriert, durch Guenther Wachsmuth dann in seinen ersten großen Büchern entwickelt. Das zweite war, daß man begann einzusehen, wie für einen bestimmten Erdenraum im lebendigen Akasha weiterlebt, was früher einmal dort als Mysterienwesen gelebt hat.

Es gibt eine Reihe von Beispielen dafür, daß Menschen in, so würden wir sagen, primitiven Gegenden, die noch über ein altes, atavistisches Hellsehen verfügen, im Ätherraum dieser Gegenden Bilder, Vorgänge ja sogar Tempeleinrichtungen sehen, die dann – und ein solcher Fall ist mir von einem unserer Freunde geschildert worden – von Archäologen erst mühsam aus dem Erdenschoße gehoben werden. Wo wir auch leben auf der Erde, wo unser Schicksal uns hinführt, wir sind durch den lebendigen Akasha, die Erderinnerung, die Geistigkeit des Äthers, umgeben von immer noch wirksamen Bildgestaltungen der Mysterien der Vergangenheit. Und so richtet sich wohl nicht zu Unrecht der Blick auf diesen Ostseeraum, nun, wo die Mauer, die da so lange Jahrzehnte durch den Raum ging, gefallen ist und wo wir wieder die Einheitlichkeit dieses Raumes erleben können. Es richtet sich sicherlich nicht zu Unrecht der Blick auf die Mysterienvergangenheit, die Mysteriengegenwart und die Mysterienzukunft dieser Region.

Allerdings, ich muß hier einen kleinen Einschub machen. Wir haben in diesen schönen Bildern dasjenige, was Rudolf Steiner tatsächlich einmal an die Tafel gezeichnet hat, eben in jenem Vortrag in Dornach vom 14. November 1914, auf den sich sicher andere auch noch beziehen werden, wo er zunächst diese drei Ausläufer der Ostsee, den bottnischen, finnischen und den baltischen Meerbusen, zeichnet.3) Dann macht er aber eine weitere Zeichnung und läßt dieses Wassergebilde vom Atlantik hereinströmen, so daß England und Irland noch miterfaßt sind – auf die er dann sogar expressis verbis eingeht – dann schlägt es heran gleichsam an Norwegen, und dann sehen wir den eigentlichen Bewußtseinskopf dieses Meereswesens, der da in die Ostsee als Ostsee hineinragt. So daß man sich beim Anschauen einer Karte sagen muß: Es ist dieser Raum, den wir meinen, gelegen etwa von Irland, England herüber bis weit in den russischen Raum hinein, vom 10. Längengrad westlich bis zum 30. Längengrad östlich, vom 50. hinauf bis zum 65. Breitengrad – ein großes, breites Band von Irland, England, der Nordsee, einen Bewußtseinspol habend in der Ostsee und herein dann bis nach Rußland, die unterste, südlichöstlichste Ecke wäre Kiew. Und wenn man das so anschaut – und dies geht auch aus den Darstellungen Rudolf Steiners hervor – dann sieht man: Rügen ist der Mittelpunkt dieses großen Mysterienbereiches. Und wir verstehen, daß die Insel Rügen in Urzeiten ein zentrales Mysterienheiligtum gewesen war.

Wenn man nun über eine Geschichte der Mysterien spricht, muß man immer wieder an gewisse Dinge erinnern, die uns durch die materialistischen Neigungen unseres Zeitalters leicht entfallen. Gehen wir weit zurück in die Vergangenheit, so sehen wir ein geistgemäßes Entstehen zunächst aus den höheren Welten heraus, von denen wir sagen müssen, sie sind Mensch, makrokosmischer Mensch, und Erde in einem. Menschheit und Erde sind aus Einem entstanden. Und dann sickert erst langsam aus diesem Gebilde heraus das, was später das Tierreich wird, das Pflanzenreich wird, dann das Erdreich wird. Auch das Mineralreich ist durch Ausstoßung aus diesem makrokosmischen Menschenwesen entstanden. Und das Ganze sehen wir durchzogen von dem vielfältigen Wirken der Hierarchien, auf das Arne Klingborg vorhin so schön hingewiesen hat. Erde, Mensch und Götter waren ursprünglich wie Eines, waren ineinander verwoben, und erst langsam im Verlaufe der Erdgeschichte differenzierten sich die Bereiche auseinander. Es ist das eine Voraussetzung, die wir ganz besonders dann brauchen, wenn wir hin- schauen auf die Schilderungen, die Rudolf Steiner von diesem Ostseeraum gibt, denn in seinen Schilderungen spielen dauernd ineinander Irdisches, Seelisch[-]Menschliches, die Wirkungen von Geistwesen, Wasser, Erdenkräften und so weiter.

Eine zweite Grundfrage zu stellen ist angebracht bei einer solchen Betrachtung: Was sind eigentlich Mysterien? – Aus einer bilderbuchähnlichen Vorstellung – die Anwesenden natürlich ausgeschlossen – denkt man oft: Mysterien, das sind Tempel, die da irgendwo standen, da gingen Priester ein und aus, und die Priester beherrschten das Volk – zu Unrecht, wenn man aufklärerisch gestimmt ist, oder aus guten Gründen, wenn man mehr spirituell gesonnen ist. Das aber war nur der späte, eigentlich ganz dekadente Zustand. Unter Mysterien versteht man oder verstand man immer einen Zustand, in dem Menschen und Götter ineinander wirken, wo die Götter hereinwirken und die Menschen belehren und erziehen; wo die Menschen, die dazu fähig sind, aufsteigen zu dem Erfahren des Göttlichen. Im Sinne des eben Gesagten: wo das Ganze gewoben ist und sich abspielt in der feinen Substantialität der Erde: Erdgeschehen, Substanzgeschehen, Götter- und Menschheitsgeschehen sinnvoll ineinander verwoben. Das ist der Mysterienzustand. Wir kennen ihn aus der Gegenwart in alledem, was wir Sakramentalismus nennen. In einem Sakrament webt ineinander Substanzgeschehen, Gottesgeschehen, Menschengeschehen, und deshalb ist jedes echte Sakrament ein Mysterium.

Nun, in jener Urzeit, die wir eben berührten, als gleichsam Erde und Menschheit sich evolvierten aus dem Geistigen heraus, war die ganze Erde ein Mysterienorganismus. Diese frühen Zeiten – wir sprechen von der polarischen, hyperboräischen Zeit oder auch noch von der ersten Zeit der lemurischen Epoche – da war eigentlich alles, was auf der Erde vor sich ging, mysterienhaft. Götter wirkten, die Menschenkeime entstanden, die Substanzen begleiteten dieses Geschehen, verdichteten sich; noch war keine feste Erde da, Erde war in Feuerform, die Substanzen waren in Verdünnung, waren in feuerflüssiger Form, und erst nach und nach dichtete sich ja die Erde zusammen. Vor allem eben in der zweiten Hälfte der lemurischen Zeit war eine Epoche, da kann man nur sagen: Die ganze Erde war ein Mysterienorganismus. Da war ein ganzer Kontinent der damaligen Gestaltung der Erde entsprechend ein Mysterienland, da kann man nur sagen, es gab Mysterienkontinente. So war das in Lemurien der Fall und ragte noch hinein in die frühe atlantische Zeit. Man betrat einen Kontinent, und der Kontinent war Mysterienort, Mysterienstätte, wo Götter und Menschen miteinander verkehrten und die Erdvorgänge, die Erdsubstanzen dieses begleiteten.

Dann aber, von der Mitte der atlantischen Zeit etwa an, differenzierte sich die Mysteriengeographie, und es entstanden Mysterienregionen, in denen ein bestimmtes Mysterienwesen waltete. Das ging von der Mitte der Atlantis bis etwa .in die ersten zwei nachatlantischen Zeiträume hinein. Und diese Mysterienregionen waren jeweils geprägt durch die großen planetarischen Orakel: Es gab eine Sonnenregion, eine Venusregion, eine Marsregion. Und wieder erst im dritten nachatlantischen Zeitraum und im vierten bis nach Griechenland hinein entstand jene Verdichtung, von der wir sagen, es gab Tempelbezirke: Delphi, Ephesus, Dendera, die großen ägyptischen Orakel, Tempel eben und darum ein heiliger Bezirk, oft charakterisiert, wie wir das noch auf dem Odilienberg im Elsaß sehen, durch eine gewaltige Mauer, die den Tempelbezirk von der Welt abtrennte.

Wenn sich unser Blick auf die Ostseemysterien richtet, dann meinen wir eine Mysterienregion. Dann meinen wir das, was da Rudolf Steiner an der zweiten Tafel anzeichnete: einen ganzen Bereich, nicht mehr Kontinent, aber auch nicht eingeschränkter Tempelbezirk, sondern eine Region. Und wir schauen tatsächlich für die Ostseemysterien auch hin auf den charakterisierten Zeitraum. Sie entstehen Mitte der atlantischen Zeit, kommen dann in ihre eigentliche Blütezeit hinein in dem ersten, zweiten, dritten nachatlantischen Zeitraum und klingen dann ab, und über ihre Gegenwart und über ihre Zukunft wird ja noch zu sprechen sein.

Nun können ja zunächst geologische Einwände entstehen, die nicht unwichtig sind. Wenn Sie sich Karten der Eiszeit anschauen, so werden Sie sehen, daß da die Eisgrenze herunterwanderte, die ganze Ostsee bedeckt, hereingeht bis nach Mitteldeutschland; nur Südengland bleibt in der Regel frei. Die Erdgeschichte sagt, daß es verschiedene Eiszeiten gab, die immer wieder unterbrochen waren von Warmzeiten. Rudolf Steiner macht nun darauf aufmerksam, daß damit große Rhythmen auch für das Mysterienwesen vorlagen: Das Eis ging zurück – das Mysterienwesen blühte auf, und wenn die neue Kaltzeit kam, zogen sich die Seelen, wie Rudolf Steiner sich ausdrückt, zu langem Schlaf in die geistige Welt zurück. Dann waren die Mysterien in der geistigen Welt und sozusagen ganz götterorientiert, bis unten – wir sprechen nur von unserem Ostseeraum, auf Ägypten würde das ja nun nicht zutreffen – eine neue Warmzeit eintrat und die Seelen sozusagen heruntertraten und das Mysterienwesen weiterführten und weiterpflegten.

Ein weiteres kommt hinzu, was wie ein Empfindungshintergrund bei der Betrachtung der alten Mysterienzeit zu beachten ist: Wir hatten alle ein besonderes Bewußtsein voneinander. Das eingeschränkte Umkreisbewußtsein, das wir heute haben, ist ja menschheitsgeschichtlich ganz neueren Datums. Die Menschen waren damals, aber das ist wirklich ganz prosaisch gesagt, hellsichtig, sie schauten hinaus, sie erlebten die Erde mit, man konnte sehr wohl in Schweden mitmachen, was in ägyptischen Mysterien passierte oder in Mysterien im weit entfernten Asien. Rudolf Steiner gibt erstaunliche Bilder und Beispiele. Er schildert zum Beispiel, wie man da im dritten Jahrtausend in Kleinasien genau kannte die Verhältnisse in Irland und Menschen ausschickte, damit sie dort Kolonien bildeten und eben unter den besonderen Verhältnissen Irlands eben eine bestimmte Mysterienart entwickelten. Wir werden morgen früh von Virginia Sease hören über jenen Zusammenhang, der Rudolf Steiner so wichtig war, wie da zwischen diesen Mysterien unseres Raumes und den Mysterien Amerikas seit Urzeiten ein Wechselverkehr bestand. Es hängt das damit zusammen, daß das ganze alte Mysterienwesen eine bestimmte Ordnung hatte.

Gehen wir noch einmal zurück in die atlantische Zeit. Es charakterisierten sich damals die Mysterienstätten dadurch, daß sie inspiriert waren von den Planeten, daß die Geistigkeit, wir könnten ja auch sagen die Geistwesensgemeinschaft, der Venus, des Mars oder des Jupiter unter der Anführung ihres Planetengeistes, ihres Erzengels bestimmte Mysterienstätten prägten, und daß es eben Venusmysterien oder Saturnorakel oder Marsorakel gab. Und von jeder dieser Mysterienarten gingen aus bestimmte charakteristische Impulse für die Menschheit. Jede Mysterienstätte stand für eine bestimmte Erziehungsart. Wir haben da Nachklänge später noch in der mittelalterlichen Astrologie, wo man sagte: Die Kinder des Merkur, das sind eben die, die den Handel beherrschen, und die Kinder des Mars beherrschen alles Kriegerische, und die Kinder der Venus beherrschen die Liebe und die Kinder des Jupiter die Weisheit. Aber das ist ein dekadenter, ganz verbürgerlichter Rest von dem, was wirklich damals von den Mysterien ausging: Kulturgestaltung, Zivilisationsgestaltung.

Aber nun hatten alle diese Mysterienarten eben eine Gemeinsamkeit. Sie wurden gemeinsam getragen und gelenkt durch die Sonnenmysterien. Überall gab es Regionen, in denen die Sonnenmysterien dominierten und wo der Erzengel der Sonne, Michael, durch die Weltenintelligenz das Wirken aller Mysterienstätten miteinander im Gleichgewicht hielt. Und man wußte eben voneinander. Wenn da irgendwo Jupiter-Mysterien waren, wußte man von den Venus- oder Marsmysterien über das gemeinsame Bewußtsein, das ausging von den Sonnenmysterien.

Diese Art des Ausgleichs spielte sich nun etwa Ende der atlantischen Zeit in einem ganz besonders repräsentativen Maße in diesem Nordsee-Ostseeraum ab. Wir schauen zurück und finden auf Rügen ein gewaltiges Sonnenheiligtum, ein Sonnenmysterium. Und um dieses Sonnenheiligtum herum in der ganzen Region die Repräsentanz aller übrigen sechs Mysterienarten: Mondmysterien, Merkurmysterien, Venusmysterien, nach oben herauf Jupitermysterien, Marsmysterien, und ganz herauf, sozusagen in die hyperboräische Vergangenheit reichend, uralte Saturnmysterien. Dieser Raum war ein Beispiel für den Ausgleich dessen, was Mysterienwesen für den Menschen sein kann, getragen, durchleuchtet und durchwärmt von den Sonnenmysterien auf dem Erdteil, den wir heute die Insel Rügen nennen, die natürlich damals eine wirkliche Insel war und nicht durch einen Damm verbunden. Eine Insel ist nur dann mysterienhaft eine Insel, wenn wirklich das Wasser ringsherum fließt. Aber das ist ja vielleicht auch heute nicht mehr so wichtig, das Auto ist wichtiger geworden.

Der Grund, warum das so sein konnte, hängt mit einer eigentümlichen Konfiguration dieses Raumes zusammen. Ich sagte eingangs, eine der großen Richtungen, die Rudolf Steiner einschlug und dann mit Wachsmuth ausgestaltete, war das Ergreifen der äthergeographischen Gliederung der Erde. Wir haben vier verschiedene Ätherarten: den Wärmeäther, den Lichtäther, den Klang- oder Chemischen Äther und den Lebensäther parallel zu den Aggregatzuständen des Festen, des Flüssigen, des Luftförmigen und der physischen Wärme. Normalerweise sind diese Ätherarten überall gemischt, wir brauchen jede Ätherart. Aber über die Erde hin dominieren gewisse Ätherarten. Schaut man auf Amerika, so dominiert dort der Lebensäther. Und dann, noch ein bißchen Neufundland mitgenommen über den Atlantischen Ozean bis herüber zu Europa dominiert der chemische Äther. Und dann, von der Mitte Europas an, beginnt der Lichtäther zu dominieren, heran über den Ural Rußlands, und es beginnt im asiatischen Raum das Dominieren des Wärmeäthers, des Feuers. Der Raum, auf den wir schauen bei unseren Betrachtungen, hat aber die Eigenart, daß hier alle vier Ätherarten Zusammenkommen. Und in dem Buch von Wachsmuth über die ätherischen Bildekräfte gibt es eine Zeichnung dieses nordischen Raumes, die er zusammen mit Rudolf Steiner besprochen hat, und da sieht man, wie über Dänemark und Norddeutschland auch der Lebensäther des Westens hereinwirkt zusammen mit dem chemischen Äther, und wie über Norwegen und Schweden mit dem Lichtäther auch hereinströmt der Wärmeäther. Der Ostseeraum war auch in dieser Hinsicht ein repräsentativer Ort innerhalb der Erde, so daß es einen nicht verwundern muß, wenn aus diesem Ort heraus sich auch ein repräsentatives Element des Mysterienwesens versammelte.

Solche Mysterienregionen haben Kinder, haben Ableger. Es spiegelt sich das, was sich in einer solchen Mysterienregion abspielt, herein im kleinen in andere Regionen. Es spiegelt sich so herein, wie wenn es Nachkommen wären, wie Kinder dieses Raumes, die dann weiterwachsen werden in die Zukunft. Und es sind vor allem zwei Bereiche, auf die wir da schauen. Der eine Bereich ist der Bodenseeraum. Der Bodenseeraum ist ein Mysterienkind des ganzen Ostseeraumes, vorgesehen dafür, daß sich da in der Zukunft in ihm abspielen werden jene Mysterien, die sich anknüpfen an die Wesenheit, die wir Kaspar Hauser nennen. Die Kaspar Hauser-Mysterien werden die Zukunft des Bodenseeraumes sein. Und der andere Abkömmling ist die ganze Oberrheinebene mit eben jenen Mysterien, die ausgehen sollen vom Goetheanum. Beides sind die Verwandtschaften zu dem, was hier im Norden mit einer ungeheuren Kraft blühte.

Das Wissen um diese Dinge ist untergegangen aus drei Gründen. Der eine Grund, daß – in uns allen und in den Menschen überhaupt – der Materialismus und auch der Darwinismus stärker gewirkt hat als wir meinen. Wir raffen uns bei spirituellen Betrachtungen auf, um zu sagen: Ja, nicht ist der Mensch aus der Erde entstanden, sondern die Erde ist aus dem Menschen heraus geworden! Aber dann wieder, im Alltag: wir hören von irgendwelchen archäologischen Funden, wir hören von vorgeschichtlichen Darstellungen, und es ist plötzlich wieder das alte materialistische Element da. Wir versuchen es sicher zu überwinden, und versuchen es sicher, jeder für sich auch auf seine Art, Ernst zu machen mit der Wirklichkeit des Geistes, aber in der Zeit dort draußen ist alles, was man einmal wußte, untergegangen. Man wußte noch im neunten Jahrhundert hier oben in Schweden, daß da unten in Spanien die Mysterien von Santiago de Compostela begründet wurden. Und wenige Jahre nachdem es dort begonnen hatte, waren schon die ersten Pilger aus dem Norden da unten in Spanien. Da war keine Post notwendig, Television oder Radio. Man wußte es. In den hellsichtigen Fähigkeiten, die sich ja gerade im Norden noch länger als irgendwo erhalten hatten, wußte man, was dort geschah und sagte: Wir gehen jetzt da hin.

Aber wie gesagt, das alles ging unter. Es ging unter aus dem Grund, weil nun, das sei ja nicht anklagend gesagt, die Kirche alle Erinnerungen an das Mysterienwesen unterdrückte. Das begann ja schon damit, die Gnosis zu verketzern, die nichts anderes war als der Versuch, mit alten Mysterienmitteln das Christentum zu begreifen. Und es ging weiter. Das alte Mysterienwesen wurde als heidnisch verschrien und wo es ging wurde es ausgerottet, wir werden das hier noch für diese Gegend hören. Aber es gab auch einen dritten, ernsteren Grund, und das ist der, daß – aus Gründen, die uns jetzt nicht zu beschäftigen brauchen – der Zusammenhang zwischen den Planeten zerbrach: Das, was durch Äonen hindurch von der Sonne verwaltet und im Gleichgewicht gehalten wurde und was bis dahin ein gemeinsames Bewußtsein hatte, löste sich voneinander, trennte sich vom neunten nachchristlichen Jahrhundert an, und so begann auch diese alte Fähigkeit zu verglimmen, daß man in einem Mysterienbezirk noch selbstverständlich vom anderen Tempelbezirk wußte.

Nun zu unserer Region. Was ist das, eine Mysterienregion, die ja zwischen den Tempelbezirken mit ganz klar charakterisierten Eigenschaften und den gewaltigen alten Mysterienkontinenten steht? Das Charakteristische einer Mysterienregion ist immer dies, daß sie ein übergreifendes Prinzip pflegt, entwickelt, erweitert, das später in den unterschiedlichen Religionen und Mythologien ganz differenziert erscheint. Wir haben das Charakteristische hier auf Rügen wie in einem großen Paradebeispiel, wie da aus zwei religiösen Bereichen etwas erscheint, was ursprünglich im Mysterienwesen der Ostsee eine Einheit gewesen war. Da haben wir Im Norden dieser Insel, auf Kap Arkona, stehen das Standbild des höchsten Gottes des baltisch-slawischen Raumes: des Swsewit – Swantewit, wie man es jetzt schreibt. Errichtet war eine kolossale Säule eines Gottes mit vier Gesichtern nach allen Seiten, die höchste Gottheit, wir werden noch sehen warum, des baltisch-slawischen Raumes. Und dicht daneben haben wir, das wird ja besucht werden zum Dank der Tagungsleitung, die Weihestätte der Nerthus, der Gottheit des germanisch[-]nordischen Raumes, auch in einer gewissen Weise einer höchsten Gottheit, als Herthasee längst banalisiert – darauf weist Rudolf Steiner hin, das hat mit Hertha nichts zu tun, das war der See der Nerthus. Es kreuzten sich die Dinge scheinbar hier, in Wirklichkeit waren sie der Niederschlag dessen, was ursprünglich das gemeinsame, übergreifende Mysterienprinzip des ganzen Ostseeraumes gewesen war.

Und schauen wir uns jetzt dieses gemeinsame Prinzip an. Und da kommen wir zu den erwähnten Darstellungen, die Rudolf Steiner gibt in Dornach. Er nimmt wieder, wie wir sagten, das Erdenwesen ganz spirituell, ganz geistig. Und er spricht davon, daß, gerufen durch den nordischen Volksgeist aus den atlantischen Wassermassen, ein Wesen, ein Geistiges herüberkam als Nordsee, sich hereinerstreckte als Ostsee mit den drei Fühlhörnern als Busen: dem baltischen, finnischen, bottnischen Busen, sich sozusagen in das Land hinein erstreckte. Ein geistiges Wesen ist die Ostsee, auf die wir schauen, ein hohes hierarchisches Wesen, bestehend aus zahllosen untergeordneten Geistwesen, Elementarwesen, Wasserwesen. Ein Reich, ein Geistesreich, im Bewußtsein zusammengefaßt durch eine große Wesenheit. Und deshalb legte ich Wert darauf, diese zweite Zeichnung im Bewußtsein zu haben, wo sich dieses Wesen über Irland, England oder um Irland, England herum erstreckt durch die Nordsee und sozusagen seinen Bewußtseinspol in der Ostsee findet, denn dieses Wesen wird von Rudolf Steiner genannt der Inspirator der europäischen Menschheit. Dieses Meereswesen enthält alles, was geistig ist in der europäischen Menschheit.

Trummler schreibt in einem schönen Aufsatz über den Ostseeraum in der Gäa-Sophia 1929: Viel entscheidender als das Mittelmeer ist die Ostsee für die ganze europäische Menschheit. Die Ostsee ist eigentlich die große Inspirationsquelle der europäischen Geistigkeit, der europäischen Menschheit. Aber dann folgt eine merkwürdige Formulierung Rudolf Steiners, die uns auf wichtige Wege bringen wird, auch bis zum Ende dieser Tagung. Er sagt etwa: Würden wir uns diesem Wesen ganz hingeben, dann würden wir alle vollkommen hellsichtig werden, aber, fügte er hinzu, das ist nicht die Aufgabe der europäischen Menschheit, nur hellsichtig zu werden, sondern wir müssen das entwickeln, was über die Hellsicht so hinausragt wie Inseln über einen Meeresspiegel hinausragen. Und nun kommt er auf England zu sprechen, das da einen ersten Bewußtseinsaufriß bildet bis herüber zu den Landmassen, und es folgt eine ausgedehnte Schilderung, wie das Bewußtsein von Menschen geprägt wird durch das Verhältnis von Wasser und Land, von geraden Küsten und von durch Inseln aufgelockerten Küsten und so weiter.

Er nennt nun dieses Meereswesen einen Meeresdrachen. Und man möchte ja nun wirklich an dieser Stelle immer wieder von neuem stutzig werden: Warum ist der Inspirator der europäischen Menschheit, dieses Wesen, das alles enthält, was geistig ist in der europäischen Menschheit, ein Drache? Ist der Drache denn nicht für uns das Bild aller Gegenkräfte? Schauen wir nicht immer wieder den Kampf Michaels mit dem Drachen, wo Michael den Drachen besiegt, unter seine Füße tritt? Wieso ist dieser Meeresdrachen so wichtig für Europa?

Rudolf Steiner hat viel mehr, als man manchmal meint, über das Mysterium des Drachen gesprochen. Ich habe das versucht in dem kleinen Büchlein über den Michael-Gedanken einmal zusammenzustellen. Er blickt hin auf die alte Menschheit, und er sagt, natürlich, in der alten lemurischen Zeit hatte der Mensch einen Drachenleib, molchähnlich. Der Leib des lemurischen Menschen war ein Drachenwesen, wo alles das, was später einmal Denken, Fühlen, Wollen wird, chaotisch durcheinandergeht. Und dann kommen jene gewaltigen Schilderungen, wo Rudolf Steiner zeigt, wie da vor dem Mysterium von Golgatha schon Taten geschehen sind aus der geistigen Welt, wie das Wesen, das einmal der Jesus von Nazareth wird als der nathanische Jesus, wie dieses Wesen herabsteigt, immer von neuem durchglüht und durchleuchtet von der Christuswesenheit, und drei große Opfertaten vollbringt, die dritte dieser Opfertaten ist die Befriedung der Chaotisierung von Denken, Fühlen und Wollen, die Befriedung des Drachen. Aber diese Befriedung des Drachen hat einen eigentümlichen Charakter. Es sind die Vorträge über Christus und den heiligen Gral,4) wo er sagt, dieser engelartige Jesus mußte selber Drachenform annehmen, um den Drachen zu veredeln, und dadurch, daß er diese Form annahm, erzog er den Drachen. Und das heißt, die Erziehung des Drachen, das Hineinschlüpfen in die Haut des Drachen, ist die fernere Aufgabe dieser Wesenheit, die wir den nathanischen Jesus nennen. Aber dadurch geschah etwas. Dadurch, daß diese Durchdringung stattfand, ist der Drache Träger geworden von vielen Offenbarungen, die in den Kulturen der nachatlantischen Zeit sich geltend machen. Statt Chaos kam durch den Drachen die Urweisheit der nach atlantischen Zeit. Das Drachenblut hat der Jesus benutzt, damit der Mensch Träger würde der göttlichen Weisheit. Und so schauen wir gleichsam mit neuen Augen, mit einem ganz neuen Verständnis, hin, wie hier ein Wesen auftaucht aus der alten atlantischen Zeit, in der sich dieses dreifache Christusopfer vollzogen hat, wie ein Wesen auftaucht in Drachenform, gleichsam voll von Urweisheit, und Inspirator wird all dessen, was nun in der nachatlantischen Zeit sich in Europa abspielt.

Um das etwas mehr zu verstehen, schauen wir hin, wie sich denn überhaupt im Geschichtsraum unser Ostseeraum gestaltet hat. Und wenn Arne Klingborg noch die Zeit vergönnt ist, wird er für eine spätere Tagung mindestens zwölf Tafeln zeichnen, wie der Ostseeraum in verschiedenen Mysterienzeitaltern bis in eine ferne Zukunft hinein aussehen wird. Wir sehen hin in die atlantische Zeit, wir sehen, wie die Perioden ablaufen der Urtolteken und Rmoahals und so weiter, kommen in die vierte, mittlere Zeit und hören aus den geisteswissenschaftlichen Darstellungen Rudolf Steiners, wie da in der Mitte der atlantischen Zeit eine große Auswanderungswelle beginnt. Man möchte sagen, der ferne Untergang der Atlantis zeichnet sich bereits ab, und die größten Eingeweihten, vor allem der Manu, schicken die wertvollsten Kräfte aus der Atlantis heraus und begeben sich mit ihnen auf eine Jahrhunderte oder Jahrtausende dauernde Wanderschaft durch Nordeuropa hindurch bis nach Asien hinein. Auf dieser Wanderschaft kommen die edelsten Teile der atlantischen Bevölkerung durch diese Gegend und stoßen hier auf die Nachfahren der hyperboräischen Bevölkerung. Man darf sich das alles natürlich nicht zu anthropomorph und zu physisch vorstellen. Das Physische war damals sehr, sehr leicht und in Wasserform und in Nebelform und in Gasform und in Feuerform; das Geistige lebte darin, durchaus, aber es war nicht so fest, so penetrant bürgerlich ordentlich, es war ein Gewoge. Aber es war doch so, daß ein Teil dieser atlantischen Bevölkerung in dieser Region sich verband mit diesen edlen Sonnenabkömmlingen der frühen Menschheit der Hyperboräer. Weiter zog der Strom bis zu jenem großen Zentrum, aus dem dann die ganzen nachatlantischen Kulturen sich entwickeln, von dem wir sagen, es lag in der Wüste Gobi, von der wir heute wissen, daß es gar keine Wüste war, sondern ein blühendes, paradiesisches Land. Und dann gab es eine zweite Auswanderungswelle am Ende der atlantischen Zeit. Wieder brachen bestimmte Menschenscharen auf, bevor die ganze Atlantis unterging, und zogen gleichsam dem ersten Strom nach, kamen durch diese Region und verbanden sich mit den Menschenarten, die sich gebildet hatten bei dem ersten Durchzug. Und in diese Region hinein kam nun aus dem Zentrum, aus der Wüste Gobi, durch den großen Manu der Auftrag, das zusammenfassende Prinzip dieser Region. Die Ostseemysterien waren bis dahin wie in Vorbereitung gewesen, hatten im Ineinander der geschilderten Mysterienarten, durch den Ausgleich der Sonnenmysterien, durch das Gemeinsame der Ätherarten etwas wie eine Grundlage geschaffen, auf der jetzt der Auftrag des Manu erfolgen konnte.

Und dieser Auftrag des Manu – wenn man ihn so formuliert wie Rudolf Steiner ihn formuliert, könnte man leicht stutzig werden: Worum ging es bei den Ostseemysterien des ersten, zweiten, dritten nachatlantischen Zeitraums, also der urindischen, urpersischen und der urägyptischen Zeit? Es ging um die Heiligung der Persönlichkeit.

Man muß das verstehen! Was waren denn die alten Menschenformen gewesen? Wir reden da sehr leicht von Gruppenseele und Gruppengeist, und wir sprechen sehr leicht davon, und mit vollem Recht, daß sie überhaupt kein mündiges Ich hatten und keine Freiheit, nur Ich-Anlagen. Die Menschen waren wie Stämme, wie Gruppen; wie Trauben hingen sie aneinander. Menschen dieser Art hätten niemals die Christus-Wesenheit aufnehmen können. Und so ging von dem Manu aus dieser große Auftrag gerade an diese nordischen Mysterien: die Persönlichkeit zu betonen, ja die Persönlichkeit zu heiligen, hinzuwirken, daß der Mensch ein bewußtes Ich wird, ein Ich, das fähig ist, einmal die Christus-Wesenheit aufzunehmen, denn, so sagt Rudolf Steiner, das Christentum ist eine uralte Angelegenheit. In allen Mysterien wußte man, daß heruntersteigen wird der Sonnengeist als Träger des Logos und in einem Menschen wohnen wird und daß dadurch die Möglichkeit entsteht, daß jeder Mensch ihn aufnehmen kann. Und so begann in dieser nordischen Welt jene Mysterienentwicklung, die wir so schön kennen aus der nordischen Mythologie. Am allerschönsten, so sagt Rudolf Steiner, kommen die Geheimnisse der Weltentwicklung in der nordischen Mythologie zum Ausdruck.

Wir müssen aber, um da uns hereinzutasten, noch einen kleinen Einschub machen. Ich sagte, da zog der große Auswanderungsstrom durch Nordeuropa hindurch nach Asien. Es gab aber einen zweiten. Das war der südliche Auswanderungsstrom, der durch Afrika ging herüber nach Asien. Beide trugen große Einweihungsprinzipien mit sich, denn Atlantis war das Land, der Kontinent der Einweihung. Es bildete sich in Europa eine nördliche Einweihungsart und eine südliche Einweihungsart durch Afrika und den Mittelmeerraum hindurch. Sie sind sehr leicht zu charakterisieren. In beiden Einweihungsarten ging es darum daß der Mensch, die Individualität Anschluß findet an sein geistiges Urbild, an seine geistige Heimat. In den nordischen Mysterien, im nordischen Einweihungsweg führte die Einweihung durch die Welt hindurch, die Außenwelt hindurch, durchstoßend zu dem Geist und zu den Göttern. Im südlichen Einweihungsstrom führte der Weg nach innen. Der Mensch schloß sich ab von der äußeren Welt, tauchte ein in das Seeleninnere, durch das Seeleninnere hindurch zur geistigen Welt. Und es besteht nun die merkwürdige Eigenart, daß an einem Punkt Europas beide Ströme sich berührten. Und das ist jener Bereich, den ich einen Ableger nannte dieses nordischen Raumes: der Elsaß, der Odilienberg der große Tempelbezirk des Odilienberg. Dort trafen beide Einweihungsarten aufeinander. Und Sie können es mit Händen greifen, wenn sie wollen – oder zumindest mit den Augen, weil ein Zaun davor ist – wenn Sie auf dem Odilienberg oben am Abgrund stehen, dann sehen Sie zwei sogenannte Gräber nebeneinander. Das eine Grab ist viereckig, und man sieht ganz deutlich eine eingemeißelte Kante, damit ein Stein heraufgelegt werden kann. Das war die Art der südlichen Einweihung. Der Mensch wurde in einen solchen Steinbehälter gepackt, die Steinplatte wurde heraufgelegt, abgeschlossen von der Welt mußte er den Weg, wenn er nicht sterben wollte, durch das Innere hindurch zur geistigen Welt suchen. Dicht daneben, einen Meter entfernt, ein anderes Grab, ausgeschlagen in der Silhouette eines Menschen. Der Einzuweihende wurde hereingelegt und wurde überlassen dem Wetter, den Sternen, den Stürmen, dem Regen; er lag da in seinem Steinbehältnis und mußte den Weg finden hinaus durch die Außenwelt in die geistige Welt.

Die oberrheinische Mysterienregion, die durch das Goetheanum bestimmt wird und die eigentlichen Michaelmysterien entwickeln soll nach und nach, sie wird entwickeln ein Mysterienprinzip, das den nördlichen und den südlichen Strom miteinander vereinigt. Denn die Christus-Einweihung bedarf heute der Durchdringung beider Ströme in dem Menschen. Und das wurde nun auch wieder vorgebildet in gewisser Weise in diesem nordischen Raum, in diesem Ostseeraum, indem es da zwei unterschiedliche Neigungen gab: die südliche Hälfte das Baltikum herauf, Polen, Rußland, und die nördliche Hälfte, vor allem Schweden, Norwegen bis Finnland. Diese südliche Region der Ostseemysterien hatte die Neigung, den Geist zu suchen vor allem durch die Erdenwelt hindurch. Da finden wir die heiligen Haine, die heiligen Eichen, die heiligen Berge. Die Natur selbst, so wie sie einem erscheint, war das, durch das hindurch man die geistige Welt suchte. Im Norden hingegen war es mehr die Sternenwelt, es war mehr das Herausgehen, wir würden sagen: durch die Atmosphäre hindurch im Sternen-, im Nordlicht in den Planetenzügen. In dieser Außenwelt wurde gesucht der Geist. Und so versteht man, daß es zwei Gottheiten gab, die dieses Suchen repräsentierten. In allen baltischen Religionen bis herein in die urpolnische [-] wir reden immer von den vorchristlichen Zeiten – finden wir eine höchste Gottheit, mit wechselnden, aber sehr ähnlichen Namen, Perkunos, der Gewittergott. Und in diesem Gewittergott sahen die Menschen das Abbild dessen, was wir nennen würden: der makrokosmische Mensch, getragen von der ersten Hierarchie. Wie aus dem Weltenfeuer heraus die Blitze zucken, wie die Donner rollen in den Wolken, wie durch Seraphim, Cherubim und Throne der makrokosmische Mensch hingestellt wird. Der Gewittergott als Ausdruck dessen, was der Mensch im Kosmos sein soll. Und im Norden: Ymir, der Riese – der Tierkreis, der makrokosmische Mensch; wieder sagte Rudolf Steiner: Wie getragen von der ersten Hierarchie, von Seraphim, Cherubim und Thronen, die Sternenwelt im Tierkreis sich verdeutlicht.

Aus diesem Hintergrund nun entsteht das, was uns nun schon viel mehr liegt, die Heiligung der Persönlichkeit durch die Urlehrer. Gewaltige geistige Wesen stiegen herab von den Sternen, stiegen von der Venus, stießen vom Merkur herab und hießen dann später Thor und Odhin und Freyr. Thor, einer der gewaltigsten Engel, die es gab, der verzichtet hatte, aufzusteigen zum Erzengel, um ein Vermittler zu sein zwischen Mensch und Erzengelwesen: er gab den Menschen das Ich, die Ichmöglichkeit, das Erfassenkönnen des Ich. Odhin, einer der größten Erzengel des Kosmos: er gab dem Menschen das Seelenwesen mit der Sprache. Die Winde – so sagt Rudolf Steiner – die Winde um ihn drücken aus das Luftelement der Sprache. Und Freyr, die Gottheit, die jedem Menschen die Erdenfähigkeiten gab. Wir werden ihnen wiederbegegnen, wenn wir am Ende auf die Zukunft der nordischen Mysterien blicken und ja gar nicht umhin können, wenn wir den Übergang suchen vom fünften zum sechsten nachatlantischen Zeitraum, hindurchzugehen durch die Götterdämmerung, durch den Tod von Thor und Odhin und Freyr, durch den Weltenbrand. Jetzt sind sie da als Urlehrer in diesen Mysterien. Sie prägen die Persönlichkeit, sie heiligen die Persönlichkeit.

Kehren wir noch einmal zu unseren beiden Repräsentanten zurück. Da erkennt man die Gottheit des Swantewit immer an einem Füllhorn. Und wie wir von den Kulten wissen, so war es immer so, daß dann zu den Kultfesten dieses Füllhorn mit Wein gefüllt wurde oder mit Opfergaben. Wir schauen hin, wie auf ein Symbolum von etwas, das sich erfüllen soll in Zukunft. All diese vorbereitenden und das aufnehmende Ich entwickelnden Mysterien haben solche Symbole, auch der berühmte Kessel von Gundestrup gehört dazu und die vielen anderen Kultkessel. Es ist das, was Schale bildet, was Aufnehmendes bildet. Swantewit, der Raumesgott mit seinen vier Gesichtern, eigentlich die Gottheit dieser Erde. Er ist es, der das Aufnehmende bildet hin zum Mysterium von Golgatha. Und Nerthus? Nerthus geht eigentlich, so sagt Rudolf Steiner, zurück bis auf die lemurische Zeit, als die Seelen aus den Planeten zurückkehrten auf die Erde und die Leiber bezogen. Nerthus ist der Gott, der die Seele hineinführt in das Erdengefäß, in das Leibesgefäß, daher der Wagen, der im See versenkt wird. Daher die Tötung der Sklavinnen, die Nerthus begleiten, weil sie zu früh in die Sinneslust eingetaucht sind. Zwei gewaltige Götterbilder! Sie haben ihre Spuren hinterlassen, denn Swantewit ist immer noch zu finden auf Rügen. Nerthus auch. Nicht im Touristenbus aber in jener Atmosphäre, die wir den lebendigen Akasha nennen. Das war alles, was hinführen sollte, damit die Seelen fähig wurden, die Christuswesenheit aufzunehmen.

Und dann kam das Christentum, und mit dem Christentum die Zerstörung alles Heidnischen. 1268 erobert Waldemar I. von Dänemark Rügen, das noch ein freier Bereich war, und er zerstört dieses bis dahin erhaltene große – grobe, wenn man so will – Götterbild des Swantewit. Und so finden wir das ja auf ganz Europa hin, das Mysterienhafte, weil angeblich Heidnische wird ausgerottet. Aber was tut es? Es dringt von unten herein in das Christentum ein. Und gerade in dem nordischen Bereich nimmt das Christentum einen Charakter an, eine innere Lebendigkeit, eine Empfindsamkeit, die gar nicht zu erklären ist, so sagt Rudolf Steiner, als wenn man sieht, wie da die alten Mysterienempfindungen sich da jetzt der christlichen Inhalte bemächtigen.

Über allem schwebt ein großes gewaltiges Bild: für alles, was wir betrachtet haben, gab es ein Bild, weit über der Erde, hinein in den ätherisch-geistigen – einen Mysterienort ein Inspirationszentrum. Das ist das, was die Alten Asgard nannten. Asgard war nicht auf der Erde, Asgard lag in der geistigen Welt und von diesem nordisch-geistigen Inspirationszentrum, da gingen Impulse aus. Da ging vor allem jener Impuls aus, sagt Rudolf Steiner, der dem nordischen Erzengel seine Aufgabe gab. Und der nordische Erzengel gab diese Aufgabe weiter, verteilte sie, an die Erzengel der westlichen, mittleren und nordischen Völker. Von Asgard aus strömte, was die Aufgabenstellung der europäischen Erzengel war. Und Asgard hatte unten auf Erden jene zwei Orte, die den Zugang bildeten. Der eine Ort ist bekannter, das waren die Externsteine, der Irminsul. Und der andere Ort war Rügen. Beide liegen ja, wenn wir die ganze Mysterienregion anschauen, gar nicht weit voneinander entfernt.

Und nun kam jener Augenblick in der nachchristlichen Entwicklung, wo zunächst die Wirkungen von Asgard aufhören und übergehen mußten an ein anderes übersinnliches Inspirations-Zentrum, an das Zentrum des heiligen Gral. Das wurde auf der Erde eingeleitet dadurch, daß ein Mensch, der meist sehr verkannt wird in der Geschichte, weil er meist nur völkisch beurteilt wird, der ein großer Eingeweihter war mit einem großen Auftrag, daß durch Karl den Großen die Irminsul zerstört wird. Die Zerstörung der Irminsul bei den Externsteinen war das physische Abschließen der vorchristlichen Mysterien, die hingewirkt hatten auf die Vorbereitung des Gefäßes für den Christus. Und über ging das Evolutionsgeschehen an das Gralszentrum, in dem nun gelehrt wurden die Geheimnisse wie der Christus das Gefäß der geheiligten Persönlichkeit erfüllen kann. Die großen Bilder setzen sich fort: Swantewit mit dem Füllhorn, der Kessel, das Gefäß, dann geht es herüber zum Gral, die Perle in der Muschel, jeder Pilger, der dort hinzog nach Nordspanien, nach Santiago de Compostela, was ja nur die äußere Maya war für die Gralsmysterien, trug die Muschel am Hut. Als Zeichen dafür, daß er die Perle sucht – die Perle ist immer das Zeichen des Logos gewesen in der mittelalterlichen Mythologie: Er sucht die Perle. Es erfüllt sich, was durch den Manu vorbereitet wurde in diesem Raum.

Und nun die große Frage, mit der man ja das Ganze zunächst enden läßt. Wir können es uns in einem einfachen Schema verdeutlichen.

Da oben in der geistigen Welt: Asgard. Das Mysterium von Golgatha spielt sich ab auf Erden. Es geht die Wirksamkeit über auf den Gral. Hier Heiligung der Persönlichkeit, die Schale, das Horn, hier die Erfüllung der Persönlichkeit. Und nun taucht die Frage auf, nicht zeitlich, sondern von diesen beiden großen Mysterienorten her gesehen: Das, was da durch das Mysterium von Golgatha herüberging zum Gral – wie wird es zurückwirken neu auf die Mysterien von Asgard? Das ist die Frage, die Rudolf Steiner mit großem Ernst berührt. Er hält ja drei Vorträge über die spirituelle Zukunft von Norwegen und Schweden und spricht an vielen anderen Stellen über die Sorge: Werden die alten Mysterien, die Asgard-Mysterien den Weg finden, sich durch die Gralsmysterien, durch das Christentum in die Zukunft hinein zu erneuern? Wird es ein durchchristetes Asgard geben in die Zukunft hinein?

Viele von Ihnen wissen, daß diese Frage verbunden ist mit dem rätselhaftesten aller nordischen Geister, mit Widar. Sie ist nicht leicht zu beantworten, die Frage. Aber sie wird vor uns stehen müssen, wenn wir nicht – und darüber wird zu sprechen sein – in unzeitgemäßer Weise fortsetzen, was einmal so berechtigt hier gewirkt hat und dadurch uns selbst den Untergang bereiten. Wird die europäische Menschheit den Weg finden, ihre Ostseemysterien überzuführen in eine durchchristete Zukunft?

Zur Beantwortung dieser Fragen werden ja auch die anderen Freunde beitragen. Ich habe diese erste Tagung der Ostseemysterien immer empfunden als durchkraftet von einer Frage, auch durchsorgt von einer Frage.

3) Rudolf Steiner, Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt, GA Bd. 158
4) Rudolf Steiner, Christus und die geistige Welt. Von der Suche nach dem heiligen Gral, GA Bd. 149

Das frühe Amerika und der Ostseeraum – Virginia Sease

Das frühe Amerika und der Ostseeraum
Virginia Sease

Das frühe Amerika wollen wir als die Jahrhunderte vor Christopher Kolumbus‘ Entdeckungsreisen auffassen. Als Rudolf Steiner im November 1917 über frühe Schiffahrten nach Amerika sprach, bezog er sich auf Reisen vor der Fahrt von Erik dem Roten aus dem heutigen Norwegen, die um 982 n.Chr. gewöhnlich datiert wird. Damit hat Rudolf Steiner selber betont, daß seine Ausführungen als wahrscheinlich sonderbar empfunden würden, weil die Anwesenden so etwas in der Geschichte niemals gehört hätten. In den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts aber ist ein immer regeres Interesse für diese frühen Zeiten wahrzunehmen, und es sind sogar sehr kontroverse Auffassungen unter den Forschern vorhanden. Interessant, obwohl sehr umstritten, ist die Deutung von Professor Barry Fell (Harvard University) in seinem Buch America B.C. Ancient Settlers in the New World, der an hand von Petroglyphen, die in der Nähe von Peterborough, Ontario, Canada im Jahre 1954 entdeckt wurden, behauptet, daß nordische Seefahrer sehr früh in dieser Gegend anwesend waren. Er bezieht sich zum Beispiel auf ein Petroglyph von einem Sonnenschiff, das die Sonne über den Himmel trägt, ähnlich wie das berühmte Sonnenschiff-Petroglyph von Bohuslan in Schweden. Auch zwischen den bildlichen Darstellungen meint Barry Fell Schriftzeichen aus der Tifinagschrift, einer frühnordischen Schrift zu erkennen, die er auch entziffert, zum Beispiel Odhin in Tifinag als Nanir Woden, »Thor greift seinen Hammer Mölnir« oder »Mölnir und Glofi, wehe der Schlange ihrer Kraft«.5) Die Forscher, die seine Deutungen bezweifeln, meinen unter anderem, daß solche primitiven Schiffbauten eine Atlantikfahrt nicht hätten durchhalten können.

Wann immer die ersten Europäer nach Nordamerika kamen, können und müssen wir offen lassen, aber eine Überlegung in der ganzen Fragestellung ragt in seiner Bedeutung hervor: Die Menschenbegegnungen, die stattfanden, bedeuteten erste Rassenbegegnungen in der nachatlantischen Zeit. Merkmale der nachatlantischen Rassen beschrieb Rudolf Steiner am Anfang dieses Jahrhunderts. Das konnte in einer Zeit geschehen, die noch nicht durch die schwierige Geschichte dieses Jahrhunderts so belastet war. Heute ist es kaum möglich, das Wort »Rasse« zu erwähnen, ohne mögliche Mißverständnisse und Vorwürfe zu erwecken. Warum ist dies der Fall? Selbstverständlich ist ein Grund unter anderen der Zweite Weltkrieg. Interessant ist aber, daß trotz der mächtigen Ausbreitung der Idee der Reinkarnation, besonders seit den sechziger Jahren, die wirkliche Realität dahinter überhaupt nicht begriffen worden ist. Einfach formuliert: die Individualität taucht unter in eine Leiblichkeit hinein, benutzt die Leiblichkeit, um sich eines irdischen Lebensgefäßes zu bedienen, erfährt vieles durch die irdisch bedingte Beschaffenheit der Leiblichkeit, was dann als bleibendes Ergebnis der Inkarnation der Individualität zugute kommt.

Wir können ein Beispiel aufgreifen, um die verschiedenen Qualitäten der Empfindungen nachzufühlen, das Rudolf Steiner in einem Vortrag vom 1. September 1906 darstellt. Dieses Beispiel wird durch einen Satz von Rudolf Steiner eingeleitet, wodurch wir verstehen können, daß die Beschreibung sich nur auf die Leiblichkeit und nicht auf die ewige Individualität bezieht: »… die Indianer, in denen wir die in der Kultur stehengebliebenen und dadurch zurückgekommenen Nachkommen der Atlantier zu sehen haben.« Dann erfolgt ein Gespräch zwischen einem Indianer-Häuptling und einem Europäer. Der Indianer konnte nicht verstehen, wieso ein Versprechen nicht gehalten wurde. »Der Indianer sagte: Ihr Bleichgesichter habt uns versprochen, daß euer Häuptling unseren Brüdern anderes Land anweisen werde, nachdem ihr uns dieses genommen habt. Eure Füße stehen jetzt auf unserem Land und gehen über die Gräber unserer Brüder. Der weiße Mann hat sein Versprechen dem braunen Manne nicht gehalten. Ihr Bleichgesichter habt schwarze Instrumente mit allerlei kleinen Zauberzeichen – gemeint sind Bücher – und aus diesen lernt ihr erkennen, was euer Gott will. Das muß aber ein schlechter Gott sein, der die Menschen nicht lehrt, ihr Wort zu halten. Der braune Mann hat nicht einen solchen Gott, der braune Mann hört den Donner und sieht den Blitz, und diese Sprache versteht er; da spricht sein Gott zu ihm. Er hört im Walde das Rauschen der Blätter und Bäume, auch da spricht sein Gott zu ihm. Er hört die Wellen im Bach plätschern, und dann versteht der braune Mann diese Sprache. Er spürt, wenn sich ein Sturm erhebt. Überall hört er seinen Gott zu ihm sprechen, und dieser Gott lehrt etwas ganz anderes, als was euch eure schwarzen Zauberzeichen sagen.«6)

Dieses Gespräch geschah ungefähr 1000 Jahre nach der Zeit, die wir anschauen. Rudolf Steiner beschreibt in großen Zügen, wie allerlei Entwicklungsstufen in der atlantischen Zeit geschahen. In den Indianern kann ein wichtiger Auswanderungszug vom atlantischen Kontinent nach dem Westen hinüber gesehen werden. Rudolf Steiner erwähnt, wie deren letzte »Nachzügler« bei der Entdeckung des amerikanischen Kontinents angetroffen wurden.

Es gab auch Gruppen, die nach Afrika auswanderten und andere, die nach Asien gingen. Wichtig für unsere Tagung ist auch das Folgende: »Die am letzten ausgewanderten, das waren diejenigen Menschen, die in der Nähe des heutigen Irland wohnten, und die sich am längsten schmiegsam erhalten hatten, die sich sozusagen am längsten im Paradiese erhalten hatten. Sie wanderten vom Westen nach dem Osten und ließen überall auf dem ganzen Umfange des europäischen Kontinents gewisse Völkerschaften zurück.«7)

In unserer Betrachtung schauen wir nicht auf den Bevölkerungsstrom, der nach dem kontinentalen Nordamerika über die Beringstraße herüberkam, der oft als die Urmongolen bezeichnet wird und deren Nachkommen in den Eskimos und in den Indianerstämmen im Westen von Amerika zu finden sind.

In welchen physisch-ätherischen Verhältnissen lebte die frühere Bevölkerung von Nordamerika? Nach eingehenden Gesprächen mit Rudolf Steiner hat Guenther Wachsmuth eine rohe Gliederung der Erde nach den Ätherarten entworfen. Natürlich sind alle Elemente und alle Ätherarten an jedem Teil der Erde vorhanden. Zuerst aber um die Verhältnisse zwischen den Ätherarten, den Elementen und den Kräften der Unternatur gründlicher zu überblicken, sei auf die Studien von Ernst Marti hingewiesen, der Rudolf Steiners Angaben eingehend erforscht hat.8) Für unseren Zweck darf eine kleine Skizze zur Orientierung angeführt werden.

  • Lebensäther
  • Klangäther
  • Lichtäther
  • Feuer = Wärmeäther
  • Erde
  • Luft
  • Wasser
  • Elektrizität
  • Magnetismus
  • Kernkraft, »Dritte Kraft« (Rudolf Steiner)

Wenn wir von der Mitte ausgehen, ist das Verhältnis zwischen dem Element und der Ätherart für uns am deutlichsten, indem das Feuer sich mit dem Wärmeäther zusammenfügt (alter Saturnzustand), dann sehen wir die Luft im Zusammenhang mit dem Lichtäther (alte Sonne), das Wasser mit dem Klangäther, dem chemischen Äther (alter Mond) und die Erde mit dem Lebensäther (Erdenzustand).

Nun aber gibt es noch etwas, was wir nicht außer Betracht lassen können: die Kräfte der Unternatur. Sie haben auch ihre Verhältnisse zu den Ätherarten, und dieses Gebiet wird besonders wichtig für eine Betrachtung von Nordamerika. Rudolf Steiner beschreibt diese Verhältnisse so: »Das Licht zerstört sich innerhalb unseres nachatlantischen Erdenprozesses. Bis in die Atlantis hinein war der Erdenprozeß ein fortschreitender, seither ist er ein zerfallender. Was ist das Licht? Es zerfällt, und das zerfallende Licht ist Elektrizität. Was wir als Elektrizität kennen, das ist Licht, das sich selber zerstört innerhalb der Materie. Und die chemische Kraft, die innerhalb der Erdenentwickelung eine Umwandlung erfährt, ist Magnetismus. Und noch eine dritte Kraft wird auftreten. Und wenn den Menschen heute schon Wunder wirkend die Elektrizität erscheint, so wird diese dritte Kraft in noch viel wunderbarerer Weise die Kultur beeinflussen. Und je mehr wir von dieser Kraft anwenden; desto eher wird die Erde zu einem Leichnam werden …« In demselben Vortrag auf die Frage: Was sind chemische Kräfte und Stoffe im Verhältnis zur geistigen Welt? antwortet Rudolf Steiner: »… Wenn man den Chemismus noch weiter hinunterstößt als unter den physischen Plan, in die schlechte untere devachanische Welt, entsteht Magnetismus, und wenn man das Licht ins Untermaterielle stößt, also um eine Stufe tiefer als die materielle Welt, entsteht die Elektrizität. Wenn wir das, was lebt in der Sphärenharmonie, noch weiter hinabstoßen bis zu den Asuras, dann gibt es eine noch furchtbarere Kraft, die nicht mehr lange wird geheim gehalten werden können. Man muß nur wünschen, daß, wenn diese Kraft kommt, die wir uns viel, viel stärker vorstellen müssen als die stärksten elektrischen Entladungen, und die jedenfalls kommen wird – dann muß man wünschen, daß, bevor diese Kraft der Menschheit durch einen Erfinder gegeben wird, die Menschen nichts Unmoralisches mehr an sich haben werden.«9)

Die Gliederung der Erde nach Guenther Wachsmuth zeigt, wie eine Ätherart mit dem korrespondierenden Element an einem Erdteil vorwiegend sein kann. Wenn wir hier von unserem Standort (Rügen) ausgehen, dann erleben wir in Mitteleuropa vorwiegend Lichtäther/Luft, und mehr nach dem Westen, nach dem Atlantik zu, Klangäther/Wasser, aber mit einem breiten Spektrum der Durchdringung. Gehen wir über den Atlantik hinüber nach Amerika, kommen wir in den Bereich von Lebensäther und dem erdigen Element. Diese Verhältnisse erstrecken sich hinüber bis zur Westküste von Amerika, wo dann die Prägung durch Wärmeäther/Feuer von der Westküste über den Pazifik bis nach Asien, nach Rußland hinübergeht.

In dem Vortrag von Manfred Schmidt-Brabant haben wir von einem anderen Gesichtspunkt, dem Durcheinanderfließen, gehört. Eine Gegend von Nordamerika ragt nach Guenther Wachsmuths Gliederung fast in den Klangäther, in das wäßrige Element hinein: Nova Scotia und Neufundland.10) Wenn Sie diese Gegend anhand von Landkarten anschauen, werden Sie entdecken, daß diese Uferkonturen den Uferkonturen in Westnorwegen und in Südgrönland sehr ähnlich erscheinen. Man könnte sich vorstellen, daß Grönland und dann weiter Neufundland und Nova Scotia fast wie eine Ätherbrücke für die frühen Seefahrer aus dem Nordland war. Sie sind aus dem Klangäther-Gebiet über das große Wasser hinübergelangt und waren stets etwas in Klangäther-Wasserverhältnissen, während der Hauptteil des nordamerikanischen Kontinentes vorwiegend durch die erdigen Verhältnisse, durch den Lebensäther geprägt ist.

Besonders in bezug auf den nordamerikanischen Kontinent hat Rudolf Steiner auf die elementaren Verhältnisse hingewiesen, nicht aber um die Geographie oder Geologie zu charakterisieren, sondern wegen der Geistigkeit der Erde. Er hat seine Ausführungen im Jahre 1917 als geographische Medizin, als das Geheimnis des Doppelgängers beschrieben.11) Es besteht oft die Frage, ob Rudolf Steiners Äußerungen diesbezüglich auch für Südamerika gültig sind. Durch die Persönlichkeiten (Ralph Waldo Emerson und Woodrow Wilson), die er als Beispiele anführt, wird es klar, daß es hauptsächlich um Nordamerika geht, obwohl die geographischen Merkmale auch für Mexiko und wenigstens für den Westen von Südamerika gültig wären. Zur Zeit des Ersten Weltkrieges war Rudolf Steiner immer wieder bemüht zu zeigen, wie die Erde selber differenziert ist, daß die östliche Halbkugel anders als die westliche Halbkugel ist. Und diese Differenziertheit ruft von sich aus verschiedene geistige Verhältnisse hervor.

In dem Vortrag in St. Gallen, 1917, wird betont, wie der Mensch nicht nur seinen Leib, seine Seele und etwas von seinem Geist innehat, sondern wie er seine Seele mit anderen Wesenheiten teilt; wie in diesem Seelenbereich auch außer den Einflüssen seines Engels oder des Erzengels seiner Familie oder seines Volkes noch etwas anderes hineinspielt, und zwar sogar auch nicht nur das, was er in die jetzige Inkarnation als sein »Karma-Paket« mitbringt, das in den Mysteriendramen als sein Doppelgänger dargestellt wird. Dieser Doppelgänger bedeutet alles dasjenige, was der Mensch aus seinem Gesamtkarma als den unverwandelten astralischen Rest verwandeln muß. Nicht nur spielt das alles in seine Inkarnation herein, sondern je nachdem, wo man auf der Erde lebt, hat man in sich als Teil seiner selbst auch eine Wesenheit, die eine starke Beziehung hat zur Geographie, zu dem Boden, auf dem man lebt. Es ist ein weiterer Doppelgänger, der einen durch das ganze Leben begleitet – ein geographischer Doppelgänger, der nicht mit dem Doppelgänger des Karmas zu verwechseln ist.

Während zwar alle Menschen einen geographischen Doppelgänger haben, sind manche Erdverhältnisse so, daß der geographische Doppelgänger besonders stark wirken kann. Der Doppelgänger vereinigt sich mit dem Menschen kurz vor der Geburt und verläßt ihn kurz vor dem Todesmoment. Durch das Mysterium von Golgatha ist es möglich, daß der geographische Doppelgänger nicht den Schritt durch den Tod mitmacht. Wenn das geschehen wäre, hätten diese geographischen Doppelgängermächte, die ahrimanische Mächte sind, einen großen, einen totalen Sieg über die Menschheit mit einem Schlag errungen.

Diese geographischen Doppelgänger kommen sozusagen durch die Erdkräfte in den Menschen hinein, sie leben stark im Verhältnis zu den geographischen Kräften auf der Erde. Sie leben stark im Willen des Menschen, sie leben stark auch im Intellekt des Menschen. Sie haben einen erdenstarken Willen und eine sehr hohe, ahrimanisch gespitzte Intelligenz. Was sie nicht besitzen, ist irgend etwas, was verwandt ist mit dem Gemüt. Das fehlt total. Und sie werden stark, so charakterisiert es Rudolf Steiner, wenn man selber die eigene Seele nicht ausfüllt. Also wo Lücken in der Seelengestaltung des Menschen da sind, ist sofort der geographische Doppelgänger sehr gerne zu Hause. Sie zeigen gewisse Geschmacksnaturen; sie wählen ihren Menschen aus je nach der Geographie, nicht nach dem Menschen selbst, sondern je nach der Geographie, in der der Mensch lebt. Und sie benützen dann den Menschen, um selber für die Lebenszeit eines Menschen sich inkarnieren zu können. Was sie besonders lieben, sind geographische Gestaltungen, wo die Bergketten nord-südlich verlaufen, das heißt in einem besonderen Verhältnis zum magnetischen Nordpol stehen. Rudolf Steiner beschreibt, wie eine sehr deutliche Gestaltung in dieser Hinsicht gerade in Nordamerika zu finden ist und daß dadurch der geographische Doppelgänger in Nordamerika besonders stark sein kann. Wenn man Nordamerika gliedert, sind an der Westküste entlang Gebirge. Sie reichen von hoch oben in Kanada südlich durch Kalifornien, durch Mexiko nach Südamerikas Westküste, sehr mächtige hohe Berge: die Rocky Mountains. Die Ostküste von Amerika aber hat auch eine mächtige Kette, nicht so hoch wie die Rocky Mountains, aber trotzdem ausgebreitet. Diese Kette, das Appalachen-Gebirge, läuft 2400 Kilometer lang ununterbrochen. Sie beginnt weit nördlich am St. Lorenz-Flußtal in Quebec und kommt herunter im Süden bis nach Alabama. Die Appalachen-Gebirgskette hat eine durchgehende Breite von 80 bis 100 Meilen im Norden und 300 bis 350 Meilen im Süden. Diese dicht bewaldeten Berge übten einen großen Einfluss auf die Siedlungsgeschichte von Nordamerika aus, da sie wie eine Mauer in Bezug auf eine westliche Ausbreitung der frühen Kolonisten wirkten. Aus diesem Grund hatten die ersten, ursprünglichen dreizehn Kolonien im 17. und 18. Jahrhundert genügend Zeit, sich zu konsolidieren. Die nord-südlich zum magnetischen Nordpol hin gerichteten Berge geben diesen geographischen Doppelgängerwesen die Leiblichkeit für die Bevölkerung in Amerika.

Nun, in Bezug auf den Ostseeraum erwähnt Rudolf Steiner, daß die frühen Menschen aus dieser Gegend nach Amerika mit einer bestimmten Absicht gekommen sind. Ihre Absicht haben sie schon sehr früh zur Verwirklichung gebracht, schon vor der Geschichte, die schon bekannt ist als die Wikingerfahrt des Leif Eriksson, der eine späte Erscheinung ist. Gegenwärtig ist in der wissenschaftlichen Welt eine große Kontroverse entstanden in Bezug auf die frühe Amerikaschiffahrt. Einige der Wissenschaftler sagen, vor dem Jahre zirka 900 n. ehr. waren die Schiffe durch den Schiffbau gar nicht in der Lage, über den Atlantik hinüberzukommen. Das ist sozusagen die eine Schule, die sagt: Petroglyphen hin, Petroglyphen her, es war unmöglich. Und sie beweisen das auch auf Ihre Art und Weise. Die andere Gruppe sagt: Nein, die Beweise sind da, in den Stein eingeschrieben. Es muß auf irgendeine Art die Möglichkeit bestanden haben, daß diese Schiffe herübergekommen sind, und zwar sehr früh.

Wir wissen, daß die Mysterien über die Erde verteilt waren. Zwischen den Mysterienstätten – vor dem Mysterium von Golgatha und auch nachher in den frühen christlichen Jahrhunderten – war ein Gesamtmysterienbewußtsein vorhanden. Die Eingeweihten der Mysterienstätten haben durch ihre übersinnlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten gewußt, was die Aufgaben der verschiedenen Mysterienstätten an anderen Orten der Erde waren und wie diese Mysterienstätten im Übersinnlichen wirklich miteinander verbunden waren. Also zum Beispiel im Ostseeraum war ein Wissen von den kolchischen Mysterien vorhanden, die durch Jahrhunderte sich am Schwarzen Meer entwickelt haben. Rudolf Steiner spricht dezidiert von diesen Mysterien am Schwarzen Meer und der großen Individualität, die diese Mysterien in den frühen Jahrhunderten gepflegt und inspiriert hat, nämlich dem Gautama Buddha in seinem Geistleib. Er ließ seine Einflüsse herunterkommen, und die Mysterienschüler haben sie aufgenommen. So war es für die Individualität im 7. Jahrhundert, die später als Franz von Assisi erschienen ist.12)

Die Aufgaben waren gegliedert je nach Mysterienstätte. Die Aufgabe der kolchischen Mysterien am Schwarzen Meer war eine zweifache, einmal, die Lehre des Buddha in die Welt hereinzubringen, ohne daß das notwendigerweise mit seinem Namen verknüpft war. Die andere Aufgabe bestand darin, daß die Qualitäten des Buddha mit den Taten des Christus verbunden werden mußten, damit beides hinausströmen konnte in die Menschheit hinein. Also Liebe und Mitleid als Lehre von dem Gautama Buddha und Liebe und Mitleid als Tat von dem Christus. Das nur als Beispiel einer Aufgabe, die natürlich von dem ganzen, sagen wir, Kollegium von Mysterienstätten wahrgenommen wurde.

Wir haben schon ein Motiv aus den nordischen Mysterien erwähnt, das Sonnenschiff. Mitten in dem Schiff ist eine Stange mit einer Sonne darauf. Das Sonnenschiff hat die Aufgabe, die Sonne über den Himmel zu tragen. Also, die Deutung ist klar: Das Sonnenschiff als das Gefäß für die Sonne, damit die Sonne hinüberkommt über den Himmel, daß die Sonne die Welt erleuchten mag. Dieses Zeichen hatte eine Zukunftsbedeutung in der vorchristlichen Zeit, es enthielt eine Vorahnung des Moments, wo die Christuswesenheit selber von dem Himmel auf die Erde heruntersteigen sollte. Es ist eine wichtige Rune. Und gerade dieses Bild kommt dann herüber nach der neuen Welt, nach Peterborough, Kanada, und ist dort aufgezeichnet, wenn man der erwähnten Behauptung von Barry Fell etwas Kredibilität geben will.

Wenn, dann hat man natürlich die Frage: Was machten diese Menschen, die nach Amerika gekommen sind? Warum haben sie diese Petroglyphen mit den Runen dagelassen, die entziffert worden sind. Das waren natürlich nicht einfache Schiffsfahrer, die hofften, daß sie vielleicht Pelze oder Gold finden konnten. Sie suchten etwas anderes, nicht nach Gütern, nicht nach Austausch. Die Schiffsfahrer waren sehr wahrscheinlich Eingeweihte, sie kamen aus den Mysterienstätten von der Gegend, die wir jetzt Norwegen nennen. Sie kamen schon immer nach Amerika, so Rudolf Steiner: immer nach Amerika. Sie hatten die besondere Aufgabe, die Krankheiten zu studieren. Es war eine Menschheitsfrage, wie entwickeln sich Krankheiten dort, wo der Erdmagnetismus so stark ist, wo die Doppelgängerkräfte im Menschen so verstärkt werden. Gerade unter den besonderen Erd- und Ätherverhältnissen wollten vermutlich die Eingeweihten studieren, wie Krankheiten in einer anderen Rasse sich manifestieren. Das war ihre Aufgabe durch Jahrhunderte. Sie haben geahnt, wie dieser ahrimanische Doppelgänger Urheber aller organischen Krankheiten ist, die spontan aus dem Inneren hervortreten. Und durch diese Studien haben sie viel zurückgebracht, gerade nach dem Ostseeraum, der ihr Ausgangspunkt war. Sie haben ihre Erfahrungen mitgebracht, und diese Erfahrungen wirkten befruchtend hier im Ostseeraum so, wie das auch der Fall mit so viel anderem war, was dann von diesem Ausstrahlungspunkt ausging. Rudolf Steiner erwähnt, daß noch ein letztes Echo von dieser Mysterien-Medizin bei Paracelsus zu finden ist, der noch etwas davon verstand, wie die irdischen Verhältnisse den Menschen in einen krankhaften Zustand bringen können.

Um ihre Erfahrungen zu machen, mußten die Besucher auch in Beziehung zu den Indianern treten. Wie kamen diese Beziehungen zustande? Sie haben natürlich in Amerika die richtigen Partner unter den Indianern gefunden. Sie haben diejenigen gefunden, die auch einen gewissen Grad der Einweihung erlangt hatten, und dadurch kam erst zustande, daß sie überhaupt studieren konnten, was sie studieren wollten. Es war also eine Begegnung zwischen Eingeweihten. So kann man es sich vorstellen: Ärzte, Priester, Heiler kamen damals zusammen. Sie haben keine Dolmetscher gehabt. Sie haben eine Geistsprache gesprochen. Sie waren in einer Lage, sich durch übersinnliche Wahrnehmungsmöglichkeiten auszutauschen. Die Menschen aus dem Ostseeraum begegneten den Medizinmännern, wie sie durch Jahrhunderte genannt wurden. Medizinmann – wenn man versucht das Wort zu übersetzen aus den verschiedenen Indianersprachen der vielen, sehr gegliederten Indianergruppen, so kommt aus diesen verschiedenen Sprachen nicht das Wort Medizinmann heraus. Das sagen wir. Wenn man getreu übersetzt, käme das Wort viel mehr als Sänger heraus: Sänger-Heiler-Barde. Denken wir diese Bezeichnungen zusammen, dann haben wir eine Ahnung von der Bedeutung des Medizinmanns. Es gibt auch heute noch ein letztes Echo von der Macht dieses Sänger-Heiler-Barden. Es kommt besonders in den Traditionen der Navajo-Indianer zum Vorschein als letztes Echo. Die Heilkraft kam durch die Sängerkräfte. Diese Eingeweihten habe eine Vorahnung der Kehlkopfgeheimnisse gehabt. Sie waren im Besitz der Kehlkopfkräfte. In Pennsylvania, wo ich aufgewachsen bin, lebte eine Indianersippe, die sehr stark war bis zum Ende des letzten Jahrhunderts. Es gab dort keine Zeit, in der die Weißen und die Indianer nebeneinander gelebt haben, sondern die Indianer traten zurück, als die Weißen kamen, aber es gab Geschichten, die immer noch in dieser Gegend erzählt wurden, davon, wie im Frühling und im Herbst die Indianer sangen. Und das sei ein mächtiger Klang, ein großes Echo gewesen, vielleicht von nur wenigen Sängern, der aber durch die Wälder über viele Kilometer hindurchgedrungen ist. Diese Sänger, die sich ausgebildet hatten durch ihre Traditionen, konnten die Kehlkopfkräfte beherrschen und haben diese Kehlkopfkräfte dann auf die organische Schwierigkeit beziehen können, in die die ahrimanische Doppelgänger-Wesenheit sich hineingedrängt hatte. Also auf alle Schwierigkeiten, die aus dem Organischen gekommen sind, konnten die Sänger wirken.

Auch heute findet man immer noch Reste dieser Fähigkeit. Mehr noch vor einigen Jahrzehnten, besonders vor dem Zweiten Weltkrieg. Wenn ein Navajo[-]Indianer Sänger, also Heiler, werden will, so dauert das mindestens fünf Jahre. Was muß ein Indianer machen, wenn er Sänger werden will? Hier ist ein wichtiges und interessantes Buch zu erwähnen, in dem eine gründliche Beschreibung zu finden ist: Mondhaus und Sonnenschloß13) von Frederik Hetmann. Ich fasse einige Aspekte kurz zusammen. Zunächst muß er sein Leben so arrangieren, daß eine Frau alle Arbeit für ihn macht. Die Empfehlung ist, entweder die Mutter oder die Frau. Und dann lädt man einen Sänger zu sich ein für den Winter und lebt einfach mit ihm zusammen. Wenn der Sänger sich bereit erklärt, den nächsten Sommer bei einem zu bleiben, für alles, was man so macht: Forellen fangen und so weiter, dann weiß man, daß man schon die erste Prüfung bestanden hat. Also zuerst nur ein Zusammenleben. Und dann beginnen allmählich die Exerzitien, sehr viele Riten müssen auswendig gelernt werden. Nichts ist schriftlich fixiert. Alles, was durch Jahrhunderte herübergekommen ist, muß überliefert werden. Ein Ritus dauert wenigstens drei Tage, geht Tag und Nacht, mit Singen und Sprechen. Es gibt noch Traditionen in Europa, wo zum Beispiel, um eine Warze wegzukriegen, eine alte Frau zum »Wegsprechen« geholt wird. Aber das ist minimal gegen das, was man sich vorzustellen hat von diesen sprechenden Sängern, singenden Sprechern. Jeden Handgriff mußte der Sänger lernen, und auch, wie er sich zu allen anderen Menschen außer dem Patienten zu verhalten hat. Denn es gab niemals nur eine Heilung von einem Menschen zum anderen, sondern es war die ganze Gemeinschaft einbezogen. Die Heilung, so war es angeschaut, war nicht nur für den Kranken. Wenn jemand krank war, mußte sogar die Familie den Sänger finden, denn eine Krankheit war niemals nur etwas Persönliches, sondern als eine Abweichung von dem normalen menschlichen Zustand betrachtet, die immer die ganze Gemeinschaft betraf. Deshalb mußte die Gemeinschaft den Heilungsvorgang mittragen.

Wie sollen wir diese Tatsache verstehen? Es war ein Gefühl vorhanden, daß die ganze Gemeinschaft in Gefahr war, von den Erdkräften, von den Doppelgängerkräften überwältigt zu werden. Noch dazu kommt, daß zu einem Teil dieses Heilungsprozesses alle zusammen waren, drinnen. Teile geschahen auch draußen in der Natur, aber die Hauptprozesse geschahen drinnen, und dann stieg natürlich die Hitze, soweit, daß die Hitze für uns unerträglich wäre, und die Menschen begannen sehr zu schwitzen, durch Tage hindurch schwitzten sie. Und wir sehen auch, daß das bedeutet: hier ist Wasser als Element und Klangäther. Der Klangäther ist auch verbunden mit dem Klang, mit dem Gesang, also sie »schwitzen Klangäther«, was in Beziehung zu dem unterirdischen Magnetismus steht. Es war, als wenn sie die Wirkungen eines zu starken Magnetismus weggeschwitzt und weggesungen haben.

Nun kann man noch von einer anderen Seite die ganze Lage anschauen. Das alles haben die Eingeweihten aus dem Ostseeraum Jahrhunderte hindurch zurückgebracht. Warum? Vielleicht als eine Art Warnung, was geschehen kann, wenn durch die geographische Äthergestaltung die Doppelgängerkräfte zu stark werden und dann in organischen Krankheiten ausbrechen. Aber ich meine, es gibt noch einen Gesichtspunkt, den wir betrachten sollten: daß da wirklich ein Austausch stattfand. Die Ostseemenschen haben diese Erfahrungen gesammelt, verarbeitet und verbreitet. Aber diejenigen, die in Nordamerika waren, sie haben auch viel durch diese Besuche bekommen. Man könnte fast sagen, daß diese Eingeweihten vom Ostseeraum eine Art Missionare der Sonnenmysterien für die Indianerbevölkerung waren. Denken wir einmal: die Rune und das Bild des Thor mit seinem Hammer, das Mysterium des Blutes, das Blut als Ich-Träger, wie Rudolf Steiner es beschreibt. Nehmen wir ein anderes Bild: Odhin, der so nach alten Traditionen mit der Sprache verbunden ist, die zukünftig auch mit dem Fortpflanzungsgeheimnis der Menschheit zusammenhängen wird. Dieses Bild wäre eine natürliche Veranlagung zum Verständnis durch die Sänger-Heiler unter den Indianern und so auch eine Austauschmöglichkeit. Es war keineswegs einseitig, sondern es bedeutete eine echte Begegnung zwischen zwei Rassen.

Nun wurde der Schiffsverkehr eingestellt, beginnend im 9. Jahrhundert und dann bis zum 12. Jahrhundert, wie Rudolf Steiner das beschreibt.14) Es war vor dem Beginn des Bewußtseinsseelenzeitalters. Und erst in diesem Zeitalter, in dem wir selber sind, durfte man wieder erleben: Da drüben ist eine Welt. In den Jahrhunderten vor dem Bewußtseinsseelenzeitalter aber mußte Europa beschützt werden vor diesen Kenntnissen, vor den Einsichten in die Doppelgängernatur hinein. Denn das waren die Jahrhunderte, wo gerade das Christentum in Europa verbreitet werden mußte, damit Europa seine Aufgabe erfüllen konnte. Es mußte sozusagen ein Zaun errichtet werden, um es zu schützen. Und durch die päpstlichen Edikte ging das alles ins Unbewusste hinein. Es war ein Schleier gezogen bis in das 15. Jahrhundert und zu Kolumbus. Es bedeutete eine wichtige Maßnahme, die notwendig damals war.

Wenn Sie bereit sind, von Kolumbus bis zum Jahr 1995 einen Sprung zu machen, sehen wir ein sehr interessantes Phänomen: Die Indianer (Rudolf Steiner hat sich besonders auf diejenigen bezogen, die allerdings in späteren Kontakt mit Europäern gekommen sind) hatten oder haben dann eine nächste Inkarnation, und zwar in Europa. Da die Schicksals- und Karmabegegnungen meistens auch wieder zusammenkommen, ist es nicht unwahrscheinlich, daß diejenigen, die als Indianer in Amerika gelebt haben, sich auch als Partner aus dem damaligen Ostseeraum in Europa wieder begegnen. Das ist eine Strömung, an die man auch zukünftig denken kann.

Also wird es möglich, von verschiedenen Seiten zu sehen, wie das frühe Nordamerika und der Ostseeraum durch viele Jahrhunderte innerlich und äußerlich auf eine ganz intime Art verbunden waren.

5) Barry Fell, America B.C. Ancient Settlers in the New World. Packet Books, NY 1989
6) Rudolf Steiner, Vor dem Tore der Theosophie, GA Bd. 95
7) Rudolf Steiner, Welt, Erde und Mensch, GA Bd. 105, im Vortrag vom 10. August 1908 in Stuttgart
8) Ernst Marti, Das Ätherische. Eine Erweiterung der Naturwissenschaft durch Anthroposophie. Hrsg. von Irmgard Rossmann. Edition Verlag die Pforte im Rudolf Steiner Verlag, Dornach, 1989
9) Rudolf Steiner, Das esoterische Christentum und die geistige Führung der Menschheit, GA Bd. 130, im Vortrag vom 1. Oktober 1911 in Basel
10) Günther Wachsmuth, Die ätherische Welt in Wissenschaft, Kunst und Religion. Philosophisch-Anthroposophischer Verlag am Goetheanum, Dornach, 1927
11) Rudolf Steiner, Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen, GA Bd. 178, im Vortrag vom 16. November 1917 in SI. Gallen
12) Siehe hierzu: Rudolf Steiner, Christus und die menschliche Seele, GA Bd. 155, Vortrag vom 29. Mai 1912 in Norrköping
13) Frederik Hetmann, Märchen und Mythen der nordamerikanischen Indianer. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1989
14) Siehe Anmerkung 11

Der europäische Norden | Der lange Weg zur Geistselbst-Kultur – Reijo Wilenius

Der europäische Norden
Der lange Weg zur Geistselbst-Kultur
Reijo Wilenius

Liebe Freunde, verehrte Anwesende!

Zuerst möchte ich meine Freude darüber aussprechen, daß Herr Dr. Schmiedel und die Freunde vom deutschen Arbeitszentrum Ost diese Tagung zustande gebracht haben. Vielleicht wissen einige von Ihnen, daß schon Ende der zwanziger Jahre eine Ostseetagung in Danzig stattgefunden hat, vor allem als eine deutsch-polnische Zusammenarbeit. Durch die politischen Entwicklungen konnte dieser erste Impuls nicht fortgesetzt werden.

Es ist schön, daß die Tagung gerade hier stattfinden kann. Wer vom Festland nach Rügen kommt, verspürt sogleich den Hauch des Nordens – irgendwie ist diese Insel geöffnet nach Norden. Und ich werde versuchen, im Gang meiner aphoristischen Betrachtung – man sagt »aphoristisch«, wenn man nicht genug Zusammenhänge findet – zu der Frage: Was ist der europäische Norden? ausgehend von den mehr äußeren Eindrücken zu den mehr ätherisch-astralischen Aspekten kommen, dann aber zu den Rätselfragen: Was ist das historische Gewissen? und: Was ist unsere Zukunftsaufgabe bei der Entwicklung der Bewußtseinsseele in Richtung der nächsten Kulturepoche?

Aber vielleicht zuerst noch etwas zu unserer Methode. Was Arne Klingborg angedeutet hat über die Ostsee und dieses Gebiet, nämlich daß man zuerst die Empfindungen, die Eindrücke erwerben sollte, um dann zu dem Inneren, Wesenhaften zu kommen, das ist eine Methode, die Rudolf Steiner als eine der ersten Übungen angibt in Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten: Man soll zuerst so lebendig und so genau wie möglich den Sinneneindruck aufnehmen, um dann zu hören auf den Nachklang, die Gefühle, die Gedanken, die in uns entstehen. Man kann das auch an der Ostsee üben. Nein, ich meine nicht, daß man einfach eine Stunde nur in der Sonne sitzt. Sondern einige Zeit, jeden Morgen, kann man diese Umgebung auf sich wirken lassen, so sinnlich, so lebendig wie möglich. Und dann – schließt man die Augen, läßt man diese äußeren Eindrücke weg, dann entstehen gewisse innere Eindrücke, ob man nun sitzt am finnischen Meerbusen oder am bottnischen oder hier. Der Mensch hat einen wunderbaren Empfindungsleib! Der höchste Teil unseres Ätherleibes lebt nämlich immerzu mit, mit der Welt, mit der Natur, mit anderen Menschen.

Wir heutigen Menschen haben Mühe, Leben in die Empfindungsseele zu bekommen, haben Mühe, den Reichtum, der in ihr lebt, auch im Reichtum der Empfindungen wiederzufinden. Gegen diese Empfindungskultur wirken sehr mächtige Hindernisse in uns selber. Wenn man etwa eine naturwissenschaftliche Ausbildung hat, nimmt man instinktiv nur die meßbaren Sinnesqualitäten auf. Oder wenn man mehr mystisch orientiert ist, also in der Richtung einiger New-Age Bestrebungen, dann sucht man das Merkwürdige, das Sonderbare, das Paranormale und geht vorbei an dem wunderbaren Reichtum der Sinnesempfindungen oder sinnlich-geistigen Empfindungen, der in jedem Menschen anwesend ist. Aber ich glaube, der stärkste Gegner in uns ist der abstrakte Intellektualismus der heutigen Kultur, den man zwar zunächst mehr außerhalb der anthroposophischen Bewegung sieht als in unserer eigenen Betrachtungsweise. Aber ich glaube, für diese Bewegung liegt darin ebenso noch eine Zukunftsaufgabe: Wie kann man in den eigenen Empfindungen genügend Eindrücke der Welt finden, um nicht vorschnell zu den Ideen und Begriffen zu kommen, die man durch die Anthroposophie erlernen kann.

In diesem Sinne möchte ich zuerst einige Eindrücke aus dem europäischen Norden schildern. Es gibt große Gegensätze im Norden, in der Landschaft und auch in den Menschen. Wenn man etwa nach Nordosten geht, in Richtung von Russisch Karelien etwa: Vor zwei Jahren war eine erste anthroposophische Tagung in Petroskoi, der karelischen Hauptstadt. Eine ganze Nacht – es war die Johanninacht – fuhren wir durch die Wälder in einem Autobus auf schlechten Wegen, und man atmete die ganze ätherische Frische dieser Wälder und Seen. Ein Freund von mir kam vor zwei Wochen aus dieser Gegend zurück, er war in einem Dorf im Walde, da lebten zusammen drei Menschenfamilien und fünf Bärenfamilien in dem Walde. Es war ein freundschaftlicher Verkehr zwischen diesen lebenden Wesen, man durfte allerdings die Bären nicht schießen! So etwas kann man da noch erleben.

Wenn man sich nun von Osten direkt nach Westen wendet, so ist es etwas ähnlich noch in Finnland, aber dann, wenn man geht, sagen wir, von Helsinki direkt nach Oslo und dann nach Bergen, in die Fjällgebiete, da hat man ganz andere Eindrücke. Es ist da eine ganz andere Welt, umgeben von den feierlichen norwegischen Bergen und Bergebenen mit ewigem Schnee. Da ist ein gewaltiger Gegensatz zwischen dieser hier ganz und gar physischen Landschaft gegenüber der sehr ätherischen im Osten.

Wieder ein ganz anderes Erlebnis ist es, nach Lappland zu fahren gerade zu dieser Zeit. Ich habe einmal in der Johannizeit, in der Nacht eine Wanderung unternommen von Ivalo nach Inari, und wenn man an den nördlichen Inarisee kommt in der hellen Nacht und sieht die weißen Birken, die ganz kurz sind, mit wunderbar weißer Rinde, da hat man ein Gefühl eines heiligen Treffens, da möchte man auf die Knie fallen, so etwas kann man nur da erleben. Oder der Tiefwinter in Lappland, die Sonne kommt gar nicht über den Horizont, aber von neun Uhr vormittags an färben wunderbare Farben den Himmel und den Schnee. Ein solches Farbenspiel kann man nirgends sonst erleben. Es ist ein einziger Sonnenaufgang und -untergang von neun Uhr am Vormittag bis drei Uhr am Nachmittag. Und in der Nacht die Nordlichter mit ihren Farben.

Wenn man dann nach Süden geht, sagen wir nach Dänemark, an einem Junitag, und erlebt dort die ganze Anmut dieses fruchtbaren Kalkbodens mit seinen leichten Hügeln und Wäldern, dann hat man wieder ganz andere Eindrücke. Ähnliche auch natürlich in Norddeutschland oder im Baltikum.

Das sind nur kleine Hinweise, wie man dem Norden vielleicht näher kommen kann. In diesem Gebiet leben ja nun meistens kleine Völker, wie die Dänen, Norweger, Schweden, Finnen, Karelier, Esten, Letten, Litauer und noch einige Reste anderer kleiner Völker, und an den Rand dieses Gebietes kommen drei große Völker: Deutsche, Polen, Russen. Es hat in der Geschichte seit dem Mittelalter eine Zeit gegeben, in der ein wunderbarer Verkehr zwischen diesen Völkern entstanden war, besondere Formen des Miteinanders. Es ist auch wieder möglich, daß etwas ähnliches wiederentsteht, denn es liegt vielleicht in diesen Völkern etwas bei aller Verschiedenheit Gemeinsames. Rudolf Steiner sagt, die Aufgabe dieser kleinen Völker sei es, etwas für andere Völker Verbindendes zu bilden, so etwas wie ein wahres internationales Forum. Das kann man hier pflegen.

Etwas Gemeinsames ist hier vielleicht der Respekt vor der freien Persönlichkeit. Der europäische Norden und die Schweiz waren die einzigen Gebiete Europas, wo es keine Leibeigenschaft gab, ausgenommen einige wenige Gebiete. Die bäuerliche Selbständigkeit ist ein realer Impuls im Norden gewesen. Ein anderes Charakteristikum des Nordländers ist seine starke Verbundenheit mit der Natur. Und dann ein gewisses bildhaftes Erinnerungsvermögen, die mythische Erinnerung an die alten Mysterien. Rudolf Steiner schrieb auf einer Reise im Norden 1921 in sein Notizbuch: Im Norden war die Bildhaftigkeit geblieben.

Aber diese Eindrücke, die eigentlich schon äußerlich-innerliche Eindrücke sind, müssen dann – worauf Arne Klingborg und Manfred Schmidt-Brabant hingewiesen haben – in den Zeitenstrom hineinkommen. Wie etwa die Mysterienströme, die Virginia Sease erwähnt hat, die heraufgingen vom Schwarzen Meer zur Ostsee, eigentlich zum Weißen Meer. Wenn man die äußere Geschichte dieser Gegenden kennt, die früher Sarmatien benannt wurden, so ist das eine furchtbare Geschichte menschlichen Leides. Seit dem Mittelalter haben Finnen und Russen dreiunddreißig Kriege gegeneinander geführt. Die meisten Kriege waren schrecklich für die Bevölkerung. Oder wenn man an das denkt, was im letzten Weltkrieg auf diesem Gebiet, in Norddeutschland, Polen, dem Baltikum und östlich von Finnland geschehen ist – gerade dort, wo der Mysterienstrom gewesen ist. Vielleicht gehört dieser furchtbare historische Hintergrund auch dazu, daß einmal das geistige Zentrum der sechsten Kulturepoche nicht weit vom Baltikum liegen wird, wie es uns Rudolf Steiner sagt.

Ich versuche nun, mich mehr den elementar-ätherischen Verhältnissen zuzuwenden. Was wollen die Elementarwesen in diesem Gebiete? Die drei Vorträge Rudolf Steiners in Dornach vom 9., 14. und 15. November 1914, Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt. Finnland und Kalevala(15) enthalten wirklich rätselhafte Aussagen. Die Spiritualität der Ostsee! – Es ist rätselhaft für den heutigen Menschen, daß diese Ostsee die ganze Spiritualität der europäischen Kultur enthalten soll. Man kann zwar vermuten, die Spiritualität kommt von der Atlantis, dieses Wesen kommt eigentlich von der alten Atlantis herüber, hat diese drei Fühler: den Rigaischen, den Finnischen und Bottnischen Meerbusen. Die alten finnischen Mythen hat dieses Drachenwesen inspiriert, die drei Fühler oder Meerbusen sind die Inspiratoren: Väinämöinen, IImarinen, Lemminkäinen; die Inspiratoren der Empfindungsseele, der Verstandes-Gemütsseele, der Bewußtseinsseele. Väinämöinen verbinde ich mit dem Rigaischen Meerbusen. Väinä ist der alte finnische Name für Fluß, und in den Rigaischen Meerbusen fließt der mächtige Väinäfluß.

Eine merkwürdige Aussage Rudolf Steiners ist, daß die Elementarwesen seit dem zwanzigsten Jahrhundert hier versuchen, menschliche Leiblichkeiten zu bilden, in denen die Wahrheiten von der geistigen Konstitution des Menschen und von wiederholten Erdenleben bewußt eingesehen werden. Das heißt, in der Bewußtseinsseele kann die Spiritualität des Ostseewesens wieder allmählich bewußt werden. Durch die Ideen der modernen Geisteswissenschaft können die Bilder des nordisch-finnischen Mythos wieder neu verstanden werden. Rudolf Steiner erwartete von uns, daß wir mit den Ideen der modernen Geisteswissenschaft den Kalevala-Mythos verstehen. Das heißt nicht, daß wir ihn irgendwie äußerlich beleben, sondern daß wir die Kräfte wiederfinden, die darin sind. Und damit hängt vielleicht zusammen ein anderes Rätsel. Rudolf Steiner spricht von Gewissen in diesem Zusammenhang. Finnland, so sagt er, es soll ein Gewissen für Osteuropa werden. Nun hat Rudolf Steiners Wort Gewissen einen gewissen Inhalt, dem wir vielleicht näher kommen können. Und da möchte ich zu Hilfe nehmen die Uriel-Imagination, wie sie als ein Weg zur Johanni-Imagination dargestellt ist.(16)

Da finden wir, was Rudolf Steiner mit dem historischen Gewissen meint. Arne Klingborg hat ja im Kulturhaus in Järna die Imaginationen der Jahreszeiten gemalt, aber ich male hier jetzt nur vorsichtig, nehme nur einen Aspekt von dieser Imagination.

Diese Imagination fängt damit an, daß man vorstellt das Blaue der Erdentiefe, wo die silbernen Linien einander durchkreuzen. Die Kristallkraft der Erde. Da ist der Weltenwille, auf dem wir stehen. Und dann das Gelbe darauf, wie gelbe Wolken, als die kosmische Intelligenz, die im Hochsommer erlebbar ist. Und diese silbernen Linien kommen von der Erde hoch, kommen hoch bis zu dieser Weltenintelligenz, zu diesem Weltendenken da oben. Und aus dieser Wolke wird sichtbar ein Gesicht, Uriels Gesicht, mit einem sehr strengen Blick, der hinuntergerichtet ist. Denn da unten in dieser Bläue mit der wunderbaren Kristallkraft, da leben auch die menschlichen Fehler, leben so, daß sie sich ballen und sich wieder auflösen. Darauf ist Uriels Blick gerichtet. Aber da unten kommen auch heraus die menschlichen Tugenden, die Tüchtigkeiten. Rudolf Steiner sagt: »Man kann nicht bloß hinschauen auf das ernste, durch den Blick auf die Erdentiefen ernstwerdende Antlitzauge des Uriel, sondern man kann auch hinschauen auf etwas, was, ich möchte sagen als flügelartige Arme oder armartige Flügel in ernster Mahnung da ist, und was gerade als Gebärde des Uriel wirkt, was in das Menschengeschlecht hineinleitet dasjenige, was ich nennen möchte das historische Gewissen, das insbesondere in der Gegenwart außerordentlich schwach entwickelt ist. Das erscheint wie in der mahnenden Gebärde des Uriel.« Also Uriel möchte in das Menschengeschlecht »hineinleiten das historische Gewissen, das insbesondere in der Gegenwart außerordentlich schwach ausgebildet ist.«

Das Verhältnis zu den alten Mysterien ist heute gebrochen. Das Mysterien[-]Wissen war aber nicht nur Wissen. Es waren darin ungeheure moralische Kräfte enthalten, die in der Menschheit gewirkt haben, moralische Impulse der Menschwerdung, möchte ich sagen. Das ist heute verloren gegangen, dieses historische Gewissen. Wie ein einzelner Mensch ein bewußt biographisches Gewissen dadurch ist, daß er sehen kann seine Vergangenheit, auch seine Fehler, vielleicht auch seine Lebensintentionen aus den vergangenen Erdenleben, so entsteht das historische Gewissen für die Menschheit dadurch, daß die moralischen Kräfte, die in den Mysterien da waren, wieder gefunden werden.

Man sagt oft als Phrase, die Moralität heute sei schwach. Ein finnischer Zukunftsforscher hat eine einfache Grafik hingestellt für die Jahre 1800 bis 2000: Die technischen Fertigkeiten des Menschen, Wirkungen zu verursachen, sind stark gestiegen, aber die moralische Kraft, mit der er beherrscht die technischen Fertigkeiten, das, was er anderen Menschen und der Natur antut, ist nicht so gestiegen; der Ethos hat sich nicht so entwickelt, daß der Menschheit ein menschenwürdiges Leben erhalten werden kann. Der Ethos kann nur aus tieferen Quellen heraus gestärkt werden. Und das ist, glaube ich, der Sinn davon, daß diese Spiritualität, die in den Ostsee-Mysterien einmal gelebt hat, wiedergefunden und belebt wird.

Ich nehme noch ein anderes Zitat aus diesen drei Vorträgen, einige Sätze, die uns viel zu forschen geben: »Es kann die Frage aufgeworfen werden, welche Bedeutung ein solches Volk« – Rudolf Steiner spricht hier besonders von dem finnischen Volk und den Kalevalamysterien – »hat, das eine solche eminente Mission im Verlaufe der Erdenmission vollzogen hat wie das große finnische Volk, und das doch noch bleibt für die spätere Zeit. Das hat alles seine Bedeutung in dem ganzen Fortschritt der Evolution, daß ein solches Volk dableibt, daß es nicht verschwindet von der Erde, wenn es seine Mission vollzogen hat. So wie der Mensch selber die Gedanken, welche er selber in einem bestimmten Lebensalter gefaßt hat, für ein späteres Lebensalter im lebendigen Gedächtnisse behält, so müssen auch frühere Völker bleiben wie ein Gewissen, wie ein lebendig fortwirkendes Gedächtnis gegenüber dem, was in späterer Zeit geschieht: wie ein Gewissen.« Und dann kommt dieser Satz: »Des europäischen Ostens Gewissen wird dasjenige sein, was das finnische Volk bewahrt hat.«

Ein älteres Mitglied hat mir erzählt, als die Finnen das gelesen haben in den zwanziger, dreißiger Jahren, war es irgendwie unwahrscheinlich für sie. Aber als der Winterkrieg 1939 kam, und dieses Wunder, daß das Volk sich verteidigen konnte gegen so große sowjetische Übermacht … Ich habe das als Kind erlebt. Es war eine wunderbare Stimmung im ganzen Volke. Und man kann wagen, vielleicht zu sagen: Das war die Wirkung des Volksgeistes. Das Volk hatte eine Mission, und es mußte da bleiben gegen alle historische Wahrscheinlichkeit. Dasselbe ereignete sich im Herbst 1944 am Ende des Zweiten Weltkrieges, als das Land nicht von fremden Truppen besetzt wurde. Das war wieder ein Wunder. Und, so sagte dieses ältere Mitglied, zu dieser Zeit wurden für sie diese Worte Rudolf Steiners wahr, daß dieses Volk bleiben mußte für die spätere Zeit. Das sage ich nicht aus einem Nationalgefühl. Da wird handgreiflich, wie der Volksgeist real wirken kann.

Wir können schon ahnen, daß der Ostseeraum eine besondere Aufgabe hat auf dem Weg von Westen nach Osten, daß er eine besondere Brücke bildet auf dem Weg zur Geistselbstkultur. Dieser Weg, das muß man wissen, ist ein sehr langer Weg von anderthalb Jahrtausenden. Wir sind erst am Anfang, und man kann auch ahnen, welche gewaltigen Widerstände noch kommen werden auf diesem Weg. Räumlich ist dieser Weg sehr kurz. Nicht weit vom Baltikum wird dieses Zentrum der sechsten Kulturepoche sein. Prokofieff hat in seinem wunderbaren Werk Die geistigen Quellen Osteuropas dargestellt, welche Schwierigkeiten da noch kommen werden auf dem Wege zur sechsten Kulturepoche. Und er hat beschrieben, als eine notwendige Voraussetzung zur gesunden Geburt des Geistselbstes, die Spiritualisierung, die Vergeistigung der Bewußtseinsseele. Das soll in unserer fünften Kulturepoche geschehen. Das Geistselbst wird in jedem Falle geboren, aber es kann eine Mißgeburt sein, wenn diese Vorbereitung der Spiritualisierung der Bewußtseinsseele nicht gelingt. Rudolf Steiner hat es in einem starkem Bilde gesagt: das Verhältnis von Geistselbst und Bewußtseinsseele ist wie das von Schwert und Scheide. Die Scheide muß gebildet werden, bevor das Schwert aus dem Himmel hinunterfallen kann.

Nun, wie geschieht diese Spiritualisierung der Bewußtseinsseele? Sie geschieht eigentlich durch die ganze anthroposophische Arbeit in der Welt. Sie geschieht durch den anthroposophischen Schulungsweg, wo man im Stillen versucht, sein Denken zu schulen an der Geisteswissenschaft, sein Gefühlsleben mit der Kunst und sein Wollen dadurch, daß man die Initiative des Willens findet durch die äußere anthroposophische Arbeit. Diese Kultur ist tatsächlich Spiritualisierung der Bewußtseinsseele. Sie kann nur mit Hilfe der Michael-Christus-Kräfte geschehen.

Die Neuzeit hat diesen Gang gemacht vom 15. Jahrhundert: die Empfindungsseele – Renaissance, die Verstandesseele – Barock, und dann kommt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts allmählich erst die Bewußtseinsseele hervor. Auch die anthroposophische Bewegung ist gegangen durch die Seelenglieder, zuerst Empfindungsseele, dann Verstandes- oder Gemütsseele, und erst allmählich kommen wir zu einer Anthroposophie der Bewußtseinsseele. Was die Anthroposophie der Bewußtseinsseele ist, hat Christoph Lindenberg beschrieben:(17) Der Mensch baut sein Verhältnis zur Welt auf als sein eigenes Erleben, das er mit seinem intuitiven Denken durchdringt. Es ist der Erkenntnisweg der Weg der Philosophie der Freiheit. Ich habe anfangs schon geschildert, wie wunderbar es ist, daß man allmählich findet den Reichtum des eigenen Erlebens. Man braucht immer das Denken, das ist wahr. Aber zuerst sollte man eigentlich die Erfahrungen haben, die Erlebnisse, Empfindungen, damit man ein Material für das Denken haben kann. Rudolf Steiner hat in den Vorträgen über Die geistigen Wesen in den Himmelskörpern und Naturreichen(18) wunderbare Übungen angegeben, wie man sich in schlichte Erfahrungen hinein vertiefen kann, zum Beispiel in das Blau des Himmels, das Weiße des Schnees, so daß eine gewisse übersinnliche Erfahrung allmählich wach werden kann.

Wir sind heute in der Situation: Die Bewußtseinsseele hat sich äußerlich ausgebildet, hat sich auf die äußere physische Welt hin gerichtet. Und in diesen Jahrhunderten, so sagt Rudolf Steiner in einem Leitsatz, entfaltete sich im Innern der Seele eine gereinigte, in sich bestehende Geistigkeit des Menschen als Erleben. Und damit wird es möglich, daß man sich empfindet »denkend eins mit dem Strome des Weltgeschehens«.

Lindenberg fragt eigentlich: Wagt die anthroposophische Bewegung diesen Schritt in die Bewußtseinsseele, in die Freiheit, auf das offene Meer? Ich kann nur sagen, ein langer Weg liegt noch vor uns, wir sind wirklich am Anfang des Anfanges. Aber wir haben eine ungeheure Verantwortung, daß der Menschheit der Übergang von der Bewußtseinsseele zum Geistselbst einmal gelingt.

15) Enthalten im gleichnamigen Band GA 158
16) Rudolf Steiner, Der Jahreskreislauf als Atemvorgang der Erde und die vier großen Festeszeiten. GA Bd. 223
17) In einem Artikel der Zeitschrift »Die Drei«, Januar 1995
18) Rudolf Steiner, GA Bd. 136

Die Schwertritter, die Deutschritter und die Christianisierung des Baltikums | Was waren die geistigen Hintergründe des nordischen Kreuzzuges? – Hans-Jørqen Høinæs

Die Schwertritter, die Deutschritter und die Christianisierung des Baltikums
Was waren die geistigen Hintergründe des nordischen Kreuzzuges?
Hans-Jørqen Høinæs

Liebe Freunde!

Ich brauche diesen Ausdruck »Freunde« mit Willen, wenn es auch sein kann, daß einige von Ihnen sich mit dem Vortragenden nach seinem Beitrag entzweien. Aber ich glaube eigentlich nicht, daß es dazu kommen wird.

Der Grund meines Vorbehaltes liegt in folgendem: Als ich vor einigen Jahren Vorlesungen im Baltikum hielt, besonders an der Universität in Vilnius, erlebte ich zwar auf der einen Seite große Dankbarkeit, auf der anderen Seite wurde ich aber auch von einigen Hörern korrigiert, weil ich unterstellt hatte, daß es vielleicht einen Sinn hinter dem gewaltsamen Kreuzzug im 12. Jahrhundert im Baltikum geben könne. Sowohl anhand des Quellenmaterials als auch einiger spiritueller Gesichtspunkte versuchte ich aufzuzeigen, daß aus einer größeren Sicht im Eindringen der Schwertritter und der Deutschritter ins Baltikum ein solcher Sinn gesehen werden könnte, ungeachtet des Blutes, das dabei vergossen wurde.

Ursprünglich war ich nach Riga eingeladen worden, weil dort auf der Jürgenhofburg, die der Aufenthaltsort der Schwertritter und der Deutschritter gewesen war, bei Ausgrabungen durch den KGB – also noch bevor Lettland frei wurde – eine Statue von König Arthur gefunden worden war. Und da ich in Dänemark über das keltische Christentum und König Arthur geschrieben und Vorträge gehalten hatte, war ich eingeladen, über das Thema zu reden: Inwieweit könnte es einen Zusammenhang zwischen den Schwertrittern, den Deutschrittern und den Impulsen der Arthurströmung und der Tafelrunde gegeben haben? Dazu werde ich später in meinem Vortrag kommen.

An der Universität in Vilnius wurde ich nach meiner Vorlesung von einem der dort Lehrenden zu einem Gespräch eingeladen. Dieser ältere Herr war sehr dankbar über den von mir gehaltenen Vortrag, doch setzte er mir entgegen, daß die baltische Naturreligion der alten Zeiten von den »eingedrungenen Christen«, den Deutschen und zum Teil den Dänen, niemals weder verstanden noch akzeptiert wurde. Er konnte mir ausführlich sowohl über die Grausamkeiten der Kreuzritter erzählen, von denen ich schon Kenntnis hatte, als auch über die alte Religion, wie er sie in einem kleinen Kreis noch pflegte, in der noch Sonne und Mond, Natur, Pflanzen und Landschaften Gegenstände göttlichen Wirkens sind.

In der Zeit unmittelbar nach diesem Treffen wurden die baltischen Ländergebiete von dem russischen Kommunismus und Atheismus befreit. Das Verwunderliche ist nun, daß sich gerade in den baltischen Ländern – und vielleicht mehr noch als zuvor – ein Interesse für die alten Religionen immer mehr entwickelt. Dies kann man sogar jenem Nachrichtenorgan entnehmen, das das Sprachrohr der baltischen Länder zum Westen hin ist, The Baltic Observer. In der Nummer 4 vom 6. April 1995 liest man dort einen großen Artikel mit der Überschrift: »Which Way to Heaven?«. Der Artikel handelt über die Renaissance des Heidentums. Er referiert einige Wissenschaftler insbesondere der Universität Vilnius und behandelt dann das genannte Phänomen der Rückkehr des Volkes zur alten Religion nach der Befreiung des Geisteslebens. Mein eigener, deutlicher Eindruck aus Lettland und Litauen ist, daß die, die nach Spiritualität suchen, gerade ein Erleben und Erkennen der spirituellen Welt in Verbindung mit der Natur und den auf sie bezogenen alten Traditionen wünschen.

Auf Grund dieses Wissen neige ich in Bezug auf das Verhältnis des Baltikums zum kontinentalen Christentum zu der folgenden Betrachtung: Man findet eine erstaunliche Parallele zwischen den zwei Extremen in Europa – Irland im Westen und dem Baltikum im Osten – in der Überleitung nach Rußland auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. Die alten Kelten in Irland und teilweise in Britannien erlebten in ihren Mysterien das Kommen Christi – durch den Kosmos, durch die Natur und ihre Kräfte, durch Sonne und Mond. Und es sieht ganz so aus, als ob die Eingeweihten in der alten baltischen Kultur die geistige Welt ebenfalls durch Vermittlung der Natur erlebten. Die Polarität beider aber kommt besonders darin zum Ausdruck, wie diese zwei großen Extreme des Kontinents, das Baltikum und Irland, christianisiert wurden. Es geschah dies auf zwei ganz verschiedene Arten (ich schließe das russische Christentum nicht in dieses Bild ein und beschränke mich auf das Baltikum mit seinen Nachbarkulturen): Während es, wie bekannt, keinen einzigen Märtyrer in Irland und nur drei oder vier in Britannien gab, fiel eine unbekannt große Anzahl von Menschen bei der Zwangschristianisierung des Baltikums.

Warum dieser Unterschied? Vermutlich können Teile des Problems, wenn wir es von Rudolf Steiners Gesichtspunkt aus anzusehen versuchen, mit den folgenden Verhältnissen zu tun haben.

Einerseits gehört die irisch-keltische Kultur zur Vorzeit, in dem Sinn, daß sie in einer Art vorchristlichen Schauens und einer Empfänglichkeit für den christlichen Impuls tief verwurzelt ist. Dies kommt sowohl in der Symbolik des Sonnenkreuzes zum Ausdruck als auch in der Religion der Druiden.

Auch die baltische Kultur hat vorchristliche Kreuze und Traditionen. Ich kann hier nicht weiter darauf eingehen. Aber sie hat nun eine Zukunftsaufgabe zwischen der kontinentalen europäischen Kultur und der kommenden spirituellen russischen, sofern diese Perspektive in Erfüllung gehen will. Das Baltikum – wie auch andere Länder in Ost- und Mitteleuropa – wurden deshalb vom anthroposophischen Gesichtspunkt aus als Schwellenländer, als schmerzvolle »Übergangsländer« zu einer neuen Kultur betrachtet. Hans Erhard Lauer schreibt zum Beispiel in seinem Buch Die Volksseelen Europas:19) »Jedes einzelne der randslawischen Völker ist fast ausschließlich in einer ständigen höchst bewegten, teilweise tief tragischen Auseinandersetzung einerseits mit dem Deutschtum, anderseits mit dem Russentum, Tartaren und Türken«, aber auch mit den skandinavischen Ländern, möchte ich hinzufügen.

Lassen wir das als Einleitung genügen. Ich werde über die Verhältnisse im Mittelalter sprechen, obwohl ich schon am liebsten über die Verhältnisse der Gegenwart sprechen möchte. Von Freunden, die nach mir im Baltikum gewesen sind, habe ich gehört, daß sowohl Osteuropa als auch Rußland jetzt neuen Anforderungen aus dem extremen Westen gegenüberstehen: zum Beispiel in Gestalt der Kombination der sogenannten informationstechnologischen Gesellschaft und neuer Formen materialistischer Spiritualität der New Age Bewegung, die unter anderem Alice Bailey ihrerzeit auf okkulte Weise grundgelegt hat. Es dreht sich, mit anderen Worten, um den Kampf für die eigene, wahre spirituelle Identität des Baltikums. Aber kehren wir lieber zum Mittelalter zurück.

Das Baltikum war schon im Mittelalter eine Schwellenkultur. Das große Epos Heimskringla (Weltkreis), das die Geschichte der norwegischen Könige erzählt, berichtet in seinem ersten Teil, der Ynglingesaga, von Kämpfen des Königs Ingvar im Westen Estlands. Der König mußte die Eroberungspläne allerdings mit dem Tod auf dem Schlachtfeld bezahlen. Und er wurde auf der Insel Ösel zu Grabe gelegt. Daraufhin unternahm sein Sohn Rachefeldzüge gegen das Baltikum. Zu Beginn des 8. Jahrhunderts waren Teile der Balten, die in Küstennähe oder an Flüssen lebten, der norwegischen Krone tributpflichtig, doch konnten sie sich gegen eine direkte Unterwerfung erfolgreich zur Wehr setzen. Das war bereits im 8. Jahrhundert und noch bevor Norwegen offiziell christianisiert war. In den nachfolgenden Jahrhunderten wurden die verschiedenen baltischen Völker von Russen, Schweden, Dänen und nicht zuletzt Deutschen heimgesucht.

Erst in der Kreuzzugzeit, im 12. Jahrhundert, wurden die baltischen Völker also ernsthaft mit dem westlichen römisch-katholischen Christentum und der römischen Kultur konfrontiert. Aber schon 997 und 1007 waren Missionare aus Polen bei den südbaltischen Pruzzen aufgetaucht. Doch mussten sie ihre Aufdringlichkeit mit dem Leben bezahlen. Jahrzehnte später unternahmen die ihrerseits gerade christianisierten Russen zaghafte und erfolglose Versuche, das byzantinische Christentum zu verbreiten. 1070 ließ der dänische König Sven Estridsen eine Kirche in Kurland errichten. 1120 sandte der schwedische Bischof von Sigtuna eine Mission nach Estland, und die Kurie in Rom rechnete das Land bereits zu ihrem Einflußbereich.

1180 begleitete der Augustinermönch Meinhard aus dem Kloster Bad Segeberg Kaufleute ins Baltikum. In dem Dorf Uexküll an der Daugava, das mit 150 Bewohnern damals zu den größten Niederlassungen zählte, errichtete er eine Missionsstation. Und 1167 weihte Bischof Eskil von Lund den französischen Zisterziensermönch Fulco zum Bischof von Estland.
Aber viele der oberflächlich Bekehrten wuschen ihre Taufe im Fluß wieder ab oder gruben heimlich die christlich Bestatteten aus, um sie doch noch nach traditionellem Ritus zu begraben. Die Situation änderte sich erst, als der erste Kreuzzug gegen das Baltikum einsetzte. Und das war der sogenannte Wenden-Kreuzzug.

Der Mann, der in vieler Beziehung hinter dem wendischen Kreuzzug (1147-1185) stand, war Sankt Bernhard, Zisterzienser und unbestreitbar die bedeutungsvollste Geistespersönlichkeit innerhalb der katholischen Kirche in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts.

1146 hatte Bernhard mehrere französische und süddeutsche Ritter dazu gebracht, einen neuen Kreuzzug ins Heilige Land vorzubereiten. Am 13. März 1147 fand sich Bernhard im Reichstag in Frankfurt ein, wo er erlebte, wie die sächsischen Edelleute die Erlaubnis dazu forderten, die heidnischen Slawen an der Ostgrenze des Reiches anzugreifen. Bernhard brachte dies an Papst Eugenius lll., der übrigens früher Bernhards Schüler gewesen war, und schon am 13. April 1147 kam die Bulle Divina Dispensatione, die die Christen in Nordeuropa autorisierte, gegen die Länder der Nicht-Gläubigen im Norden anstatt nach Jerusalem zu marschieren. Der Heilige Bernhard20 ermutigte die Kreuzfahrer dazu, die Heidnischen »bis auf den Tag, an dem sie mit Hilfe Gottes entweder bekehrt oder vernichtet« sein würden, zu bekämpfen. Alternativen dazu, entweder getauft zu werden oder zu sterben, gab es nicht.

Verweilen wir ein bißchen an dieser Stelle. Auf den modernen Menschen wirkt es zweifellos schrecklich, daß es unter den großen christlichen Lehrern des Mittelalters legalisiert werden konnte – innerhalb einer Religion, die auf Nächstenliebe baut – den »Ungläubigen« oder zum Beispiel den Ketzern das Leben zu nehmen. Selbst der größte Philosoph des Mittelalters, Thomas von Aquino, trat dafür ein, daß Ketzer, die ihre Wahnlehre nicht widerriefen, das Leben einbüßen.

Daß es damals – mit wenigen Ausnahmen – so war, können wir nur aus der Bewußtseinsform des Mittelalters verstehen. Der Mittelalter-Mensch stand der übersinnlichen Welt näher als der Mensch um das 20. Jahrhundert. Man lebte innerhalb eines gegebenen spirituellen Weltbildes, in dem die Seele und die übersinnliche Welt grundsätzlich mehr als die physische Wirklichkeit bedeutete. Das kommt sowohl in der Literatur und der Kunst als auch etwa in der mangelnden physisch-materiellen Naturerkenntnis zum Ausdruck. Fast ausnahmslos – so zum Beispiel auch in der Parzival-Literatur – betrachtete man das Nehmen des körperlichen Lebens der Menschen auf ganz andere Weise, als dies heute ein christlich gesonnener Mensch tun würde.

Ähnliches galt für den größten Teil des gesamten Missionseinsatzes der katholischen Kirche. Ich denke hier daran, daß man zum Beispiel die alten heidnischen Tempel niederbrannte und die heiligen Haine zerstörte. Der diesem zugrundeliegende Gesichtspunkt war: Erst wenn die physische Grundlage der alten Geister beseitigt ist, kann die neue Geistigkeit ihr Wirken beginnen. Lediglich für die keltische Kirche ist mir bekannt, daß man innerhalb dieser hierüber anders dachte. Wir müssen diese Bedingungen einsehen, um diese Seite des Kreuzzugsgedankens zu verstehen.

Kehren wir zum Wendenkreuzzug zurück. Sowohl Dänen, Sachsen als auch Polen traten für den Aufruf Bernhards ein. Bernhard hatte selber ein Buch über die neue geistige Ritterschaft geschrieben, von der er meinte, daß sie die alte ablösen müsse. Und gleichzeitig hatte er den Templern ihre Ordensregel gegeben. Die geistliche Ritterschaft hatte auf der einen Seite ein strenges kontemplatives Leben zu führen und auf der anderen Seite mit dem Schwert in der Hand das Christentum zu schützen.
Es gibt auch Forscher, die behaupten, daß es die Zisterzienser waren, die hinter dem altfranzösischen Gralsmanuskript La Queste deI Graal (»The Quest of The Holy Grail«) standen, in dem Sir Galahad als der vollkommene geistige Ritter erscheint.21)

Im Sommer 1147 wurden die Otriten, ein Teil des wendischen Volkes, von sowohl zwei dänischen Flotten als auch zwei sächsischen Heeren angegriffen. Mehrere andere Angriffe fanden noch statt, und man kann die Ereignisse unbestreitbar einen Kreuzzug nennen, wenn sie auch nicht so organisiert abliefen wie späterhin. Als das sächsische Heer gegen Demmin marschierte, waren die Bischöfe von Mainz, Münster, Merseburg, Brandenburg und Olmütz dabei, neben dem päpstlichen Legaten Anselm von Havelburg. Diesem Kreuzzug gelang es, einen heidnischen Tempel und Götterbilder in Malchow zu verbrennen, aber im großen Ganzen hat er seine Ziele nicht erreicht.

Es gab auch einige Christen, die auf die gewalttätige Methode reagierten. Unter anderen einen Bischof aus Pommern. Nachdem er die Kreuzfahrer von Stettin hatte ausziehen sehen, sagte er: »Wenn sie gekommen wären, um den christlichen Glauben zu stärken, hätten sie es durch Predigen und nicht durch Waffen getan«.22) Ein anderer Bischof, der bewußt versucht hat, die von den Kreuzzügen herrührende Gewalt zu dämpfen, ist der dänische Bischof Eskild in Lund (im jetzigen Schweden). Der Zisterzienser Eskild, der übrigens ein guter Freund von Bernhard und eine bedeutende Geistespersönlichkeit war, die in Lund eingesetzt wurde, haßte die Slawen nicht. Er hatte gute Verbindungen zu den Wenden, die keinerlei Krieg gegen ihn führten, und er war es allem Anschein nach, der im Jahre 1171, als König Waldemar mit Herzog Heinrich dem Löwen von Sachsen im Streit lag, in Oldenburg die Dänen hinderte, die Kirche zu plündern und die Bevölkerung zu töten.

Nach dem Jahre 1147 wurde der Krieg gegen die Slawen ohne päpstliche Autorisation und ohne das übliche Kreuzzugsverfahren geführt. Aber Papst Alexander lll. sandte dennoch seinen Glückwunsch an den dänischen Bischof Absalon, als dieser zusammen mit König Waldemar Rügen im Jahre 1169 erobert hatte. Von diesem Zeitpunkt an sind die dänischen Zisterziensermönche ins Land eingeströmt, um die Pommersehen Klöster, wie Dargun im Jahre 1172 und Kolbacz in der Nähe von Stettin im Jahre 1175, zu übernehmen. Aber erst mit dem Einsatz der Schwertritter (Schwertbrüder) und der Deutschen Ritter (des Deutschen Ordens) im Baltikum und dem Ostseegebiet beginnt die eigentliche Christianisierung.

Die Schwertritter oder Fratres Militie Christi de Livonia, wie ihr eigentlicher Name war, begannen ihre Wirksamkeit in Riga um 1202 oder 1203. Riga war dem deutschen Bischof Albrecht von Buxtehude unterworfen, der die Stadt im Jahre 1201 gegründet hatte und der von dieser Stelle aus versuchte, die Livländer zu Christen zu machen. Bischof Albrecht und Bischof Theoderik hatten eine Gruppe von Rittern gebildet, die den Kreuzzugseid geleistet hatten, und Albrecht bat sie, in einer permanenten Garnison unter ihm zu dienen.

Die Schwertritter trugen weiße Mäntel, genau wie die Tempelritter, mit Abzeichen auf der linken Schulter: einem roten Schwert und einem kleinen Kreuz. Eine Hauptquelle zum Verständnis der Schwertritter ist die Livonische Chronik von Heinrich von Lettland.23) und eine andere wichtige Dokumentation und gründliche Übersicht ist Der Orden der Schwertbrüder von Dr. F.G. von Bunge.24)

Laut neuerer Forschung waren die Ritter von adliger Geburt, und ihre Ordensregel zeigt, daß sie dieselbe Regel wie die Templer hatten, die von Bernhard von Clairvaux selber geschrieben war. Im Äußeren gleicht dieser Orden, wie auch der Deutsche Ritterorden, den Templern, mit der Ausnahme, daß sie nicht als internationale Bankiers gewirkt haben – das heißt, sie arbeiteten nicht für ein neues soziales Umgehen mit Geld. Sie hatten aber dasselbe Armutsideal wie die Templer. Die Schwertritter waren in die Ritterbrüder, die Priesterbrüder, die Dienenden Brüder und die Mitbrüder des Ordens eingeteilt. Der Leiter war der Ordensmeister (Hochmeister), der in Zusammenarbeit mit dem Konvent des Ordens wirkte.

Ich möchte hier einige Beispiele des Inhalt ihrer Struktur und ihrer Regel geben: »Jeder Bruder ist zur regelmäßigen Abwartung des täglichen und stündlichen Gottesdienstes verpflichtet. Nach dem Beginn des letzten Abendgottesdienstes (der Complete) bis zur ersten Morgenandacht (der Prime) soll jeder Bruder tiefes Schweigen beobachten, welches nur in Notfällen gebrochen werden darf.« Mit anderen Worten, die Schwertritter versuchten, einem der großen Ideale des Mittelalters nachzukommen: sowohl das sogenannte vita contemplatio, das heißt das nach innen gekehrte meditative Leben, als auch das vita activa, das nach außen gekehrte aktive Leben, zu pflegen. Heute etwa leben die meisten Menschen nur in einem vita activa, aber das ist ja eine andere Sache.

Gleich den Templern standen sicher auch die Schwertritter in einem Leben, das überwiegend aktiv, nach außen gerichtet war: »Die Brüder müssen sich gegen einander friedfertig verhalten, aber auch auf einander achten. (. . .) Sie speisen alle, den Meister und die übrigen Vorgesetzten nicht ausgenommen, an demselben gemeinschaftlichen Tische. (. . .) Die Kleidung der Brüder soll einfach, von derselben Farbe – je nach den Klassen: weiß, schwarz oder braun – und von groben Zeuge (burellum) sein«. Auch in ihren Vergnügungen waren die Brüder durch ihre Gelübde, namentlich durch das der Armut, beschränkt.

Allein diese kleine allgemeine Introduktion kann einen dazu anregen, die Frage zu stellen, ob es richtig ist, wenn einzelne oberflächliche neuere Geschichtsbücher die Schwertritter beschreiben als eine Schar rücksichtsloser Räuber, die nur an Gewalttätigkeit, Eroberung und Plünderung dachten.

Auf dem weißen Mantel der Ritterbrüder des Schwertordens war ein rotes Schwert und über diesem das Kreuz der Templer angebracht. Das Zeichen des Schwertes sollte die Schwertritter nicht bloß von den Templern unterscheiden, sondern auch zeigen, daß sie den letzteren nicht untergeben waren.

»Das Schwert empfange aus meiner Hand / Zu schützen Gotts und Marien Land«, so heißt es in mehreren Berichten über die Schwertritter und die. Deutschritter. Was hinter dem Ausdruck »das Marienland schützen« liegt, darauf werde ich am Ende meines Vortrages zurückkommen.

Die dienenden Brüder saßen mit den Rittern und Priestern an einer Tafel und wurden von jenen in jeder Art als Bruder behandelt. Und zu den Mitbrüdern gehörten wahrscheinlich ausnahmsweise auch verheiratete Brüder. Der Meister wurde von den Ordensbrüdern aus dem Konvent gewählt. Seine Residenz hatte er in Riga. Auch war ihm, wie dem Großmeister der Templer, ein Ordenspriester, Capellan, zugeordnet, der vermutlich auch als Ratgeber fungierte. Zur Schatzkammer des Ordens hatte der Hochmeister keinen Schlüssel.
Bevor wir auf die Deutschen Ritter und schließlich auf die geistigen Hintergründe dieser gewaltsamen und blutigen Kreuzzüge kommen werden, sehen wir uns noch kurz die Ausbreitung der Schwertritter und den Gegensatz Norddeutschland-Dänemark im Zusammenhang mit der Eroberung des Baltikums an.

Die Christianisierung ging wie bekannt unter Zwang und Gewalttätigkeiten vor sich, aber nicht nur mit harten Mitteln. (Ich erwähne dies nur, um eine kleine Nuance ins Bild zu bringen.) Zum Beispiel setzte Bischof Albrecht von Riga im Winter von 1205/06 ein Wunderspiel auf, um den Livländern den Inhalt des Christentums nahezubringen. Welche Resultate es gab, weiß ich noch nicht. Aber einige der Letten scheinen nach und nach das Christentum akzeptiert zu haben.
1211 marschierten die Schwertritter zusammen mit christlichen Letten gegen das Fort Fellin (Viljandi), das die Estländer hielten. Der Garnison wurde angeboten, daß sie ihr Leben behalten könne, falls sie sich zum Christentum bekehren werde. Das verweigerte sie, und viele wurden getötet. Die Belagerung dauerte fünf Tage, und die Schwertritter kehrten zu ihrem Angebot zurück: Wer Christ wird, kann sein Leben behalten. Und die Esten antworteten: »Wir erkennen, daß euer Gott größer ist als unsere Götter. Dadurch, daß ihr uns besiegt habt, hat euer Gott uns dazu gebracht, ihn anzubeten.«25)

Das ist eine rüde Weise zu christianisieren. Aber sie besagt auch, in diesem Fall, etwas über die Mentalität der alten Esten: eben daß es mehr auf die physisch-kriegerische Kraftprobe ankam als darauf, den Gegner mit Worten zu überzeugen.

Ähnliche Beispiele finden wir In den Geschichten über die Bekehrung der nordischen Wikinger zum Christentum. Während die Schwertritter, und in einem noch höheren Grade die Deutschen Ritter, der christlichen Verstandesseelenkultur des Mittelalters entsprungen waren, lebten sowohl die vorchristlichen Balten als auch die Wikinger des Nordens noch in der Empfindungsseelenkultur oder ähnlichen älteren Bewußtseinsformen.

Ein anderes Problem am Anfang des 13. Jahrhunderts ist, daß faktisch eine konkurrierende Missionswirksamkeit zwischen Dänemark und Norddeutschland herrschte. Dietrich von Treiden, einer von Albrechts Gefolgsleuten, wurde im Jahr 1211 Bischof von Estland, das kirchenrechtlich aber weiter zum dänisch-schwedischen Lund gehörte. 1219 tauchte der Dänenkönig Waldemar ll. vor der Küste auf. Er besiegte die vom Krieg gegen die Deutschen geschwächten Esten und eroberte die Stadt Tallinn (Reval). Seine Herrschaft währte allerdings nur vier Jahre.

Bleiben wir einen Augenblick bei diesem Thema. Es war ja gerade während des Schlages gegen die Estländer 1219, daß Dänemark laut der Überlieferung seine Flagge Danebrog erhalten hat. Diese Flagge mit dem weißen Kreuz auf dem roten Hintergrund enthält unbestreitbar eine Art Kreuzsymbolik. Der Papst war es, der 1209 den dänischen König Waldemar zum Kreuzzug gegen Estland aufforderte, aber man weiß nicht, ob er dem König Waldemar eine Kreuzzugsfahne zugeschickt hat, andere Fürsten in gleichen Situationen hatten bis dahin eine solche erhalten.

Es ist etwas rätselhaftes um die Danebrogs-Legenden, über die dänische Flagge, die während des Kampfes vom Himmel heruntergefallen sei. Es gibt keine Mittelalter-Quellen zu dieser Frage. Die älteste bekannte Erwähnung der vom Himmel herunterfallenden Danebrog findet man bei zwei Geschichtschreibern aus der Renaissance. In Christien Pedersens Dänischer Chronik vom Beginn der 1520er Jahre heißt es, einige meinen, daß Waldemar Sejr während des Zugs nach Estland im Jahre 1208 »Danebrog aus dem Himmel heraus sich schenken lassen sollte, und es ist ein weißes Kreuz in einem roten Feld«. Andere Quellen aus der Renaissance sind der Meinung, daß dies während des Schlages gegen Estland 1519 gewesen sei.

Jedenfalls ist es möglich, daß »die aus dem Himmel heruntergefallene Flagge« als eine Imagination verstanden werden kann, die einen künftigen friedvolleren Kontakt zwischen der skandinavischen Geistesströmung aus dem Norden, mit Dänemark als erstem Vertreter, und dem nördlichen Teil des Baltikums ankündigt – während der südliche Teil des Baltikums ja geographisch, handelsmäßig und kulturell mehr an die kontinentale Strömung aus dem Süden über Deutschland und Zentral-Europa geknüpft ist. In diesem Zusammenhang ist es interessant, daß der Papst 1238 dafür sorgte, daß die Deutschen Ritter und der Rest der Schwertritter, die zu diesem Zeitpunkt in den Deutschen Ritterorden eingegangen waren, Reval und das nördliche Estland an den dänischen König zurückgaben.

Zwei Jahre vor diesem Ereignis, im Jahre 1236, hatte sich eine dramatische Wende vollzogen, die die Schwertritter zur Auflösung brachte. Die Schwertritter hatten längst den Großteil von Livonia erobert und dabei selber ein Drittel des von ihnen eroberten Landes behalten, während der Rest dem Bischof von Riga unterworfen wurde. Aber 1236 traf, wie erwähnt, die Wende ein. Hochmeister Folkwin wurde dazu überredet, eine Invasion in Litauen einzuleiten. Vom Prinz von Pskov unterstützt, marschierten die Schwertritter weit nach Litauen hinein, bis Saule (Siaulai). Aber als der Prinz von Pskov entdeckte, daß die Schwertritter unwillig waren, zu kämpfen, weil sie Angst davor hatten, ihre Pferde in den Sümpfen zu verlieren, griffen die Litauer an. Laut der Livländischen Reimchronik wurden sie »wie Frauen niedergemäht«. Das war das Ende des Schwertritterordens, und die verbliebenen Ritter, die sich andernorts aufhielten, wurden im Mai 1237 den Deutschen Rittern zugeordnet, mit Hermann Balk, dem Meister in Preussen, als dem Oberhaupt von Livonia. Für etwa 33 Jahre hatte diese Bruderschaft existiert.

Die Deutschritter waren ein in vieler Beziehung mächtigerer und wohletablierterer Orden als die Schwertritter. Die ersten Wurzeln dieses Ordens finden wir in Jerusalem des Jahres 1127. Damals stifteten die deutschen Kreuzfahrer das Sankte-Maria-Krankenhaus in Jerusalem.26) Und im Jahre 1190, das als das offizielle Gründungsjahr angesehen wird, haben einige deutsche Kaufleute von Bremen und Lübeck ein Krankenhaus in Acre im Heiligen Land grundgelegt. Von 1198 ab wurde die für Jahrhunderte tragende innere Struktur der Deutschen Ritterordens geschaffen. Eine interessante Zweiheit prägte den Orden ab 1198: Für den Krankenhausbereich galt die Johanniterregel, für den militärischen Bereich die Templerregel. Wenig später dürfte die eigene Regel erarbeitet worden sein.

Ich werde hier nicht auf die Struktur der Deutschen Ritter eingehen, da sie im großen Ganzen der der Templer und der Schwertritter ähnlich ist. Aber es ist interessant, daß die Deutschen Ritter ein bestimmtes Verhältnis zu den Zahlen zwölf und dreizehn gehabt haben müssen, man darf wohl auch annehmen, daß die Schwertritter und die Templer in dieser Beziehung dieselbe Struktur gehabt haben. Es handelt sich um den Aufbau des Konvents: Zum Konvent gehören, an Christus und seinen Jüngern orientiert, zwölf Brüder und ein Komtur. Dieser Sinn für das Zahlverhältnisses zwölf plus eins existiert sowohl innerhalb der Zisterzienserwirksamkeit wie auch in der Arthurströmung und dem irisch-keltischen Christentum.

o - Abbildung 01 – Der Deutsche Orden zur Zeit seiner grosten Ausdehnung im Jahre 1407

Zum anderen hatte die Mariagestalt für diesen Ritterorden eine zentrale Bedeutung, was bei den Templern in dieser Weise nicht der Fall gewesen war. Als sich die Deutschen Ritter, nachdem sie lange im Heiligen Land tätig gewesen waren, 1226 im Kulmerland südlich von Danzig (heute Gdansk) niederließen, träumten sie davon, ihren Ordensstaat unter dem Namen Marienland in den nordöstlichen, teils baltischen, teils polnischen Gebieten zu begründen. Bevor wir näher darauf eingehen, werden wir uns die Ausbreitung dieses Ordens in großen Zügen ansehen (siehe Abb. 1: Der Deutsche Orden zur Zeit seiner größten Ausdehnung im Jahre 1407).

Während die großen Burgen der Schwertritter neben Riga zum Beispiel Wenden und Saaremaa waren, eroberten die Deutschen Ritter in den 1240er Jahren Kurland, und 1290 hatten sie ihre Macht konsolidiert im größten Teil von Livland. Nur das nördliche Estland war noch nicht unter der Macht der Kreuzritter. Es blieb dänisch bis zum Jahr 1346, als Waldemar VI. es an die Deutschen Ritter verkaufte.

Der Orden der Deutschen Ritter existierte bis in die Zeit von Reformation und Renaissance. 1525 trat der Großmeister des Ordens, Albrecht, zum Protestantismus über. Bei dieser Gelegenheit gab er seinen Titel auf und wurde Herzog unter dem polnischen König. Danach bestand der Ordensstaat nur noch aus Estland, Livland und Kurland, und 23 Jahre später, im Jahre 1548, war auch dieser letzte Teil zerfallen.

Welchen Ordensstaat haben die Deutschen Ritter sich gewünscht? In den Kämpfen in Pommerellen und Preußen starben ungefähr 40 000 Deutsche. Dies besagt etwas darüber, wie groß die Ritter-Streitkräfte waren; wobei hinzugefügt werden muß, daß die Deutschen Ritter auch mit kleineren Kreuzfahrerritterorden zusammenarbeiteten, zum Beispiel den sogenannten Rittern von Dobrzyn.27)

Der Ordensstaat wurde Marienland genannt, und das Hauptzentrum war Marienburg (nach 1945 Malbork genannt). Die Deutschen Ritter schufen eigentlich eine Föderation, die aus fünf Staaten bestand. Während Marienburg die geistige Hauptstadt war, wurde Wenden die politische. Ein Netz von sechzig stark befestigten Burgen bildete die Basis der Herrschaft. Diese bestand darin, daß der Lehnsherr ein Gut zur freien Verfügung verlieh, das den Empfänger, der Vasall genannt wurde, zu Kriegsdienst und ritterlicher Treue verpflichtete. Die Vasallen des Deutschen Ordens waren keineswegs machtlose kleine Bauern oder Leibeigene, sondern Adelige, Ritter oder zumindest Freie, die überwiegend zu den Deutschen gehörten. Ein wohlgeordnetes Staatswesen hatten die Deutschritter begründet.

Unter den Deutschen Rittern in Marienland herrschten starke Einschläge von ehrbarer Ritterkultur und Minnesang. Auf den Burgen, und besonders auf Marienburg, gab es oft Sängerwettbewerbe, so erzählen die Quellen, und viele meinen, daß sie sich mit dem, was auf der Wartburg vor sich ging, messen konnten. Dieses Element haben die Schwertritter allem Anschein nach nicht gehabt, aber wir wissen das nicht mit Sicherheit.

Die Deutschen Ritter zeigten im 14. Jahrhundert auch Ansätze einer literarischen Bildung, wenn auch die meisten der Ritter nicht lesen konnten. Mehrere der Brüder schrieben Bibelkommentare, und überdies zur apokryphen Literatur. Frater Heinrich von Hesler (um 1300) schrieb unter anderem einen Kommentar zum Nicodemus-Evangelium eine Schrift, von der viele Gralsforscher meinen, daß sie mit der Tradition des Gralsdichters und Ritters Robert de Boron zusammenhängt. Und Frater Hugo von Langenstein (um 1290) schrieb die Meinauer Naturlehre, ein verwunderliches Werk, das unter anderem Geographie, Astronomie und Medizin abhandelt. Der Orden muß, mit anderen Worten, eine spirituelle Tradition von einer mehr mystischen Art gehabt haben, die zum Beispiel bei Frater Peter von Dusburg hervortritt, der um 1330 eine der besten Quellen zu den Deutschen Rittern verfaßte, die Chronica Terre Prussie.

Zu der Frage: Was waren die geistigen Hintergründe des nordischen Kreuzzuges und der Deutschritter? möchte ich nun die folgenden Vermutungen äußern: Im allgemeinen läuft die Christianisierung und der Kreuzzuggedanke im Norden darauf hinaus – jedenfalls auf einer verborgenen Ebene – die Preußen und die Balten an der kontinental-christlichen Verstandes- und Gemütsseelenkultur Teil haben zu lassen. Daß dieser Prozeß so viele blutige Kriege und Menschenleben forderte, ist an sich eine Tragödie. Ich habe mir aber manchmal die Frage gestellt, ob dies in irgendeiner anderen Weise hätte vorgehen können. Nach mehreren der zeitgenössischen Quellen über die Kreuzzüge im Baltikum, die von der Seite der Eroberer herrühren, waren viele der Missionare und der Ritter über ein Element in den baltischen Naturreligionen tief schockiert, und das war das Menschenopfer. Diese Praxis muß unbedingt die Aggression von Seiten der Kreuzzugsritter angeregt haben.

Auf den russischen Druck auf das Baltikum bin ich nicht zu sprechen gekommen. Ich möchte aber hier den generellen Aspekt mit der folgenden Betrachtung schließen: Schon in Bezug auf die deutschen, skandinavischen und russischen Strömungen im 13. Jahrhundert scheint es, als wenn diese Kollisionen und die Kämpfe in gewisser Weise das baltische Volk auf die Rolle vorbereiteten, die es schon heute und in die Zukunft hinein haben wird: ein freies Gebiet zu sein, das die Geistesströmungen, die Religion und die Wissenschaft des Westens vermitteln und bearbeiten kann, eine Brücke zur kommenden russischen spirituellen Kultur bildend. Diese Aufgabe zu erfüllen wird nur möglich sein, wenn die russische Macht sich zurückhielt.

Die Verstandes- und Gemütsseelenkultur, die die Deutschen Ritter mit Zwang dem Baltikum implantierten – und die ihnen vielleicht nicht so gelang, wie sie sollte – hat jedenfalls zwei Aspekte. Der eine ist die gelehrte christliche Philosophie, die sich ja eben um die Entwicklung der Verstandeskräfte im Verhältnis zur spirituellen Welt bemüht. Der andere Aspekt weist auf die Bildung des Gemüts: Die ehrbare Minnesangskultur wirkte auf die Gemütskräfte im Mittelalter ebenso bildend ein, wie dies mit der Arbeit in den sieben freien Künsten oder der Verwandlung der Laster und Todsünden zu Tugenden der Fall war.

Es mag für einen modernen Menschen schwierig sein zu glauben, daß die barschen Kreuzzugsritter mit einer Selbstschulung arbeiteten. Aber dies war zu einem gewissen Grade tatsächlich der Fall. Selbst im Alltag. So galt bei den Templern wie bei den Deutschen Rittern und den Schwertrittern zum Beispiel das Gebot, das Lästern über seinen Nächsten zu vermeiden.

Um ein tieferes Verständnis für die Deutschritter, die Schwertritter mit eingeschlossen, zu erreichen, müssen wir – wie dies der anthroposophische Historiker Karl Heyer schon getan hat28) – die Deutschritter im Lichte der zwei anderen großen Kreuzfahrerorden sehen, der Johanniter und der Tempelherren.

Heyer und Rudolf Steiner zufolge war es einer der geistigen Hintergründe für die Errichtung dieser drei Kreuzritterorden, daß das Christentum einen anderen Ausgangspunkt als Rom finden mußte, um sich allgemein erneuern zu können. Für diese Orden wurde der ursprüngliche Ausgangspunkt Jerusalem. Also es lag ein Bestreben vor, näher an die ursprüngliche Entstehungsstelle des Christentums auf der Erde zu kommen.

Aber um dieses möglich zu machen, mußte das Schwert nicht nur neben, sondern meistens vor dem Kreuz gebraucht werden! Wir könnten es auch auf diese Weise auslegen: Während das Schwert Wunde und Schmerz schafft, heilt dann das Kreuz.

Von den drei Orden hatten die Tempelherren den stärksten esoterischen Einschlag, und die Tempelherren kamen über die Handlung (vita activa) zu Geisterlebnissen. Der Orden breitete sich von Osten aus gegen Westen, und er gab unter anderem erneuernde Antriebe für das wirtschaftliche Leben. Während die Hospitaliter (Johanniter) sich im Osten aufhielten und auf vielerlei Weise einer nach innen gekehrten, tröstenden und pflegenden Tätigkeit nachgingen, wurden die Deutschritter erst richtig tätig in Zentral- und im nördlichen Europa.

Diese dreigegliederte Verschiedenheit kann auch auf eine andere Weise ausgedrückt werden: Die Tempelherren suchten in ihrem esoterischen Kern das Christus- und Gralsmysterium, die Johanniter suchten mehr Johannes und eine Heilige Geist-Eingebung, und die Deutschritter suchten die seelische Maria-Eingebung. Diese Maria-Eingebung bedeutete für die Deutschritter, das »Seelisch-Soziale« gemeinschaftlich und organisatorisch im Zusammenhang ihrer Staatenbildungen zu entwickeln.

Es ist in diesem Zusammenhang interessant, daß einer der bedeutendsten Großmeister, Hermann von Salza, der politische Ratgeber von Kaiser Friedrich ll. war.

Und noch interessanter ist es, daß die Föderation der Deutschritter in fünf Gebiete eingeteilt war! Fünf waren die Blätter und Eigenschaften der Rosa mundi – Maria als die Rose der Welt. Dies enthält auch Anspielungen auf die fünf Buchstaben im Name Marias.

Besonders im 12. Jahrhundert bekam der christliche Mariakult neue, symbolische Aspekte. Sowohl in der mystischen Tradition wie in der Kunst und der Literatur. Maria wird auch als die Seele des Menschen betrachtet, die durch die Kontemplation das Wort (den Logos) gebären soll. Wir können dies mit der Braut-Bräutigam-Mystik von Bernhard von Clairvaux vergleichen, aber auch in Teilen der Troubadourdichtung wird Maria als die selige Instanz besungen, nach der der Mensch sich sehnt und durch die der Christus, das Weltenwort, geboren werden soll.

Im Zentrum der Marienburg ragte eine große Maria-Statue empor, und die Steingebäude selbst scheinen aus einer verfeinerten architektonischen Empfindung heraus gebaut worden zu sein. Der Poet Eichendorff aus dem 19. Jahrhundert sagte über diesen Bau, daß er zu Stein verwandelte Musik sei.

In aphoristischer Weise gesagt – die sicher nicht anhand äußerer Quellen belegt werden kann – sollten Marienland und die baltischen Länder darauf vorbereitet werden, eine Brücke zum Sophienland zu bauen; das heißt zu dem Weisheitschristentum, das sich noch keimhaft in die russische Kultur der Zukunft hinein entwickeln soll.

Ein anderer Aspekt, den ich noch nicht ausreichend dokumentieren kann, ist die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Arthur-Strömung, die ursprünglich urkeltisch ist, und den Schwertrittern und den Deutschen Rittern gibt.

Im runden Burgraum in Jürgenhof in Riga, der einmal die Versammlungsstelle der Schwertritter und der Deutschen Ritter gewesen ist und vermutlich die Versammlungsstelle ihres Konvents war, steht eine Statue von König Arthur. Sie entstammt dem frühen 16. Jahrhundert oder dem späten 15. Jahrhundert. Sie ist die Kopie eines in Innsbruck befindlichen Originals von dem großen Bildhauer Peter Vischer der Ältere (1455 bis 1529), der unter Kaiser Maximilian I. arbeitete. Walter Johannes Stein zufolge ist das Bemerkenswerte in diesem Zusammenhang, daß Kaiser Maximilian die Meinung hatte, mit König Arthur selbst verwandt zu sein, und daß er Vischer zu dem großen Projekt benutzte, über das ganze Europa hin Skulpturen aufzustellen, die Gestalten aus der Arthur- und Gralsdichtung darstellen.

In dem 13., 14. und besonders im 15. Jahrhundert gab es in England und Europa eine Renaissance der Arthur-Idee. Mehrere Engländer waren als Deutschritter im Baltikum, unter anderen Henry Bolingbroke, der später König Heinrich IV. von England wurde. Ist es möglich, daß auch die Deutschen Ritter, so wie die meisten Ritterschaften am Ende des zwölften Jahrhunderts und in den darauffolgenden Jahrhunderten, von Arthur und dem Gedanken der Tafelrunde inspiriert waren?

Die Idee der Arthurströmung war ja, laut Rudolf Steiner, eine bestimmte neue Art Zivilisation überall in Europa zu verbreiten, eine Zivilisation, die zu einer kosmisch-irdischen Form von Sozialität zu kommen suchte, in der der König oder der Meister den zwölf anderen um den Tisch gleich gestellt war. Ein Bild, das auf eine neue Form von Zusammenarbeit hinweist, eine Zusammenarbeit, die darauf hinausläuft, daß die Verschiedenheiten einander ausfüllen und ergänzen können.

Es waren die Dichter Layamon und Wace29), die am Ende des 12. Jahrhunderts zum ersten Mal über die Idee vom Runden Tisch geschrieben haben. Wie weit solche Impulse auch in die Ideen hinter dem Konvent der Templer, der Schwertritter und der Deutschen Ritter mit zwölf Teilnehmern und dem Großmeister hineingespielt haben, muß vorläufig offen bleiben. Daß das Arthurwesen sich bis ins Baltikum verbreitet haben soll, kann, soweit ich es jedenfalls überblicke, nicht im Äußeren dokumentiert werden.30) Aber es ist zumindest interessant, daß Geoffrey of Monmouth in seinem Buch The History of The Kings of Britain31) aus dem Jahre 1136 darauf Wert legt, daß Arthur und seine Männer tatsächlich »die ganze Welt« erobert haben. Wir wissen, daß dies rein äußerlich nicht der Fall gewesen sein kann. Die Geschichte von Geoffrey wird von mehreren Forschern abgelehnt, aber vielleicht müssen seine Aussagen darüber, daß Arthur und die Ritter der Tafelrunde sich über die ganze Welt ausbreiteten, allegorisch verstanden werden, wie so viele ähnliche Aussagen in der Literatur des Mittelalters.

Ungeachtet dessen, inwieweit das Arthurwesen durch die Deutschen Ritter in das Baltikum gelangt ist, werden doch die Zukunftsaufgaben in diesem Licht aktueller: Sowohl Russen, Skandinavier, Finnen als Deutsche müssen, mit einer anderen Einsicht als jener der Verstandesseelenkultur des Mittelalters, das offene Baltikum und das Ostseegebiet als einen wahren künftigen Vermittler zwischen dem Besten des westlichen Geistes – sofern ein solches noch übrig bleiben wird – und der kommenden christlichen Sophia-Spiritualität aus dem Osten schützen.

19) Hans Erhard Lauer: Die Volksseelen Europas. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1965
20) Eric Christiansen, The Northern Crusades. The Baltic and The Catholic Frontier 1100-1525. The Macmillan Press, London 1980
21) The Quest of The Holy Grail. Penguin, Harmondsworth 1969
22) Vincent von Prag, Annalen. Monumenta Germaniae Historica: Scriptores rerum germanicarum, Red. K.H. Pertz, T. Mommsen, Hannover, Berlin 1826
23) The Chronicle of Henrv of Livonia. Madison, Wisc., USA 1961
24) F.G. v. Bunge, Der Orden der Schwertbrüder. Verlag von E. Bidder, Leipzig 1875
25) The Chronicle of Henrv of Livonia. Madison, Wisc., USA 1961
26) Desmond Seward, The Monks of War. Paladin St. Albans 1974
27) Josef Fleckenstein und Manfred Hellmann, Die Geistlichen Ritterorden Europas. Jan Thorbecke Verlag, Sigmaringen 1980
28) Karl Heyer, The Middle Ages. Steiner Schools Fellowship Publications G.B.1994
29) Wace and Layamon, Arthurian Chronicles. Everyman’s Library, London / Melbourne 1986
30) Hans-Jørqen Høinæs, Rundebordets ide i middelalderens Arthurdlktning, artikkel i Middelalderforums Skriftserie, Middelalderforum, Historisk Avdeling, Universitet i Oslo, Blindern 1995
31) Geoffrey of Monmouth, The History of the Kings of Britain. Penguin, Harmondsworth 1988

Über den Geist des Nordens – Oskar Borgman Hansen

Über den Geist des Nordens
Oskar Borgman Hansen

Verehrte Anwesende, liebe Freunde,

so kurz unsere Zusammenkunft ist – wir sind erst seit vorgestern hier beieinander – die Beiträge fangen an sich zu ergänzen, und was wir gerade jetzt von Hans-Jørqen Høinæs auseinandergesetzt gehört haben, schließt sich zusammen mit dem, was Manfred Schmidt-Brabant anfangs gesagt hat. Und ich versuche jetzt an das anzuknüpfen, womit Høinæs abgeschlossen hat: Es geht darum, so sagte er, den Übergang zu finden vom Marienland zum Sophienland. Wir haben in die Vergangenheit zurückgeschaut, und im Zusammenhang mit dem Sophienland hat Høinæs etwas angedeutet, was in die Zukunft führt. Es ist ja nicht nur der Weg von der Vergangenheit in die Zukunft damit angedeutet, sondern mit dem Wort Marienland hat die Vergangenheit eine Qualität bekommen, und mit dem Wort Sophienland spricht man ja auch von einer Zukunftsqualität. Und um zu untersuchen, wie der Weg von der Vergangenheit in die Zukunft geht, müssen wir auch einen Augenblick bei der Gegenwart verweilen. Und der Augenblick ist ja das, was Vergangenheit von Zukunft trennt.

Wir sind hier auf einer Insel in der ehemaligen DDR, jetzt in der Bundesrepublik, in dem Jahr 1995. Das ist unsere Gegenwart. Wir schauen zurück, und wir schauen in die Zukunft. Wir schauen eventuell besorgt in die Zukunft. Und einige von denen, die in die Zukunft schauen, sind eigentlich so ziemlich befriedigt, wenn sie jetzt annehmen, daß der Osten von Europa die Tugenden des Westens anzunehmen habe und diese Tugenden gewiß auch annehmen werde: Marktwirtschaft, Demokratie, Menschenrechte. Wir wissen, daß der Westen dem Osten das zu geben hat. Andere aber finden die Situation sehr besorgniserregend, daß der Westen dem Osten so wenig zu bieten hatte. Oft spricht man vom Westen dem Osten gegenüber. Und für die Politiker ist der Westen dem Osten gegenüber fast ein selbstverständlicher Begriff. Wer spricht denn vom Westen, von der Mitte und vom Osten, wenn man von Schülern von Rudolf Steiner absieht? Und sogar viele Schüler von Rudolf Steiner reden auch so, als ob die Welt zweigeteilt wäre, als gäbe es vor allem einen Westen, und wir gehören zum Westen, und jetzt gehört die frühere DDR auch zum Westen. Man hofft, daß das ganze frühere kommunistische Europa westlich werden kann mit Hilfe der Ideale des Westens. Man vergißt, daß es Ideale der Mitte gegeben hat. Oder darf ich sagen: gibt? Hat es die Ideale der Mitte gegeben, oder gibt es sie noch? Ich glaube, es gibt sie, wenn wir es wollen. In diesem Augenblick kann es die Ideale der Mitte schon geben.

Um das wahrzunehmen, dafür müssen wir differenzieren. Und deshalb reden wir vom Ostseeraum. Da denken wir an eine unglaubliche Differenzierung. Wenn wir nur vom Sprachlichen allein ausgehen, da grenzen an diese Ostsee slawisch sprechende Völker, Polen, Russen – und das ist ja nicht so ungefähr dasselbe, obgleich die Sprachen einander so ähnlich sind! – und dann haben wir die baltischen Völker und denken an die sprachliche Verwandtschaft der Letten und Litauer. Aber wenn man von den Balten spricht, dann vergißt man meist, daß es da die Prussen gegeben hat als den dritten Bestandteil dieser baltischen Gruppierung. Die Prussen oder die Preußen, die sich so mutig der Christianisierung widersetzten, so daß da grausame Kriege stattgefunden haben durch Generationen hindurch auf dem Gebiet, wo die Prussen lebten, das dann Ostpreußen wurde. Dieses Volk ist verschwunden, und wir haben von der dritten baltischen Sprache nichts erhalten als nur zwei Übersetzungen des Katechismus von Luther, als ob da etwas ausgestorben wäre. Aber das Volk wurde ja nicht ausgerottet, es wurde überwunden und ging dann in dem Ordensstaat auf, und allmählich verlor sich die preußische Sprache; lediglich zwei verschiedene Übersetzungen des Katechismus des Luther hat man bewahrt als einziges Sprachdenkmal der Prussen oder Preußen. Also zu der Differenzierung gehört auch, daß wir der Völker gedenken, die verschwunden sind.

Und dann haben wir an diesen Ostseeraum angrenzend an das Meer die germanisch sprechende Bevölkerung, die Deutschen, die Schweden, die Dänen, und im Hintergrund die Norweger, die nicht ganz dazugehören zum Ostseeraum, aber vielleicht einigermaßen doch dazugehören. Dann haben wir noch die finnisch sprechenden Völker, nämlich die Finnen und die Esten, und hierzu gehören noch eine Reihe von kleinen Splittern, die ich hier nicht beschreiben kann, weil das zu lange dauern würde, ich denke zum Beispiel an verschiedene finnisch sprechenden Gruppierungen am finnischen Meerbusen, einige von ihnen sind jetzt auch ganz verschwunden, ausgestorben. Also ein reich differenziertes Gebiet. Und trotzdem reden wir auch als von einem Gebiete mit einer gemeinsamen Zukunftsaufgabe – oder richtiger: wir hoffen, daß es eine haben wird. Und das ist jetzt das Gemeinsame. Können wir es ein wenig näher beschreiben?

Wir sind auf der Insel Rügen. Da ist es ganz natürlich, daß wir noch einmal an die Eroberung dieser Insel durch den dänischen König Waldemar den Großen, den Ersten denken. 1168-69 fand die Eroberung oder Übergabe statt. Und wir haben eine ziemlich genaue Beschreibung des ganzen Verlaufs von dem dänischen Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus, der etwas jünger war, aber alles von Augenzeugen erzählt bekommen hatte, so daß die ganze Schilderung etwa dreißig Druckseiten umfaßt. Das war ja ein Bestandteil der Ausbreitung des Christentums mit Waffengewalt: Entweder Ihr laßt euch taufen, oder wir töten euch, das war die großzügige Wahl der damaligen Christen, wie Høinæs das so lebhaft geschildert hat. In dänischen Geschichtsbüchern können Sie allerdings auch lesen: Die wendischen Seeräuber haben immer wieder die dänischen Küsten geplündert, besonders Falster und Lolland – diese waren vor den wendischen Seeräubern schlecht geschützt –, und deshalb mußte die höhere Kultur die Seeräuber überwinden und zivilisiert machen, und deshalb war es eine Kulturtat, als die Dänen dann zurückkamen und die Seeräuber »besänftigten«. Da ist etwas dran. Lesen wir bei Saxo Grammaticus, wie es damals geschehen ist.

Die Dänen lagen vor Arkona, und es sah so aus, als ob eine Einnahme unmöglich wäre, denn der Burgwall konnte nicht gestürmt werden, und das einzige Tor war zu hoch gelegen, es gab nur die Möglichkeit, die Stadt Arkona auszuhungern. Aber man wußte nicht, wieviel Vorrat da war und ob es gelingen könnte vor dem Herbst, wo dann die dänischen Flotten zurück mußten, die Arkona-Bewohner auszuhungern. Aber ein dänischer Junge war dabei, und der hatte am Wall unterhalb des Tores, da, wo die Leitern aufgehißt waren, in der Erde eine Höhlung bemerkt, die Erde war dort etwas zusammengesunken gerade unter den Balken des Tores. Und da hat er, da die Beschützer von innen nicht senkrecht nach unten sehen konnten, sich Speere geben lassen, die wurden in den Wall gesteckt, dann ließ er sich Heu geben, und es gelang ihm, Feuer zu legen und das Tor zum Brennen zu bringen, das ganze Holzwerk oben auf dem Wall fing zu brennen an.

Es war noch lange nicht ausgemacht, ob das nun genügt hätte, die Stadt zu stürmen. Aber der Leiter von Arkona hat nun um ein Gespräch gebeten mit Absalon mit Hilfe eines Dolmetschers, und Absalon ist auf den Wunsch eingegangen unter der Bedingung, daß man nicht versuchte, das Feuer zu löschen während des Gesprächs. Der Vertreter der Stadt hat angeboten, die Stadt zu übergeben. Die Bevölkerung wolle sich taufen lassen und Swantewit solle zerstört werden, wenn nur nicht getötet und geplündert würde. Der Bischof ging darauf ein, und Arkona hat sich friedlich ergeben. Die dänischen Mannen waren empört, denn sie sahen sich um ihren Lohn betrogen, sie wollten plündern. Aber der König bestand darauf. Er hatte mit dem Bischof zusammen das Wort gegeben, es darf nicht geplündert werden, und die um den Lohn betrogenen Mannen mußten sich zufrieden geben. So also wird eine zivilisierte Christianisierung unternommen: daß zwar eine Bedrohung da ist, aber trotzdem, man kann einen Vertrag schließen, und dann hält man sich an diesen Vertrag.

Gut, das lesen Sie bei Saxo Grammaticus. Und jetzt kommen wir und betrachten das mit neuzeitlich geschichtskritischen Augen. Und da ist es sehr leicht, daß man jetzt sagt, denn es schmeichelt einem dänischen Selbstgefühl: »So großzügig sind die Dänen – das hätten die Deutschen nicht getan.« Ist es Selbstlob oder ist es geschichtliche Wahrheit? Ich möchte sagen, wahrscheinlich ist etwas daran, aber es wird ja auch ganz ausgesprochen so geschildert, daß eine gewisse nationale Selbstzufriedenheit darin eine Nahrung bekommt. Und da kommen wir zu der schwierigen Frage: Können wir Gesichtspunkte finden, die uns helfen, alle Neigungen zu den nationalen Selbstzufriedenheiten zu überwinden? Und ich glaube, das ist eigentlich auch ein Hauptpunkt in der Frage: Wie kommen wir zum Sophienland vom Marienland? Und hier ist ja die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners von so großer Bedeutung und alles das, was er über den Ostseeraum und über die nordischen Kultureinflüsse ausgesprochen hat. Es ist ja wirklich sehr viel ausgesprochen, und ich werde ein wenig die wichtigsten Vortragsstellen erwähnen, damit Sie einen gewissen Überblick haben, wenn wir auseinandergegangen sind.

Manfred Schmidt-Brabant hat in seinem Vortrag auf die drei Kalevala-Vorträge von Dornach hingewiesen. Diese sind außerordentlich wichtig. Das sind die Vorträge, wo Rudolf Steiner von diesem Meeres-Drachenwesen spricht.32) Ich wiederhole jetzt um zusammenzufassen etwas, was Manfred Schmidt-Brabant schon gesagt hat, aber ich will einige Stellen zusammenbringen zu diesem rätselhaften Meeresdrachenwesen, dem Inspirator der gesamten europäischen Menschheit. Er spricht als von dem Meeresdrachenwesen, das sie von dem Atlantik über England durchs Kattegat, Skagerrak in die Ostsee hineinstreckt mit den drei Fühlhörnern in den Busen im Osten von der Ostsee. Diese Vorträge, nach Ausbruch des Weltkrieges in Dornach gehalten, sind eigentlich als eine Fortsetzung der Volksseelen-Vorträge aufzufassen, die Rudolf Steiner im Juli 1910 in Oslo, damals Kristiania, gehalten hat und die die Grundlage sind für alle späteren Betrachtungen über die Missionen der Völker. Einen Anfang hat Rudolf Steiner schon 1909 mit Der Orient im Lichte des Okzident gemacht. Da beginnt er damit, einen außerordentlich tiefgreifenden Eindruck zu vermitteln davon, wie der südliche Einweihungsstrom in den nördlichen umzieht. Und dann später: Theosophische Moral in Norrköping. Und wenn wir weiter gehen, dann spricht Rudolf Steiner um die Weihnachtszeit 1915 wieder über die Geburtsmysterien und spricht davon, warum er gerade sich gedrängt fühlte, in Kopenhagen die Vorträge zu halten über Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit. Also hier haben Sie mit diesen Vorträgen das Material, woher ich auch das habe, was ich jetzt weiter ausführen werde.32)

In den Dornacher Vorträgen über Kalevala sagt er am Ende – Sie werden vielleicht sagen, es ist nicht so wichtig, ich sage, es ist sehr wichtig; der erste Weltkrieg ist ja gerade ausgebrochen, und es ist ganz klar, daß Rudolf Steiner 1910 die Volksseelen-Vorträge gehalten hat im Hinblick darauf, daß eine Betrachtung der Volksseelen einen friedenstiftenden Charakter haben kann, wenn der Gesichtspunkt ein geisteswissenschaftlicher ist: »Die Geschichte der Welt hätte anders verlaufen können, wenn man sofort nach dem Juni 1910 diese Vorträge wirklich in sich aufgenommen hätte.«

Wer hätte das aufnehmen können? An wen richtet sich diese Bemerkung? Die Vorträge wurden schnell als Buch gedruckt, aber als Zyklus, nicht im Buchhandel zu haben. Also sie wendet sich an die Anthroposophen. Aber ohne den geringsten Vorwurf sagt es Rudolf Steiner. Keine Spur von einem Vorwurf. Aber wenn er Anfang des Krieges sagt: »Die Geschichte hätte …«, dann könnten sich einige Zuhörer getroffen fühlen, denn sie waren dabeigewesen vier Jahre früher, und sie waren diejenigen, die es hätten aufnehmen können.

In Dornach 1914 nimmt er das Thema wieder auf, nachdem der Krieg da ist, und da haben wir diese Vorträge über den Johannesbau als Menschheitsbau,33) als Bau der Menschheit. Und er spricht von den Kapitellen, und er spricht, wie man das liebende Verständnis finden kann für die Völker, wenn man sich vertieft in den Eindruck, der stimmungsgemäß durch Betrachten der Kapitelle entstehen kann. Und dann kommt eine kurze Betrachtung am Ende über die Kulturen von Schweden, Dänemark, Norwegen. Dann kommt eine Reise nach Deutschland, und als Rudolf Steiner zurückkommt, dann die Kalevalavorträge. Also das finnisch sprechende Volk hat eine Verwandtschaft mit den germanisch sprechenden nordischen Völkern, ganz klar, aber es gibt eine Unterbrechung durch die Reise nach Deutschland, aber das letzte, was er in dem dritten Kalevalavortrag sagt, ist: »Man darf froh sein, daß das Karma uns hier zusammengeführt hat in einem neutralen Gebiete, wo es geht, so rückhaltlos über diese Dinge zu sprechen, denn es ist nicht ganz leicht, gerade heute über diese Dinge zu sprechen. Aber für die Geisteswissenschafter ist es gut, sich in diese Dinge hineinzufinden, weil sie betrachten dürfen dasjenige, was in der äußeren Welt geschieht, gerade als Ansporn dafür, hinter den Schleier zu schauen. Es müßte vieles ganz unverständlich bleiben, wenn man nicht hinter diesen Schleier schauen könnte. Die Dinge bekommen erst ihre volle Bedeutung, wenn man hinter diesen Schleier sieht.« Da drückt Rudolf Steiner seine Dankbarkeit aus, daß es ihm möglich ist über den Ostseeraum zu sprechen in der neutralen Schweiz, weil das Thema gefährlich ist, gefährlich und verheißungsvoll.

Der Hauptgesichtspunkt bei den Darstellungen Rudolf Steiners über Kalevala ist, daß die Erde ein Geistwesen ist. Die ganze Erde ist ein Wesen. Und die geographische Konfiguration macht es möglich, daß Bestimmtes sich abspielen kann. Und da gibt es, durch die Natur bedingt, einen Dracheninspirator der europäischen Menschheit. Das heißt, es handelt sich hier um etwas, das in der Leiblichkeit das Fundament hat. Und ich glaube, wenn wir die Völker und Rassen betrachten, dann ist es wichtig, daß wir einerseits von der Leiblichkeit und andererseits von dem Wesen sprechen. Es ist ja schwierig heutzutage – Virginia Sease verwendete sogar das Wort: es ist unmöglich – von der Rassenproblematik zu sprechen, und ich stimme zu. Ich glaube aber, daß Schüler von Rudolf Steiner ziemlich unschwer einen Schlüssel finden können, der es möglich macht, daß man fruchtbar darüber sprechen kann.

Man sagt ja so leicht »lch« und spricht dann vom Gesamtmenschen. Ich bin der Däne, ich habe dänisch als Muttersprache. Ich habe graue Haare. Ist mein Ich dänischer Staatsbürger? Ist in diesem Saal jemand, dessen Ich Staatsbürger ist? Natürlich, kein Ich der Anwesenden ist deutsch, schwedisch, finnisch oder was auch. Alle haben wir ein Ich über die Differenzierung hinaus erworben. Aber es tritt in der Differenzierung auf, gebunden an Volk und Rasse. Und wir machen oft gar nicht die notwendigen Unterscheidungen, und dann reden wir »Ich bin Däne«, und sofort mit der Gefühlsnuance, ob man jetzt dieses Volk schätzt und liebt oder ob man zu denjenigen gehört, die in Schleswig-Holstein leben, wo es früher wenigstens hieß, ich glaube, es ist jetzt nicht mehr der Fall, aber früher war es ein ganz weit verbreitetes Sprichwort in Norddeutschland: Traue keinem Dänen! Hat jemand das gehört? Man hat so gesprochen, und da fühlt man sich betroffen. Also wir Dänen, sollten wir weniger betraubar sein als die, die da in Schleswig-Holstein sind? Aber kennt man ein wenig die Volksseelenbetrachtung, ist es gar nicht schwierig zu begreifen, daß Dänen oft eine indirekte Art haben sich auszudrücken, und das gibt einen unsicheren Eindruck für diejenigen, die das nicht gewöhnt sind. Sie hören immer ein »Vielleicht« in der Antwort eines Dänen. Und der Däne weiß, wenn er »Vielleicht« sagt, dann hat er in gewissen Fällen »Nein« gemeint. In dem Sinne ist schon für Deutsche etwas Orientalisches in dem Dänen.

Aber der geisteswissenschaftliche Gesichtspunkt: Wenn Rudolf Steiner von dem finnischen Volk sagt, es ist dazu ausersehen, das Gewissen von Europa und besonders von Osteuropa zu sein, ja, wenn er gleichzeitig sagt, das ist eine Veranlagung in der Körperlichkeit derjenigen Menschen, die zu dem finnischen Volke gehören – dann kann also keine Rede sein, daß jemand stolz sein könnte darauf. Das ist eine Veranlagung in der Körperlichkeit und als solche eine Aufgabe. Und was Rudolf Steiner über die Rassen und die Völker sagt, hat mit der Körperlichkeit zu tun, mit besonderen Veranlagungen der Körperlichkeit. Es wird ja auch gesagt, 1921 in Oslo, die Norweger und Schweden haben die Möglichkeit, nachtodlich Lehrer der übrigen Menschheit zu sein. Die Norweger und die Schweden – jetzt muß ich da aber Präzise reden: Die Menschen, die Individualitäten, die da in Norwegen und Schweden verkörpert sind – sie bekommen aus der norwegischen, schwedischen Körperlichkeit eine Möglichkeit, eine Aufgabe zu erfüllen nach dem Tode, wenn sie es begreifen, wie Rudolf Steiner sagt – es ist in Oslo, und da wendet er sich besonders an die norwegischen Teilnehmer – wenn es ihnen möglich ist, »in der richtigen Weise Norweger zu sein«. Also ganz eindeutig: wenn es ihnen möglich ist; also besteht auch die Möglichkeit, daß man nicht in der richtigen Weise Norweger ist. Also sollte man nicht ohne weiteres stolz sein auf seine Aufgabe, denn die Aufgabe ist eine Verpflichtung, und es ist im Augenblick nicht ausgemacht, wer die Verpflichtung schon erfüllt und vielleicht sogar über das Maß hinaus erfüllt hat. Und das ist genau der Gesichtspunkt: Die Natur inspiriert, und der Ostseemeeresdrachen gibt den Menschen, zu welchem Volke dann auch gehörend, Möglichkeiten etwas zu machen, wenn sie das, was in der Natur lebt, richtig spirituell umsetzen. Und da haben wir dann die Frage zu stellen: Wie setzen wir das um.

In den Volksseelenvorträgen hören wir,34) »Wir werden sehen, wie in unserer Zeit die Volksmerkmale das sind, was die Rassencharaktere wieder auseinander bringt, was sie wieder auszulöschen beginnt. Das alles werden wir noch später sehen. Wir müssen uns jetzt nur hüten, die Welt so zu betrachten, als ob die Evolution nur wie ein Rad wäre, das anfang- und endlos um sich herumrollte; die Vorstellung von dem rollenden Rad, die in mancher mystischen Weltanschauung so breit ausgeführt wird, bringt eine furchtbare Verwirrung in den Begriff der eigentlichen Menschheitsevolution. Wenn man sich den Vorgang so vorstellt, daß sich alles sozusagen um ein bleibendes Zentrum herum bewegt, wobei es in soundsoviele Rassen gegliedert ist, dann hat man eigentlich keinen Begriff davon, daß alles sich in Entwicklung befindet, und daß auch die Rassen sich entwickeln. Die Rassen sind entstanden und werden einmal vergehen, werden einmal nicht mehr da sein. Sie wiederholen sich nicht etwa immer in der gleichen Art, wie es bei Sinnett falsch im [gt]Esoterischen Buddhismus[lt] dargestellt wird. In der alten lemurischen Zeit müssen wir das Aufgehen der Rassenmerkmale, der Rasseneigentümlichkeiten suchen; wir müssen dann deren Sich-Fortpflanzen bis in unsere Zeit verfolgen, müssen uns dabei aber klar sein, daß, wenn unsere gegenwärtige fünfte Entwicklungsperiode von der sechsten und siebenten abgelöst wird, keine Rede mehr sein kann von einem Zustande, den wir als Rasse werden bezeichnen können.«

Etwas später heißt es dann: »Alle Menschen nehmen an den Sonnenseiten und den Schattenseiten ihrer Völker und ihrer Rassen teil«. Alle Menschen nehmen teil an den Sonnenseiten und Schattenseiten ihres Volkes und ihrer Rasse. Sonnenseiten gibt es, aber man darf von den Sonnenseiten sprechen, wenn man einigermaßen ein heimatloser Mensch geworden ist, wenn man sich befreit hat von der Neigung, sich zu identifizieren mit seinem Volke. Niemand kann – wenn es stimmt, was die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners beinhaltet – niemand darf sagen: Ich bin ein Angehöriger des deutschen Volkes, des dänischen oder schwedischen Volkes. – Freilich, es wäre verschroben … also, man wird gefragt: Woher kommen Sie? und man würde antworten: »Meine vergängliche Persönlichkeit in der gegenwärtigen Inkarnation wird als ‚dänisch‘ bezeichnet«. Also wir dürfen schon auch als Schüler von Rudolf Steiner sprechen wie normale Menschen. Aber – im inneren bin ich nicht mehr dänisch als russisch oder italienisch. Kommt nicht in Frage, daß irgend jemand im inneren mehr deutsch, holländisch oder schwedisch wäre als mexikanisch, spanisch, chinesisch.

Aber was sind dann die Neigungen, die uns unsere Naturgrundlage gibt, wenn wir jetzt Zusammenkommen auch in dieser Gegend von Europa, was haben wir da für Neigungen? Und da gibt es interessante Neigungen in der Differenzierung des Nördlichen und Südlichen. Die Atlantis ging zu Ende. Früher, kurz vor dem Untergang, kamen die Züge, einige Züge gingen nach Westen, nach Amerika, die anderen nach Osten. Und die Züge, die nach Osten gingen, verteilten sich in einen südlichen Teil und einen nördlichen Teil. Und da haben wir den Anfang der Differenzierung des alten Mysterienwesens. Es gab den südlichen Einweihungsweg und den nördlichen. Den Weg nach innen und den Weg nach außen. Den Weg in die Natur und den Weg in die Seele hinein. Der Weg nach innen wird besonders in Ägypten gepflegt. Der Weg nach außen im nördlichen Europa. Und hier wird ergänzt, was Rudolf Steiner zum Beispiel in Der Orient im Lichte des Okzidents sagt, durch die Vorträge von Norrköping 1912 über die Theosophische Moral: »Auf diesen Wanderungen sind die schlechtesten Bestandteile der atlantischen Bevölkerung im Norden geblieben. Die höherentwickelten, sie gingen nach Indien«. In der nachatlantischen Zeit gab es sofort die wildesten Bevölkerungsteile in allen Gebieten, die geographisch anders aussahen, England, Skandinavien, dort waren ganz heruntergekommene, brutale Menschen, die erzogen werden mußten, und sie wurden erzogen von Mitgliedern der Kriegerkaste, aber diese Mitglieder der Kriegerkaste hatten im Hintergrund die Weisen, die sich im Hintergrund halten mußten, daß man sie nicht kannte – nur die Könige, die Herrscher haben sie gekannt – weil die Bevölkerungsteile so heruntergekommen waren, und sie mußten jetzt erzogen werden. Und sie wurden erzogen dadurch, daß sie Starkmut hatten, sie waren kriegerisch, und das gehörte auch mit der Dekadenz zusammen.

Aber alle Bevölkerungsteile haben Schattenseiten und Sonnenseiten. Und so sieht man einen Zusammenhang zwischen Schattenseiten und Sonnenseiten. Wilde barbarische Menschen, die einen Überschuß an Ätherkraft hatten, sie waren bereit, sich zu opfern im Krieg. Und das war das Wichtige, die kriegerische Stimmung in den alten germanischen Völkern als Erziehungsmittel. Das muß man einfach sehen. Mut, kriegerischer Mut war eine Tugend, und es gehörte zu dem Leben des Mannes, daß er bereit sein mußte sein Leben zu opfern. Gehen Sie zu der Saga-Literatur, sehen Sie diese Schilderungen von Schlachtszenen – eben wie einmal zum Beispiel in einem Kampf: Einer bekommt einen Stich, und das Eingeweide fällt aus dem Bauch. Aber er ist schnell genug, nimmt seinen Mantel und bindet den Mantel um seinen Bauch, hält das Eingeweide fest mit dem Mantel und kann jetzt einige Menschen töten, bevor er selbst tot ist. Oder in der Schlacht bei Hjörrungavåg in der Nähe von Trondheim: da wurden die Joms-Wikinger, die lange in Julin an der Odermündung eine Staatsgründung hatten mit dem Palnatoke als sehr geschätzten Leiter, geschlagen. Diese Joms-Wikinger mußten dem dänischen König Dienste leisten, und sie mußten nach Trondheim kommen, und sie wurden vernichtet. Und da wird geschildert in der Joms-Wikingersaga: Ein Kämpfer bekommt einen Schlag, und der Unterkiefer mit den Zähnen wird abgeschlagen. Und dann sagt er: Jetzt werden die Mädchen auf Bornholm nicht so eifrig küssen, wenn ich nach Hause komme. Und dann wird er niedergeschlagen, er kommt nicht nach Hause. – Aber das wird geschätzt, wenn man schlagfertig sterben kann. Sterben, aber schlagfertig, wie im Hávamál die Rede des Erhabenen:

Vieh stirbt, Freund stirbt,
Selbst du stirbst zuletzt.
Eins weiß ich, was nie stirbt:
Der Ruf des Verstorbenen.

Das war nordische Sitte. Kann man sterben mit einem schlagfertigen Wort, dann wird es aufgeschrieben, und immer noch kann man es lesen. Also sollen wir das nur als etwas betrachten, was uns fremd ist, was man zu Ende gekämpft hat? Aber die Aufgabe ist jetzt, dieses Nördliche umzuwandeln. Das kann umgewandelt werden, und das ist die Aufgabe der nördlichen Menschheit, Mut in Liebe umzuwandeln. Das ist Aufgabe für jeden Einzelnen.

Man kann aber einsehen, daß da eine Verwandtschaft ist zwischen Mut und Liebe. Aber wie entsteht Liebe? Aus dem persönlichen Einsatz und nur aus dem persönlichen Einsatz. Wie ist der Übergang von Mut zu Liebe? Man kann sich opfern, man muß nicht auf sich selbst bestehen bleiben. Aber die Christianisierung hängt mit der Ausrottung des Alten zusammen, das ausgerottet werden mußte, damit der Impuls nach innen ziehen kann. Der frühere Einweihungsweg ist nach Norden gezogen, und jetzt heißt es im Norden: »Nach innen geht der geheimnisvolle Weg«. Das, was man in der Vorzeit im Norden nicht konnte, jetzt ist es eine besondere Aufgabe, gerade im Norden das zu tun.

Und hier ist es interessant, wenn man ein wenig das betrachtet, was da in der Vergangenheit geschehen ist. 1168/69 wurde Arkona genommen von den Dänen. 1182, also dreizehn, vierzehn Jahre später, wurde Franz von Assisi geboren, und Rudolf Steiner schildert ja, wie er zu den Individualitäten gehört, die das Südliche nach dem Norden verpflanzt haben. Also betrachten wir von einem großen Gesichtspunkt aus den Einsatz von Franz von Assisi als zu dem Nördlichen gehörig, ich glaube, das ist berechtigt. Italien gehört von diesem Gesichtspunkt wenigstens teilweise zum Norden. Franz von Assisi als Individualität, Schüler einmal der Schwarzmeermysterien, wo Buddha auch übersinnlich Lehrer war, und dann inkarniert als Franz in Italien, der diese Überschußkraft hat, daß er die Aussätzigen heilen kann, ohne besorgt zu sein um seine eigene Gesundheit, derjenige der ritterlich erzogen worden ist, der in der Jugend Krieger werden wollte und dann verstanden hat, daß es innerlich gemeint war, und den der Aussatz nicht angreifen konnte. Aussatz: die Krankheitstendenzen damals, die Ergebnis der Verfallsprodukte waren, dämonische Krankheitstendenzen als Reste, weil die nördlichen Völker ihre Barbarei überwunden hatten, davon blieben Verfallsprodukte, Krankheitstendenzen, und diese zeigten sich dann im Mittelalter als Miselsucht und Aussatz, so sagt Rudolf Steiner, und zunächst mußte das verwandelt werden. Das konnte durch christliche Liebe getan werden, durch den Franz, der von den Schwarzmeermysterien nach Italien versetzt wurde und es verstand, die ritterliche Tugend in christliche Liebe umzuwandeln.

Und ich glaube, das ist ein Gesichtspunkt, der verwendet werden kann: Was haben wir für Möglichkeiten, um die Ostseespiritualität so zu verwandeln, daß Marienland in Sophienland verwandelt werden kann? Wir haben nur den ethischen Individualismus. Alles kommt auf die einzelne Persönlichkeit an. Und ich schließe ab mit der Deutung eines Gedichtes von Henrik Ibsen, Terje Vigen. Ich habe – ich muß es sagen, und ich sage es gerne – diese Interpretation von Dan Lindholm bekommen, ein Geschenk aus einem Vortrag, den er vor 31 Jahren gehalten hat und den ich seitdem nicht vergessen habe. Terje Vigen liegt im südlichen Norwegen, wir sind in der Zeit der napoleonischen Kriege, Norwegen gehört zu der Doppelmonarchie Dänemark[-]Norwegen. Dänemark-Norwegen wird hineingezogen in den Krieg, und man ist am Verhungern dort im südlichen Norwegen. Und er nimmt es auf sich und rudert nach Fladstrand, nach dem jetzigen Jütland, überquert allein in einem kleinen Boot das Meer Skagerrak und kommt nach Dänemark, bekommt einige Säcke Korn, und als er sich erholt hat, kommt er wieder zurück. Und er sieht schon die norwegische Küste und ist heil zurückgekommen, da kommt ein englisches Kriegsschiff, er wird aufgenommen, nach England geführt, sitzt die langen Jahre im Gefängnis. Nach Kriegsende kommt er zurück, Frau, Töchterchen, beide gestorben, verhungert. Und jetzt lebt er als Witwer, überwindet seinen Schmerz, nur ab und zu, da überziehen sein Gesicht die düsteren Wolken, und da wagt es niemand in seine Nähe zu kommen. Dann ein Sturm. Ein Schiff ist im Untergehen, und er, immer noch gewöhnt an das Leben auf dem Meer, setzt allein mit seinem kleinen Boot und rettet den Kapitän mit Frau und Töchterchen. Und sieht dann: das ist der Kapitän, der mich gefangengenommen hat. Und er sagt: Weißt du noch, du hast mir Weib und Kind genommen. Und der Zorn überfällt ihn, und er will den Boden des Bootes durchstoßen, und dann können sie alle vier ertrinken. Aber dann sieht er das Kind. Ist das Kind schuldig? Er überwindet sich, er rudert ans Land und rettet das Leben des Mannes, der ihm Frau und Kind genommen hat.

Das ist Überwindung der Wikinger-Wildheit und deren Verwandlung in christliche Liebe, und ich glaube, das könnte man beschreiben als Aufgabe der Menschen, die im Norden leben um den Ostseeraum, differenziert in den verschiedenen Volksangelegenheiten. Es werden die wenigsten auf die Probe gesetzt werden, auf die Terje Vigen gesetzt wurde. Aber die Ruhe erringen können, die Erhabenheit über das niedrige Völkische, das Nationale in einem christlichen Sinne umzuwandeln, das hängt mit den Mysterien des Ostseeraums zusammen.

32) Rudolf Steiner, Theosophische Moral, enthalten in GA Bd. 155. Der Orient im Lichte des Okzident Die Kinder Luzifer und die Brüder Christi, GA Bd. 113. Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit, GA Bd. 15
33) Rudolf Steiner, Der Dornacher Bau als Wahrzeichen geschichtlichen Werdens und künstlerischer Umwandlungsimpulse. GA Bd. 287
34) Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie. GA Bd. 121, Dornach 1974, S. 75

Geologische Aspekte der Menschheitsentwicklung im Ostsee- und Mittelmeerraum – Erdmut-M. Hoerner

Geologische Aspekte der Menschheitsentwicklung im Ostsee- und Mittelmeerraum
Erdmut-M. Hoerner

»… wenn man in der Erde selber sehen würde ein mächtiges Wesen, und dieses mächtige Wesen würde sich entschließen, in die Evolution in entsprechender Weise einzugreifen, sagen wir vom 20. Jahrhundert ab. Da muß es sich sagen: Ich muß gewisse geistige Wesenheiten hinauflenken nach meiner Oberfläche, ich muß sie tätig sein lassen so, daß sie physische Leiber zubereiten, damit die physischen Leiber durch das Gehirn die Wahrheiten aufnehmen können, die in dieser Zeit der Evolution der Menschheit frommen.
Wie ein Gedanke, den die Erde hat, ist dasjenige, was ich eben ausgesprochen habe. Man erfaßt diesen Gedanken nur, wenn man ihn in der richtigen Frömmigkeit und Ehrerbietung erfaßt, wenn man ihn nicht nimmt wie die Gedanken der äußeren Wissenschaft, sondern wenn man ihn betrachtet wie etwas Heiliges, wie etwas, das man nicht ohne Ehrerbietung aussprechen kann, weil man erinnert wird an den Zusammenhang des Menschen mit der geistigen Welt, weil man unmittelbar darinnensteht in dem Verkehr des Menschlichen mit dem Göttlichen, wo solche Dinge ausgesprochen werden. Daher sollte auch überall darauf geachtet werden, daß die nötige Atmosphäre des Fühlens und Empfindens da sein sollte, wo solche Dinge ausgesprochen werden. (. . .)
Man möchte sagen: In einem gewissen Sinne dürfen solche Dinge nicht anders ausgesprochen werden, als daß ihnen das Gefühl, die Stimmung des Gebetartigen zugrunde liegt. Ein Aufschauen zu den geistigen Welten muß durchpulsen dasjenige, was wir so durchdenken, indem wir uns solchen Gedanken nähern.«

Verehrte, liebe Anwesende! Meine lieben Zuhörer!

Die Stimmung dieser Worte von Rudolf Steiner aus dem Zyklus, der nun schon mehrfach hier erwähnt wurde,35) soll den Hintergrund bilden in dieser Stunde, für die wir zusammen sind. Denn wir wollen gerade dem nachgehen, wie Erdenbildungen und Menschenbildungen eigentlich aus einer Quelle hervorgehen. Vor seiner irdischen Verkörperung war es nämlich der Mensch, der an der Erde mitgebildet hat. Später ist es dann die gebildete Erde, die wiederum ihn bildet. Daher soll der Weg, den wir jetzt miteinander gehen wollen, seinen Ausgang nehmen bei der Bildung jener zwei besonderen Erdenräume: dem Ostseeraum und dem Mittelmeerraum. Des weiteren soll von der Erfüllung dieser Räume mit dem Menschen die Rede sein, und zum Schluß sei ein Ausblick auf die Gegenwart gewagt.

Abbildung 02 – Die Wasserscheiden von Ostsee und Mittelmeer

Wenn man sich diese Gebilde einmal anschaut, die Ostsee und das Mittelmeer, muß man sich ja fragen: Wo sind die Grenzen, also: Wie ist es mit der Äthergeographie. Dabei kann ja ein gewisser Anhaltspunkt sein die Grenze der Wasserscheiden, das heißt die Gebirgszüge, die scheiden zwischen den Wässern, die von dieser Grenze nach innen zu und denen, die nach außen den Berg herunter fließen (siehe Abb. 2 – Die Wasserscheiden von Ostsee und Mittelmeer). Die Ostsee-Wasserscheide gleicht einer Linie, die zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt und dadurch ein Becken in seiner Mitte umschließt, welches alle zentripetal fließenden Wässer auffängt. Entsprechendes gilt natürlich auch vom Mittelmeer, nur mit dem Unterschied, daß dieses Gebiet einen ganz gewaltigen Blinddarm hat, nämlich den Nil, der nach Süden, nach Afrika hereingreift. Sonst sind die beiden Gestalten relativ ähnlich, das eine Mal ein nord-südlich, das andere Mal ein ost-westlich gestrecktes Oval.

Nun, wenn man jetzt die beiden Gebiete ein wenig näher miteinander vergleicht, bemerkt man, daß man eigentlich keine größeren Gegensätze finden kann. Wenn wir ausgehen von den Gestalten, so wie sie heute sind, so haben wir im Mittelmeer ja die drei Halbinseln, die da hereinragen: Italien, Griechenland und Kleinasien. Und genau umgekehrt haben wir in der Ostsee drei Meerbusen, die in das Land hineingreifen, eine polare Bildung. Die Ostsee: eine ganz flache Schale heute. Das Mittelmeer: eine sehr tiefe Schale mit steilen Rändern. Und fast während seiner gesamten Entstehungszeit war das Mittelmeer ein Tiefseebecken. Das heißt, seine Geste war empfangend, aufnehmend. Was nimmt es auf? Material, das durch die Flüsse in es hereinschwemmt wird. Und was macht so ein Tiefseebecken mit dem, was es da empfängt? Es empfängt ja einen Abbaustoff, aber es baut daraus ein Gebirge auf. Nämlich das Gebirge, das dann später die Wasserscheide bilden wird. Ganz gegenteilig der Bereich des sogenannten fennoskandischen Schildes, eine Landerhebung, die wie ein Schild gebuckelt ist und in dem gesamten geologischen Werden zu den allermeisten Zeiten Festland war. Fest, das heißt schenkend, gebend, kraft des Abbaus, der Verwitterung. So kann man sagen, daß die Substanzen, die der fennoskandische Schild geschenkt hat, in den Meeren rund um den Schild abgelagert werden, insbesondere nach Süden zu und dort untermeerisch Land bilden, zum Beispiel das spätere Mitteleuropa.

Eine weitere große Polarität ist die, daß wir es im Mittelmeer im wesentlichen mit kalkigen Sedimenten zu tun haben, während der gesamte baltische Schild fast überall aus Kiesel des kristallinen Festlandsockels besteht. Also wiederum eine große Welten polarität. Des weiteren ist die Bildung des Mittelmeers wesentlich älter als die Bildung des Ostseebeckens, dessen Bildung noch gar nicht abgeschlossen ist. Die Bildungsrichtungen und die Dynamiken, mit deren Hilfe die beiden Landschaften gebildet wurden, sind auch gegensätzlich. Das Mittelmeerbecken wird von Süden nach Norden gebildet, das Ostseebecken wird von Norden nach Süden gebildet. Die Bildekräfte, die das bewerkstelligen sind im Falle des Mittelmeers die Urkräfte der Erde und bei der Ostsee die Bildekräfte des Wassers und der Kälte. So, wie die beiden Meere heute liegen, so ist das Mittelmeer im subtropischen Bereich ein Übergang zu den Tropen und auf der anderen Seite die Ostsee als sogenannter borealer Bereich ein Übergang von der gemäßigten Zone zur Arktis. Also, wo man hinblickt: die größten Gegensätze, und zwischen diesen die Mitte Europas.

Abbildung 03 Die Erde im Unterkambrium vor 590 545 Millionen Jahren. Aus Paturi 1991

Betrachten wir nun die Bildung der Ostsee und der sie umgebenden Länder genauer. Wir beginnen in der Zeit des Kambrium und verfolgen in großen Schritten die geologische Entwicklung bis herauf in die Gegenwart. Weil die Bildungen des Einzelnen nur aus dem Ganzen der Erde verständlich werden, sei zunächst die wahrscheinliche Verteilung der Kontinente betrachtet. Seit Alfred Wegener (1915) ist ja bekannt, daß die Kontinentalschollen ihre Lage zueinander durch die geologischen Zeiten verändern. So zeigt uns die Erdkarte (siehe Abb. 3 – Die Erde im Unterkambrium, vor 590-545 Millionen Jahren. (Aus Paturi, 1991) im Osten den Großkontinent Gondwanaland, gebildet aus den heutigen Teilkontinenten Neuseeland (5) und Australien (6), dem Südpol (7), Südamerika (8), Afrika (9) mit Madagaskar (11) sowie Vorderindien (10) und Arabien mit Kleinasien (12). Der Westen wird eingenommen von Nordamerika (1) und Grönland (2), als Großkontinent Laurentia bezeichnet. Östlich davon der fennoskandische (oder baltische) Schild mit Teilen Europas (3) sowie in der Mitte ganz Asien (4). Die beiden Teilkarten

Abbildung 04 a Palaogeographie des Kambrium in Nordeuropa. Unterkambrium Holmiastufe
o - Abbildung 04 b Palaogeographie des Kambrium in Nordeuropa. Beginn des Mittelkambrium. Kariert marin orthogeosynklinale Entwicklung liniert marin epikontinent

(siehe Abb. 4 a/b – Abbildung 4 a, b: Paläogeographie des Kambrium in Nordeuropa. Links: Unterkambrium (Holmiastufe), rechts: Beginn des Mittelkambrium. Kariert: marin-orthogeosynklinale Entwicklung; liniert: marin-epikontinentale Entwicklung (Aus Brinkmann, 1966)) zeigen die Wasser- und Landverteilung in Europa zur Zeit des Unter- bzw. Mittelkambriums. Die Schraffuren zeigen Tiefmeere und flache Schelfmeere. Weiße Flächen bedeuten das Festland, also die Abtragungsgebiete.

Abbildung 06 Palaogeographie des Ordovizium und Silur in Nord- und Mitteleuropa
Abbildung 05 Die Erde im Unterordovizium vor 500 480 Millionen Jahren Aus Paturi 1991
o - Abbildung 07 vom Ordovizium zum Silur

Wir beobachten innerhalb des Kambriums eine Zunahme der Überflutung des fennoskandischen Schildes, die im Ordovizium (siehe Abb. 6 – Paläogeographie des Ordovizium und Silur in Nord- und Mitteleuropa. Kariert: marin-orthogeosynklinale Entwicklung ab Ordovizium; eng liniert: marin-epikontinentale Entwicklung ab Ordovizium; weit liniert: marin-epikontinentale Transgression im Silur) noch eine kleine Vergrößerung, aber auch Verlagerung nach Süden erfährt. Damit ist auch schon die stärkste Überflutung Fennoskandiens erreicht, und ab dieser Zeit war dieser ganze Bereich, insbesondere die heutige Ostsee (mit Ausnahme des südlichen Teiles im Silur und im Tertiär) nie mehr überflutet, sondern beständig Festland, das heißt Abtragungsgebiet für die umgebenden Meere. Auf der Erdkarte (siehe Abb. 5 – Die Erde im Unterordovizium, vor 500-480 Millionen Jahren (Aus Paturi, 1991)) ist zu bemerken, wie sich Laurentia und Fennoskandia nach Norden bewegt haben, so daß zum Beispiel die Stockholmer Gegend, die Hudson-Bay und Grönland auf dem Äquator liegen und beide Großkontinente kurz vor einem Zusammenstoß stehen. Zwischen beiden erstreckte sich der Japetos-Ozean, der Vorläufer des heutigen Nordatlantik. Er war das Sedimentationsbecken, das die Fracht der Flüsse Laurentias und Fennoskandiens aufnahm. Durch die Kollision der genannten Kontinente an der Wende vom Ordovizium zum Silur bildete sich zunächst untermeerisch und dann aufsteigend im Zuge der weiteren Kollision ein Faltengebirge, die Kaledoniden, an Stelle des verschwindenden Japetos-Ozeans (siehe Abb. 7 – Die Bildung der Kanonischen Faltenkette als ein Resultat der Kollision der nordamerikanischen und der nordeuropäischen Kontinentalplatten an der Wende vom Ordovizium zum Silur. – Kariert: Kontinentalplatte (Festland); punktiert: Kaledoniden und Nebenzug; weiß: Verhältnisse unsicher. (Nach Per Madsen, aus Gravesen, 1993)).

Sie ziehen von Norden nach Süden in Skandinavien und bilden größtenteils das heutige Norwegen und damit den westlichen Hauptabschnitt der Ostsee-Wasserscheide sowie Ostgrönland. Sie haben ihre Fortsetzung in Nord-England, dem schottischen Hochland sowie an der Ostküste Nordamerikas, in den Appalachen. Durch die erwähnte Kollision entstand ein neuer Groß-Kontinent, der sogenannte Old Red-Kontinent, so genannt wegen seiner hauptsächlich rotgefärbten Sandsteine und Quarzite. Dieser Old Red-Kontinent hatte über das Zerbrechen des Großkontinentes Pangäa, dem er zeitweilig angehörte, bis in die Oberkreide hinein Bestand, wo der wachsende Nordatlantik Nordamerika mit Grönland von England und Skandinavien abzutrennen begann. (Auf Grund der gemeinsamen Entstehung der Appalachen und der westlichen Gebirgszüge Skandinaviens sowie ihrem langen Verbund im Old Red-Kontinent wird verständlich, warum Indianer und Wikinger einen ähnlichen Doppelgänger haben, wie Frau Dr. Sease ausführte.)

o - Abbildung 08 Nordeuropa im Karbon. Kariert Land punktiert Kustenebenen mit marinen Transgressionen weis Rheia Ozean. Aus McKerrow 1978

Das Devon überspringend, zeigt uns Abbildung 8 einen Ausschnitt des Old Red-Kontinentes in der Karbonzeit. Nordirland, Schottland, Dänemark sowie der ganze fennoskandische Schild sind eine geschlossene Festlandsmasse (kariert). Drei Flüsse sind in ihrem angenommenen Verlauf eingezeichnet, die sich und ihre Abtragungsfracht in das südlich vorgelagerte Flachmeer (punktiert) ergießen, welches nach Süden zu in den Rheia-Ozean, eine Tiefsee, übergeht. (Siehe Abb. 8 – Nordeuropa im Karbon. – Kariert: Land; punktiert: Küstenebenen mit marinen Transgressionen; weiß: Rheia-Ozean. (Aus McKerrow, 1978)).

Wichtig für unser Thema ist der östlichste der Flüsse, der, aus dem Bereich des heutigen finnischen Meerbusens kommend, bei Rügen mündet. Es ist gut vorstellbar, daß er in seinem Oberlauf die aus dem Bereich des heutigen bottnischen Meerbusens kommenden Flüsse aufnimmt, desgleichen, wie sich alle Flüsse des fennoskandischen Schildes, ihren Lauf immer wieder verändernd, durch die geologischen Epochen hindurch immer tiefer in den kristallinen Untergrund eintiefen. Von Norden nach Süden fließendes Süßwasser hat also den fennoskandischen Schild an den Stellen begonnen einzutiefen, wo heute die bottnischen, finnischen und Rigaer Meerbusen sind!

o - Abbildung 09 Die Erde im Dogger. Aus Paturi 1991
Abbildung 10-Europa Im Jura

Perm und Trias auslassend zeigt uns Abbildung 9 das Erdenantlitz im Braunen Jura (Dogger) (Siehe Abb. 9 – Die Erde im Dogger. (Aus Paturi, 1991). Auf der Erdkarte sehen wir den Großkontinent Pangäa. Durch die Kontinentaldrift haben sich alle Kontinente zu einem einzigen, annähernd sichelförmigen Festland zusammengeschoben. Der Old Red-Kontinent (1-3) ist mit Asien (4) und Gondwanaland (5-12) verwachsen. Die Europakarte (Abb. 10) verdeutlicht die Wasser-Land-Verteilung im Schwarzen und Braunen Jura: Der fennoskandische Schild ist nach wie vor Festland, während fast das ganze übrige Europa sowie der zukünftige Mittelmeerbereich von Meeren überflutet, also Sedimentationsbecken ist. Ab dem Weißen Jura beginnt Pangäa in ihrem nördlichen Bereich durch die Bildung des Nord- und Südatlantiks zu zerbrechen, und die einzelnen Teile driften zunehmend in die Positionen, die sie heute einnehmen. Durch die Öffnung des Nordatlantiks in der Oberkreide zerbricht auch der uralte Old Red-Kontinent. Immer breiter werdende Atlantikarme trennen Nordamerika von Grönland und beide von Nordeuropa. (Siehe Abb. 10 – Europa Im Jura. – Kariert: geosynklinale Entwicklung; waagerecht liniert: epikontinentale Entwicklung, jeweils für weit: Entwicklung ab Lias; eng: Transgression im Oberdogger. Senkrecht gestrichelt: Regression Ende des Doggers. (Aus Brinkmann, 1966)

Wie schon erwähnt, war die Ostsee sowie die sie westlich, nördlich und östlich umgebenden Länder seit dem Devon bis heute praktisch nicht mehr von Meeren bedeckt, so daß sich seit dieser Zeit auch keine marinen Ablagerungen mehr gebildet haben. Lediglich in Dänemark und im Land- und Wasserbereich der südlichsten Ostsee finden wir marine Sedimente aus dem Karbon, Perm, Trias, Jura, Kreide und Tertiär.

Wie gegensätzlich dazu der gesamte Mittelmeerbereich! Seit dem Kambrium bis zum Tertiär war er – zwar wechselnd in Größe und Gestalt – immer vom Meer bedeckt und durch alle Zeiten Sedimentationsbecken und war seit dem Perm der westliche Ausläufer des Urmittelmeeres, der Tethys, bei der sich bildenden Pangäa. Bereits in der Trias setzten Plattenbewegungen und die Bildung besonderer Strukturen (Riffbildung) gerade im europäischen Mittelmeerbereich der Tethys ein, die zum Zerbrechen Pangäas und der Bildung des Mittelmeeres in seiner heutigen Gestalt führten. Die stärkste dieser Bewegungen, die Norddrift des gesamten Afrikanischen Kontinentes gegen Europa, hält auch heute noch an und bildete sowohl die Gebirgsketten der Wasserscheide, die das Mittelmeer umgibt, wie auch dieses selbst.

Zu seiner heutigen Gestalt entwickelte sich das Mittelmeer im Tertiär. Gerade in den beiden letzten Jahrzehnten konnte man durch erstaunliche Entdeckungen diese Entwicklungsgeschichte erhellen.36) Das Mittelmeer am Anfang der Trias verband als ein mächtiger Meeresarm den werdenden Atlantik mit der alten Tethys. Durch die Norddrift Afrikas gegen Europa wurde als erstes eine Landbrücke zwischen Kleinasien und Afrika geschaffen, das heutige Syrien, Libanon, Israel und Jordanien begann die Tethys auf Dauer vom werdenden Mittelmeer abzutrennen. Als nächstes entstand eine zweite Landbrücke zwischen Spanien und Afrika bei Gibraltar, welche das Mittelmeer vom Atlantik trennte. Durch diese Isolierung von den Weltmeeren süßte das Mittelmeer zunächst aus und fiel, da es damals viel näher am Äquator lag als heute, in relativ kurzer Zeit trocken und wurde zur Wüste. – Wir sehen: Erdenkräfte und Hitze sind da am Werke.

Und dann kommt jener bedeutungsvolle Augenblick Ende Tertiär, in dem dieser Damm, der da aufgefahren wurde durch Afrika, bricht. Vielleicht erinnert sich mancher an die Schilderung, die Rudolf Steiner gibt, wie der Meerdrache, der von anderen vor mir auch schon mehrfach erwähnt wurde, ja, man möchte sagen: unglaublich feinfühlig – er spricht ja da von Fühlhörnern – hereintastet in die Ostsee, die noch gar nicht existiert, und mit seinen Fühlhörnern wahrnimmt, und wie durch dieses Wahrnehmen die Ostsee geschaffen wird. Während bei der Mittelmeerbildung der Meerdrache brutal mit der Tür ins Haus fällt: Der Damm bei Gibraltar bricht, und in zwei gewaltigen Wasserfällen, der eine 1500 Meter hoch und der andere 1200 Meter hoch, stürmt die ganze Macht des Atlantik herein und füllt das Mittelmeerbecken wieder mit Wasser. Also auch da eine völlig andere Dynamik als wir sie kennenlernen werden bei der Ostsee.

Und indem nun weiterhin diese Bewegung von Afrika nach Norden anhält, bilden sich Gebirge. Wir haben die Kettengebirge, nämlich die Pyrenäen, den Atlas, die Apenninen, die Alpen, die Dinariden, Helleniden bis herüber zum Taurus und Kaukasus. Alle diese Kettengebirge sind entstanden dadurch, daß das Sediment, das vorher im Wasser war, aufgewölbt wird. Nun ist das Eigentümliche dieses, nicht nur erdgeschichtlich, sondern auch in der Menschheitsgeschichte, daß manches im Unsichtbaren geschieht. Auf der einen Seite geschieht etwas Mächtiges, die Gebirge türmen sich auf, und auf der anderen Seite geschieht etwas im Unsichtbaren. Wenn zwei Kontinentalplatten aneinanderstoßen, sinken auch Teile in die Tiefe, schmelzen ein und gehen in den großen Werdekreislauf des äußeren Erdmantels über. So entsteht der Raum für das sich darüber auffaltende Gebirge.

Was entstehen da eigentlich für Formen, wenn solche Kettengebirge entstehen? Wenn wir sie einmal so anschauen, daß wir einen Nord-Süd-Schnitt legen durch diese Gebirge und dann von Westen nach Osten daraufschauen, dann finden wir solche Gebilde wie eine Art Wurzelzone, von größer werdenden, sich gegenseitig überlappenden Falten eingehüllt, das ganze wiederum von ein oder zwei riesigen Deckfalten nach oben und außen abgeschlossen. So etwa sähe eine Rekonstruktion der Stamm- und Deckfalten des Schnittes durch die Alpen nach ihrer Entstehung und vor dem Beginn der Abtragung aus. Die ganze Rekonstruktion macht den Eindruck, als wäre sie das Schnittbild durch ein Organ, nämlich das Gehirn eines Menschen. Auch von der Embryologie der Gehirnbildung wissen wir, wie durch Einstülpungen, Ausstülpungen, Faltungen und Überdeckungen durch große Falten schließlich im Sagittalschnitt ein Bild des Gehirnes entsteht, das dem Bilde der alpidischen Faltengebirgsbildung erstaunlich ähnlich ist. Beide, Gehirn und Faltengebirge, entstehen durch Bewegung aus dem Flüssigen ins Feste. So legen beide Phänomene es nahe, als Ursache der Gehirn- und Faltengebirgsbildung ähnliche Bildekräfte und ähnliche Bildebewegungen anzunehmen.

Ja, was heißt denn das nun wirklich: Gehirnbildung und Faltengebirgsbildung sind sich ähnlich? Wir sind es gewohnt, von Makrokosmos und Mikrokosmos zu sprechen. Durch die betrachteten Phänomene werden wir angeregt, auch noch ein drittes hinzuzudenken, nämlich den Begriff eines Mesokosmos. Das heißt eines Kosmos der Planetenwelt, wo die Sonne das gewaltige Weltenherz ist, die Planeten so etwas wie eine Art Gliedmaßensystem und die Erde, wie Rudolf Steiner sagt, das Haupt. Das Menschenhaupt hat ein Gehirn, und von diesem Gehirn gehen zwölf Gehirnnerven ab, und entsprechend haben wir an dem Erdenhaupt zwölf gewaltige Kettengebirgszüge, die von Nord nach Süd, vom Nordpol ausgehend, herunterströmen. (Wie beim Menschen gliedern sich diese in fünf und sieben.) Das heißt also, daß wir mit den Gebirgen so etwas haben wie Organe des Erdgeistes oder des Erdgehirnes selber. Ein von der Erde gebildetes Nerven-Sinnesorgan.

Und dieser Raum, dieser Mittelmeerraum, der auf diese »gehirnbildende« Weise entstanden ist, wird nun der Raum, von dem Rudolf Steiner sagt, das in ihm sich auf der Menschenstufe die Verstandes- oder Gemütsseele entwickelt. Das Mittelmeer mit seinen Faltengebirgszügen auf der umschließenden Wasserscheide, der eingeschlossenen Salzwasserfläche und den in sie hineinragenden Halbinseln ist also das Erdorgan, dessen erdgestaltende Kräfte den Ätherleib des Menschen und durch diesen dessen physischen Leib gestalten, daß in der vierten Kulturepoche Verstandes- oder Gemütsseele von den hier ansässigen Völkern für die ganze Menschheit entwickelt werden können. Dabei halten die großen Wasserflächen die Seele in Verbindung mit der Geistwelt: das ist mehr die Impulsierung der Gemütsseele.

Nachdem das Mittelmeer schon längst in seiner Bildung abgeschlossen ist, beginnt die Entstehung der Ostsee erst im Quartär. Sie beginnt damit, daß das Eis die Nord-Kontinente unter sich begräbt und einen einzigen riesigen Gletscher bildet: England, Skandinavien, das gleiche in Grönland, der gesamte nordamerikanische Kontinent sind von einem bis zu 3,2 Kilometer dicken Eispanzer bedeckt. Gewaltige Gletscher! Zweierlei geschieht durch das Eis. Indem es langsam zu Tal fließt, hobelt es erstens den fennoskandischen Schildbuckel glatt und vertieft die schon im Devon angelegten Flußtäler im Bereich der drei Ostseemeerbusen, so daß das Profil des heutigen Meeresgrundes der Ostsee entsteht. Zweitens kommt es durch den rhythmischen Wechsel von Kalt- und Warmzeiten, durch welchen die Gletscher abschmolzen, leichter wurden und sich wieder neu bildeten, zu einem Heben und Senken sowie plastischen Verformen des ganzen Schildes. Durch Eisbeschwerung wird der elastische Schild in der Mitte eingedellt und als ganzer tiefer in den zähflüssigen äußeren Erdmantel hereingedrückt. Beim Abschmelzen des Eises taucht der Schild wieder nach oben auf und seine Eindellung wölbt sich wieder auf. Zu der Hobelarbeit kommt ein Rhythmisches, ein atmendes Auf- und Absteigen dazu.

o - Abbildung 11 a g Das Abschmelzen des Eises auf dem fennoskandischen Schild Aus G. Wagner 1960

(Siehe Abb. 11 a-g – Das Abschmelzen des Eises auf dem fennoskandischen Schild (Aus G. Wagner, 1960)) em[gt] Abbildung 11 zeigt uns das Geschehen des letzten Abschmelzens des Eises. Im sogenannten Rügenstadium, wo eine Gletscherzunge gerade noch bis hier nach Rügen kam, bildete sich ein Eissee in diesem Bereich, der natürlich Süßwasser hat, der baltische Eissee. Und das Salzwasser, das ragt gerade mal eben herein (schwarz). Dann das nächste Stadium, der Eissee ist größer geworden, und der süße See fließt ab in den salzigen See. Und nun das letzte Stadium, der süße See ist größer geworden, aber immer noch schafft es der Meerdrache nicht da hereinzufühlen. Das geschieht aber hier in diesem Stadium (11d), wo nun das erste Mal aus dem süßen See ein salziger See wird. Und der Meeresdrache schmeckt jetzt hier herein in die Rigaer Bucht, den Bottnischen Meerbusen gibt es noch gar nicht (da liegt Eis drauf). Erst im fünften Stadium gelingt es dem Meerwesen, bis herauf in den bottnischen Meerbusen zu kommen, und die ganze Ostsee ist von Salzwasser erfüllt.

Wenn das Eis schmilzt, dann steigt der ganze Schild auf. Andererseits, wenn das Eis schmilzt, steigt auch der Meeresspiegel. Und je nachdem, wer schneller steigt, kann es also geschehen, daß auch hier, wie auch heute im Skagerrak, das Tor aufgemacht oder zugemacht wird. Und je nachdem kann also dieser Meeresdrache da hereinfühlen oder nicht hereinfühlen. Und so gibt es auch einen Augenblick, wo er nicht hereinfühlen kann, wo eine Landbrücke entsteht im sechsten Stadium, 6500 v. Chr., und der ehemalige salzige See aussüßt und ein Süßwasser-Binnensee wird. Nach etwa 1500 Jahren bricht diese Landbrücke zusammen (siebentes Stadium, 5000 v. Chr.). Und nun ein letztes Mal fühlt der Drache wieder herein, es ergießt sich Salzwasser herein in die drei Meerbusen. Seit dieser Zeit steigt der baltische Schild auf.

o - Abbildung 12 a Die nacheiszeitliche Aufwolbung Fennoskandiens. Gesamthebung m seit der Yoidlazeit Aus R. Brinkmann 1961
o - Abbildung 12 b Die nacheiszeitliche Aufwolbung Fennoskandiens. Gegenwartiges Aufsteigen mmJahr. Aus R. Brinkmann 1961
o - Abbildung 13 Salzgehalt in Ost und Nordsee Angaben in Promille. Aus G. Wagner 1960

Auf Abbildung 12a sehen wir die Gesamthebung des fennoskandischen Schildes seit 7700 v. Chr. Am höchsten Punkt des Schild-Buckels, im Bereich des bottnischen Meerbusens, immerhin etwa 300 Meter. Heute hebt sich dieser Bereich um einen Meter in 100 Jahren (Abb. 12 a, b – Die nacheiszeitliche Aufwölbung Fennoskandiens. Links Gesamthebung (m) seit der Yoidlazeit; rechts gegenwärtiges Aufsteigen (mm/Jahr). (Aus R. Brinkmann, 1961)). Der Kattegat-Bereich hebt sich heute pro Jahr um etwa 2 Millimeter. Das werden in 2600 Jahren etwa fünf bis sechs Meter sein, das entspricht etwa einem Viertel der heutigen Tiefe des Kattegat. Dadurch könnte der Zustrom von salzreichem Atlantikwasser, welcher gerade in der Tiefe geschieht, erheblich behindert sein. Nimmt man dazu noch die Tatsache hinzu, daß man die Tendenz der Ostsee feststellte, seit etwa 4000 Jahren wieder auszusüßen, so könnte man versucht sein, die Entwicklung vorauszusehen, daß die Ostsee wieder ein reines Süßwasserbecken werden würde. Das würde am stärksten die drei Meerbusen betreffen, die jetzt schon einen minimalen Salzgehalt von unter sieben Promille haben (siehe Abb. 13 – Salzgehalt in Ost- und Nordsee, Angaben in Promille. (Aus G. Wagner, 1960)). Dieses Süßwerden der Ostsee würde dann ab der Mitte der sechsten Kulturepoche deutlich erscheinen.

Was bedeutet das für die Erde selbst – und für die Menschheit? Fragen wir zunächst: Was ist Salz? Salz, lateinisch sal, wird von der Alchymie als eine Substanz bezeichnet, die Weisheit trägt: »ln sale sapientia est«. – Das Meeresdrachenwesen ist ja, wie wir gehört haben, ein Träger der auf die Erde gefallenen göttlichen Weisheit, inspirierend damit die Erdenbildung, die Menschenbildung. – Was heißt demgegenüber Süßwasser, also reines Wasser, ohne Salz? Reines Wasser ist Träger des Lebens, des bios. Leben, das heißt aber Lebenskräfte, ätherische Kräfte, die alle von der Sonne stammen. So ist reines Wasser der Träger der Sonnen-Liebe-Kräfte.

Für die Erde selbst gibt das Salzwasser die Möglichkeit, sich selbst in ihrem Willens-Stoffbereich wahrzunehmen. Die Süßwasserquellen und -seen sind hingegen Wahrnehmungsorgane der Erde für den Kosmos. Man stelle sich vor: Alle Quellen innerhalb der Wasserscheide rund um die Ostsee, alle Flüsse, die in die Mitte fließen, alle die ungezählten Seen namentlich in Finnland, und schließlich die Ostsee selbst: eine einzige, gewaltige kontinentale Schale, von der Peripherie zum Zentrum durchströmt von Süßwasser, ein Wahrnehmungsorgan der ganzen Erde für den Kosmos in der Zeit von Philadelphia.37)

Nun heißt es ja, daß die sechste Kulturepoche Geistselbst entwickeln möge, und das wird ja bezeichnet in dem Nürnberger Apokalypsezyklus als ein spirituelles Leben der Weisheit und der Liebe. Oder noch genauer, wo anthroposophisches Weisheitsgut wird zu einem Liebesimpuls, und das Ich zu seiner richtigen Höhe entwickelt ist und dadurch selbständig in Liebe seine Freiheit entfalten kann, wegkommen kann von der Eigenliebe und diese Liebekraft auf andere Wesen richten kann, also Philadelphia – Bruderliebe. So sehen wir, wie bis in die geologischen Zusammenhänge hinein die dann vielleicht ausgesüßten Meerbusen der Ostsee Anteil nehmen können an dem Zustandekommen der sechsten Kulturepoche. Das wird sich in Rußland ereignen, dem östlichsten Anrainer der Ostsee.

Rudolf Steiner schildert38) die geologischen Voraussetzungen, welche die Entwicklung des Geistselbstes in Philadelphia von der Erde her impulsieren: Ein mit dem Geistigen in Verbindung bleiben durch Meere, die in das Land eingreifen; große Landmassen dahinter garantieren, daß die Bewußtseinsseele nicht nur nicht übersprungen, sondern als Basis in die sechste Kulturepoche hereingenommen werden kann; ein leicht welliges Mittelgebirge sorgt für eine geordnete, ruhevolle Entwicklung im Gegensatz zu einem Hochgebirge, das in Verbindung mit Wasser die Entwicklung in ungesunder Weise beschleunigen würde. Alle diese Bildungen liegen in der Ostsee und namentlich den Landmassen östlich von ihr bis zum Ural vor. Insofern ist die Ostsee durchaus ein »Meer der Zukunft«39) zu nennen.

Doch kehren wir aus dieser möglichen Zukunft zunächst wieder zurück zu den Aufgaben der Vergangenheit, für die das Ostseeorgan auch geschaffen wurde. Süßwasser in Gestalt der Gletscher modellierte die fennoskandische Schale und den Grund des Ostseebodens. Dann tastete das Salzwasser des atlantischen Meeresdrachenwesens vorsichtig in die drei Meerbusen der Ostsee und erfüllte sie. Welchen geologischen Untergrund fand es vor? Der ganze Rigaer Meerbusen wird von devonischen Sedimenten gebildet. Das ist das jüngste Gestein aller drei Meerbusen, es stammt aus dem mittleren Paläozoikum. Dieses Organ aus Salzwasser und Sedimenten verbindet Rudolf Steiner40) mit der menschenbildenden Schöpferkraft des Väinämöinen. Er ist der älteste der drei Kalevala-Helden und ebenso wie die Sedimente der Rigaer Bucht ein Wassergeborener. Sein Name hängt ebenfalls mit Wasser, mit einem ruhig dahinströmenden Fluß zusammen41), er impulsiert die Empfindungsseele. Mit die ältesten Steine der Erde überhaupt, die Granite und Gneise aus dem Archaikum und dem frühen Proterozoikum, bilden den bottnischen Meerbusen im Verein mit dem Fühlhorn des Meeresdrachens. Dieses Organ wird von Rudolf Steiner mit dem jüngsten der drei Helden und seinen Bildekräften verbunden, mit Lemminkäinen. Sein Name könnte – die Etymologie ist noch umstritten – mit Liebe, Feuer, Flamme zusammenhängen, was dann mit den feuergeborenen Plutoniten des bottnischen Meerbusens zusammenklänge. Gleichwohl stimmt es, daß aus Lemminkäinens Feuer die Bewußtseinsseele entbunden wird. Der finnische Meerbusen bildet zu den beiden vorgenannten Polaritäten eine echte Mitte. Am nördlichen Ufer finden wir wieder kristalline Gesteine sehr hohen Alters aus dem frühen und mittleren Proterozoikum und am südlichen Ufer Sedimente aus dem Beginn des Paläozoikums (Kambro-Silur). Diese Begegnung feuer- und wassergeborener Steine mit dem Meeresdrachen verbindet Rudolf Steiner mit dem Schmied Ilmarinen, der aus den heterogensten Substanzen den Sampo schmiedet. Sein Name hängt mit ilma, Luft, zusammen. Er gestaltet den menschlichen Ätherleib, eben den Sampo, aus dem Ätherleib der Erde und impulsiert die Entwicklung der Verstandes- oder Gemütsseele.

Diese Zusammenhänge legen folgenden Gedanken nahe: Das Erdenorgan der Ostsee in seiner Dreigliedrigkeit ist für die drei hohen geistigen Wesen Väinämöinen, IImarinen und Lemminkäinen der gemeinsame physische Organismus, um als Geistwesen auf der Erde wirksam sein zu können, durchaus an verschiedenen Erdenorten und zu verschiedenen Zeiten, aber von der Ostsee als ihrer Leiblichkeit auf Erden ausgehend. Denn sie impulsieren die Herausbildung der drei Seelenglieder des Menschen: Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele für die ganze Menschheit. Damit stecken sie auch die Entwicklungsziele der ägyptisch-chaldäischen, der griechisch-lateinischen und der keltisch-germanischen Kulturepoche ab. Väinämöinen, der uralt-weise Sänger bildet in der Zeit des verglimmenden alten Hellsehens die Empfindungsseele der Menschheit, die beginnt in Bildern zu »denken« oder besser: zu empfinden. Das geschieht in der ägyptisch-chaldäischen Zeit, wo überall auf der Erde die großen Gottesbilder, die Mythologien entstehen. So liegen in dieser Zeit im Ostseeraum die Quellgebiete für die finnische Mythologie der Kalevala und die germanische Mythologie. Auch die letztere kennt eine Götter-Trias: Odhin-Wotan, Thor-Donar und Tyr-Tiu-Ziu. (Erst sehr spät trat an die Stelle des Tyr, aus Schweden kommend, Freyr.)

Wenden wir nun den Blick von der geologischen Entstehung des Ostseegebietes zu dessen Besiedelung durch den Menschen. Es war zuletzt Suchantke42), der 1993 aufgezeigt hat, wie die geologischen Bildungen etwa des Tanganjika[-]Grabens in Afrika, des Jordangrabens in Palästina, des Faltensystems des Mittelmeeres sowie der Rhöne-Bresse-Rhein-Oslo-Grabenbruchzone die Strukturen und Wege vorzeichnen, entlang derer sich die Urmenschheit schon lange vor den Eiszeiten von Afrika nordwärts nach Europa hin ausbreitete. Diese enge Verbindung von Erd- und Menschheitsentwicklung zeigt uns auch der Beginn der Besiedelung des Südweststrandes des Ostseegebietes. Dem sich stark zurückziehenden skandinavischen Gletscher nach der Riß-Eiszeit waren die Erstbesiedler aus Nord- und Mitteldeutschland nachgezogen und besiedelten Dänemark und die deutsch-polnische Ostseeküste. Die letzte, die Würm-Eiszeit ist gekennzeichnet durch eine letztmalige Ausdehnung der Gletschermassen nach Süden, die dabei die Erstbesiedler wieder zurückdrängten und deren Spuren unter sich begruben. Darauf hatte ja Herr Schmidt-Brabant schon hingewiesen, wie in den Kaltzeiten die Kulturen gewissermaßen »schlafen«, um dann zu den Warmzeiten wieder zu »erwachen«. Etwa ab der Zeit von 10 000 v. Chr. setzten im Zuge des kontinuierlichen Abschmelzens des skandinavischen Gletschers zwei bis in die Zeit von etwa 450 v. Chr. reichende Zuströme von Menschen in den Ostseeraum ein. Der nördliche Strom entspringt im nord russisch-sibirischen Raum und fließt von Osten nach Westen, wohingegen der südliche Strom, aus dem Südosten, aus Asien, Kleinasien und dem Schwarzmeergebiet kommend, nach Nordwesten fließt. Beide Strömungen vermischen sich in den Ländern rund um die Ostsee. Dieses zeigt im Einzelnen die Abbildung 10. Die Einwanderung beginnt mit dem nördlichen und dem südlichen Strom ab 10000 v. Chr., die sich aber noch nicht berühren. Erst mit dem zweiten nördlichen Schub ab 3500-2500 v. ehr. beginnt die Vermischung mit dem südlichen Strom an der Südküste der Ostsee. Der Vorstoß der sibirischen Kulturen ab 2500 v. Chr. in den schwedisch-norwegisch-dänischen Raum führt dort zur Begegnung mit dem südlichen Bevölkerungsstrom. Durch die Zuwanderung des südlichen Menschheitsstromes der Streit- und Bootsaxtleute aus dem Osten und dem Schwarzmeergebiet in die Gebiete rund um den Rigaer und den finnischen Meerbusen ab 1250 v. Chr. ist die Vermischung des nördlichen und südlichen Stromes in allen Bereichen der südlichen Ostsee abgeschlossen. Damit stehen wir zeitlich mitten im dritten nachatlantischen Zeitraum, der Entwicklungszeit der Empfindungsseele, das ist die Zeit des Entstehens des mythologischen Empfindens der Götterschicksale. Jetzt, in der Begegnung von Norden und Süden, kann Neues entstehen: IImarinen schmiedet aus dem Ätherleib der Erde den Sampo, das ist der neue Ätherleib der Eingewanderten. In ihm fließen zusammen die geologischen und klimatischen Besonderheiten der jeweiligen Erdgegend. Dieser Sampo, dieser den Extrakt der Erde enthaltende Ätherleib des Menschen, ist ab jetzt, wo auch immer er neu geschmiedet wird, der Quellgrund der Epen aller Völker. Väinämöinen hingegen gestaltet den Astralleib als ein Bauendes, welches das Göttliche aus dem Himmlischen ins Irdische hineinträgt.43) Er ist der große Gottes-lieder-Sänger. So entstehen aus der Begegnung und im Zusammenwirken von Menschen aus Norden und Süden, von Himmel und Erde, von IImarinen und Väinämöinen im Westen des Ostseeraumes die Ursprünge der germanischen Mythologie und im Osten das Kalevala-Epos. (Die Felsritzzeichnungen aus Schweden und Norwegen legen es nahe, die Wurzeln für die germanischen Göttertrias sogar noch um einige Jahrhunderte weiter in die Vergangenheit vor 1250 v. Chr. zu verlegen.) Das Ende der Einwanderung ist gekennzeichnet durch den Einfall der Skythen aus dem Schwarzmeer-Gebiet in der älteren Eisenzeit (700-450 v. Chr.).

Wer ist nun der Menschheitsführer, der alle diese kulturtragenden Ströme und das menschheitliche Wirken der drei Kalevala-Helden leitet und zusammenfügt? Rudolf Steiner nennt seinen Namen: Skythianos:44) Er inspiriert die Führer der vorchristlichen, europäischen Urkultur. Aus dem physischen Wirkensort seiner Mysterienstätte, dem Schwarzmeerbereich, oder durch diesen hindurch, zieht der südliche Menschheitsstrom nach Norden in das Ostseegebiet. Skythianos ist der Inspirator des nördlichen und des südlichen Stromes.

Aus der Verschmelzung der erwähnten nördlichen und südlichen Einwanderungsströme gingen nun nach und nach die geschichtlich bekannten Volksstämme im Ostseebereich hervor: im Westen die Finno-Ugrier, im Süden die Esten, Letten und Slawen. Aus ihnen haben sich bis auf den heutigen Tag zwölf Völker und Sprachen aus vier Sprachgruppen heraus gebildet. Die Letten und litauer aus der Sprachgruppe der Letten und litauer, dann aus der Sprachgruppe der Germanen die Deutschen, die Schweden, die Dänen und die Norweger – denn die gehören tatsächlich auch zur Ostsee dazu – , aus der Gruppe der Finno-Ugrier die Lappen, die Finnen, die Karelier und die Esten und aus der Gruppe der Slawen die Weißrussen und Polen. Und so harren diese zwölf eigentlich auf den Dreizehnten und das sie verbindende Element. In der Mitte des letzten Jahrtausends vor Christus ebbt der Einwanderungsstrom in das Ostseegebiet ab, und nur innerhalb seiner Grenzen breiten sich die Einwanderer aus und nehmen zu an Zahl. In dieser relativen Ruhe entwickeln sich im Westen und Osten der Ostsee verschiedene Stufen der Bewußtseinsentwicklung, begünstigt und geleitet durch die je unterschiedliche geologische Beschaffenheit. Die damals besiedelten küstennahen Gebiete Südskandinaviens und Dänemarks zeichnen sich durch eine Unzahl von (meist granitenen) Schären, Inseln und Halbinseln aus, die dem Festland vorgelagert sind. Solche Erdbildungen wirken beschleunigend auf die Ausbildung der Bewußtseinsseele, so daß zu damaliger Zeit bei den germanischen Stämmen eine verfrühte Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins begann. Ganz anders die Verhältnisse in Finnland. Hier finden wir das polare Verhältnis von Wasser zu Land. In die uralte Granitfestlandsplatte ist eine Unzahl von Seen und Mooren eingestreut. Diese vielen Sinnesorgane für den Kosmos binden die Seelen länger und stärker an das Geistige als die westliche Ostseebildung. So finden wir hier über lange Zeiten vorherrschend die Form der Empfindungsseelenkultur und bis heute eine Häufung alten Hellsehens und atavistischer Fähigkeiten wie sonst kaum noch in Europa. Es entspricht diesen polaren Bildungen, daß seit dem 16. und 17. Jahrhundert bis heute an der inselreichen Südwestküste Finnlands der Anteil der Schweden oder der schwedisch sprechenden Finnen an der Bevölkerung sehr hoch ist.

Diese Beobachtungen lassen nun verständlich werden, welche Völkerschaften die europaweiten Bewegungen der Völkerwanderungszeit eröffneten: die Germanen des südwestlichen Ostseeraumes. War es das früh erwachende Persönlichkeitsbewußtsein, »die Sehnsucht nach den göttlich-geistigen Welten«,45) die Erschütterung durch die Götterdämmerung und die Suche nach dem wiederkehrenden Baldur, die Erinnerung an die Herkunft des südlichen Teiles ihrer Vorfahren aus dem Schwarzmeerbereich, oder war es auch äußere Nahrungsknappheit, wie die Guta-Sagas46) berichten, in jedem Fall machten sich schon im ersten Jahrhundert vor Christus Goten (aus Südschweden) und Heruler (aus Norddänemark) auf den Weg südostwärts über das Weichselgebiet bis zum Schwarzmeer, wo sie etwa 200 n. Chr. anlangten.47) Knapp 200 Jahre siedelten sie hier im Wirkensbereich des Skythianos. Hier nehmen sie das Christentum an als erste der germanischen Völkerschaften. Man könnte sie und ihren Bischof Wulfila (†383) die letzten Urchristen nennen. War die Christus-Begegnung der tiefere Grund ihrer Wanderung?

o - Abbildung 15 Europa beim Tode Theoderichs des Grosen 526 n. Chr
Abbildung 14 - Die Besiedelung des Ostseegebietes

Wir versagen es uns, den Bewegungen aller Völker auf ihren Wanderungen durch Europa und in den Mittelmeerbereich nachzugehen. Das Ziel fast aller wandernden Germanenvölker ist der Mittelmeerbereich als das Erdenorgan der Impulsierung insbesondere der Verstandesseele. Denn in der vierten Kulturepoche war das Mittelmeer der Bildner der Griechen, Römer, Juden, Germanen, Araber und Türken, die hier nacheinander eintrafen und ihr zweites Seelenglied erbildeten. Von den Germanen sind nacheinander in das Mittelmeergebiet die Ost- und Westgoten, die Wandalen und Burgunder eingewandert, und sie gründeten für meist kürzere Dauer ihre Reiche im weströmischen Teil des ehemals ungeteilten römischen Imperiums. Den Höhepunkt der germanischen Besiedelung zeigt uns Abbildung 15 im Augenblick des Todes Theoderichs des Großen im Jahre 526. Alle Germanen im Mittelmeer waren Bekenner des arianischen Christentums. Ihnen standen in der oströmischen Hälfte des Mittelmeeres die Bekenner des athanasianischen Christentums unversöhnlich gegenüber. Nach dem Zusammenbruch des ostgotischen Reiches folgen die Langobarden den Goten in der Besiedelung Italiens. Sie waren nur am Anfang ihrer Herrschaft Arianer und wurden dann zum athanasianischen Glauben bekehrt. In der Folge haben es Ostrom/Byzanz und später der römische Papst wirksam verstanden, die weströmische Hälfte des Mittelmeeres den Germanen zu entwinden und die Spuren des Arianismus von der Oberfläche des Menschheitsbewußtseins wieder zu tilgen. (Siehe Abb. 14 – Die Besiedelung des Ostseegebietes nach der letzten Eiszeit (bis 450 v.Chr.), Die Pfeile symbolisieren keine Wanderwege; sie verbinden lediglich die wahrscheinlichen Ausgangsorte mit den Zielen der Einwanderer)

1. Arktisches Paläolithikum (10.000 – 3.500)
2. Arabien-Aurignacien (10.000 – 3.500)
3. Ost-Gravettien. Ahrensburger Kultur (10.000 – 3.500)
4. Sibirische Kulturen (3500 – 2.500)
5. Sibirische Kulturen (2.500 – 2.000)
6. Streit- und Bootsaxtkulturen aus Osten (1.250 – 750)
7. Skytheneinfall In der älteren Eisenzeit (700 – 450)

Abbildung 15 (S. 112 oben): Europa beim Tode Theoderichs des Großen (526 n. Chr.)
Abbildung 16 (S. 112 unten): Die Wikinger, Normannen und Waräger
(Abbildung 14 bis 16 vereinfacht zusammengestellt aus Großer Historischer Weltatlas 1972 durch E.-M. Hoerner.)

o - Abbildung 16 Die Wikinger Normannen und Warager

Welche Bedeutung kommt nun den beiden streitbaren Glaubensrichtungen zu und in welches geistige Umfeld treten die aus dem Ostseebereich kommenden Germanen im Mittelmeer ein? Die Entwicklung der Verstandes- oder Gemütsseele ist eine differenzierte: Die Verstandesseelenentwicklung geschieht vornehmlich innerhalb des Mittelmeerbereiches, während die Gemütsseele mehr außerhalb desselben, besonders von den germanischen Völkerschaften entwickelt wird. Ziehen diese nun in das Mittelmeer ein, so werden sie zusätzlich der Förderung der Verstandesseele teilhaftig. Die Verstandesseelenkultur des Mittelmeeres ist dadurch charakterisiert, daß aus dem alten Hellsehen heraus die Verwandlung der mythischen Bilder geschieht, die dann schließlich zu ersten Begriffen eines Plato gerinnen und nun das Denken in Begriffen entstehen kann. Und nicht nur das Denken in Begriffen, sondern in individuellen Begriffen, bei deren Bildung das Individuum erstmalig mit in das Denken hineingeht. Und deshalb gibt es viele Schulen und viele Arten von Strömungen und Begriffen. In diese Welt hinein ergießt sich nun das junge Christentum, und das heißt, daß jeder, der mit seinen Begriffen, seinen Vorstellungen auf Christus schaut, sucht, mit seinen Begriffen das Mysterium von Golgatha zu verstehen. So daß da eine Vielzahl von Arten, das Christentum zu verstehen, möglich war.

Und dann bricht ein Unglück über die Menschheit herein, von welchem sie sich bis zum heutigen Tage noch nicht erholt hat, in Gestalt von Konstantin. Die Geschichte hat ihm den Beinamen »der Große« gegeben. Konstantin und Theodosius I. machen das Christentum zur Staatsreligion. Dazu muß der Kultus in all seiner Vielgestaltigkeit eingeschränkt und alle die vielseitig-individuellen Arten, das Christentum zu verstehen, müssen auf wenige, das heißt am besten auf eine einzige Art zurückgeschnitten werden, damit die neue Religion zum Konstitutiv des römischen Staates werden kann als ein Vereinheitlichend-Verbindendes der Völkervielfalt. So muß es zum Entscheid zwischen den verschiedenen Glaubensbekenntnissen kommen, der erste Glaubensstreit beginnt. Denn es trat nämlich ein Mann auf, Areios (260-336), von dem Rudolf Steiner sagt, daß sein spiritueller Lehrer der Meister Jesus gewesen sei.48) Außerdem steht er in der Lehrströmung des Paulus, in der antiochenischen Schule. Seine Lehre der Trinität stellt dar, daß da drei Personen sind, die voneinander verschieden sind und doch eines. Der Vater, der Urgrund vor aller Zeit; der Sohn sein erstes Geschöpf, durch den Vater aus dem Vater, und durch diese erste Zeugung die Schaffung der Zeit, der Vater der Seiende, der Sohn der Werdende. Infolge dessen können die beiden nicht wesensgleich sein, sondern nur wesensähnlich. Der Heilige Geist ist durch den Sohn vom Vater gesandt und dem Sohn untertan, wie der Sohn dem Vater. Dieser Lehre tritt Athanasios (ca. 300-373) entgegen. Aus Sorge um ein Wiederaufleben des vorchristlichen Polytheismus vertritt er vehement die Wesensgleichheit der beiden ersten göttlichen Personen, denn er kann ihre Einigkeit nur unter der Voraussetzung der Wesensgleichheit denken. Der Streit zwischen den Arianern und den Athanasianern ist der typische Streit einer jugendlichen Menschheit. Ebensowenig wie es Jugendlichen gelingt, die volle Wahrheit statt in einem Entweder-Oder in einem Sowohl-als-auch zu finden, ebensowenig gelingt dies auch in diesem Glaubensstreit. So sieht sich Konstantin – wiewohl noch nicht Christ – aus Gründen der Staatsräson dazu genötigt, auf dem Konzil von Nicäa, das er 325 einberuft und präsidiert, sich gegen die Lehre des Areios und damit für die Annahme der Wesensgleichheit von Vater und Sohn zu entscheiden. Damit war das erste Dogma fixiert, und die jedem Dogma eigene Logik gebiert auf der Stelle weitere Dogmata. So spannt sich der erste Bogen zum Konzil von Ephesos im Jahr 431, wo dogmatisiert wird, daß Maria einen Gott geboren habe. Verdunkelte das erste Dogma das unterschiedliche Wesen des Vaters und des Sohnes, so besiegelt das zweite den Verlust des Verständnisses der Menschheit Jesu und damit das Verständnis der Inkarnation Christi. Durch diese ersten beiden Dogmata ist bereits 400 Jahre nach dem Mysterium von Golgatha der Kern der christlichen Substanz in der öffentlichen Vertretung des Christentums preisgegeben. Das schlägt sich geschichtlich nieder in der Trennung Ostroms von Westrom. Das Zentrum, die Mitte gibt es nicht mehr, und so bricht Europa auseinander in Westen und Osten, eine Krankheit an der wir bis heute leiden. Die damalige politische Trennungslinie (siehe Abb. 11) ist bis heute, in dem Jugoslawien-Konflikt, lebendig.

In diese Welt innerer und äußerer Konflikte der Verstandesseelenkultur ergießt sich der germanische Völkerstrom. Vor dem Hintergrund der Fixierung des ersten Dogmas durch Konstantin und dessen Bestätigung durch Theodosius I. ist es um so erstaunlicher, daß nun alle die Goten, Burgunder, Wandalen und zum Teil auch die Langobarden überzeugte Arianer wurden. Diese Tatsache ist als das alleinige Verdienst und das weit über seinen Tod hinausstrahlende Werk des Gotenbischofs Wulfila zu würdigen,49) den Rudolf Steiner den »ersten christlichen Eingeweihten Europas« nennt.50) Daß die in das Mittelmeergebiet einwandernden Germanen ausnahmslos das arianische Christentum annahmen, wird aber erst völlig verständlich durch die Einbeziehung der besonderen germanischen Bewußtseinsentwicklung. Die bereits verfrühte Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins wird getragen durch die ebenfalls noch im Ostseebereich entwickelte Gemütsseele. So wuchsen zu dem erwachten Persönlichkeitsbewußtsein aus dem Inneren Seelenkräfte und Tugenden wie Mut, Tapferkeit, Todesverachtung, aber auch Mitleid, Treue und das Streben, einen höchsten Führer verehren zu wollen, hinzu. Dieser durchaus differenzierten Persönlichkeitsstruktur kam nun die arianische Form des Christentums mit ihrer differenzierten Anschauung der drei göttlichen Personen aus der Verstandesseelenkultur geradezu entgegen. So finden die Germanen Christus. Und sie finden ihn in dem Bereich der Verstandeskultur, aber sie finden ihn als ihren Bruder, als ihren höchsten Führer. Rudolf Steiner schildert,51) daß sie ihn finden nicht als jemand, der ihnen von außen begegnet, wie den Römern und den Griechen, sondern wie wenn Christus aus ihrem eigenen Inneren aufsteigen würde, ihnen wesensvertraut und verwandt. Das heißt also, zwischen einem Germanen-Ich und dem Christus-Ich ist nicht die Brille eines Begriffes der römischen Verstandesseele, die Christus fortwährend vergleichen muß mit Jupiter, mit Helios oder mit Asklepios. Also man möchte sagen, wenn es den Begriff damals schon gegeben hätte, eine reine Wahrnehmung Christi in dem Gemüt der jungen germanischen Seelen.

Und während das auf dem Erdenplan geschieht, geschieht im Übersinnlichen etwas ganz anderes. Rudolf Steiner schildert, daß, während das alles da geschichtlich auf Erden geschieht, was ich geschildert habe, sich Christus in die germanischen Volksseelen hereinbegibt. So, wie er sich einmal in dem Menschen Jesus verkörpert hat, so verkörpert er sich jetzt in die germanischen Volksseelen, deren Völker aus dem Ostseebereich kommend ihre Schicksale in dem Mittelmeerbereich als arianische Christen suchen und finden. Die Folgen dieser Tat wollen wir zum Schluß aufgreifen.

Nun kommt eine letzte Welle von Auswanderern aus dem Ostseegebiet, und das sind die Wikinger. Die Wikinger treiben, genauso wie das die Goten getan haben, einen östlichen und einen westlichen Zweig. Die einen siedeln sich im Osten Europas an als die Ruotsi und bilden zusammen mit den Slawen das russische Volk. Die anderen gehen nach Westen, siedeln in England, der Normandie, Schottland, Irland und Island und entdecken Amerika wieder, wie es schon geschildert wurde, und als allerletzte kommen schließlich die Normannen und errichten ein letztes Mal ein germanisches Reich in Süditalien, das 129 Jahre besteht und 1189 an die Staufer übergeht.

o - Abbildung 17 b Wikingerstein aus Gotland 7. 8. Jahrhundert Riddare. Aus NylenLamm 1991
o - Abbildung 17 a Wikingerstein aus Gotland 7. 8. Jahrhundert Stenkyrka. Aus NylenLamm 1991

Was heißt es für einen Wikinger, zur See zu fahren? Herr Borgman Hansen hat es ja schon erwähnt. Das heißt, den Meeresdrachen, die Midgardschlange zu befahren. Dieses Bewußtsein formte die Darstellung auf den gotländischen Bildsteinen (siehe Abb. 17b – Wikingersteine aus Gotland, 7.-8. Jahrhundert, Riddare. (Aus Nylen/Lamm, 1991)): das Meer ist stilisiert als Drache mit gehörntem Kopf und Schlangenschwanz, während die Schaum-Kronen des Wellenleibes mit Flechtbändern gegeben werden. Dieses Meereswesen trägt in den Schiffen so etwas wie ein ihm abgelauschtes Abbild seiner selbst; denn auch sie zeigen am Bug ein Drachenhaupt und am Heck einen Schlangenschwanz (Abb. 17a – Wikingersteine aus Gotland, 7.-8. Jahrhundert, Stenkyrka). (Aus Nylen/Lamm, 1991)), die Segel sind die Flügel, deshalb werden die Schiffe auch Drachen genannt. Die Beisetzung der Helden geschieht inmitten schiffsförmiger Steinsetzungen. Das Motiv des Drachenbootes findet sich bereits in den Felsritzzeichnungen der Bronzezeit ab 1500 v. Christus. Für den Wikinger heißt leben, sich in der Außenwelt mit der Weisheit und Wildheit des Meeresdrachenwesens zu messen und dabei Kräfte der Gemütsseele: Tapferkeit, Mut und Todesverachtung zu stählen, während sterben heißt, mit dem Totenschiff ins Geisterland zu fahren. (Siehe Abb. 18 – Schiffssetzung Käseberga, Südschweden 8.-10 Jahrhundert. (Aus zu Mondfeld, 1986))

o - Abbildung 18 Schiffssetzung Kaseberga Sudschweden 8. 10 Jahrhundert. Aus zu Mondfeld 1986
o - Abbildung 19 a Langsschnitt durch die Stabkirche von Goi in Hallingdal 12. Jahrhundert. aus Lindholm 1968
o - Abbildung 19 b Holzkonstruktionen in einem Wikinger Boot aus Lindholm 1968
o - Abbildung 19 c ein Stabkirchendach aus Lindholm 1968

Gegen 1035 war die Christianisierung der Ostseegermanen im Großen abgeschlossen. Damit waren die Skandinavier gut 600 Jahre später Christen geworden als die in das Mittelmeergebiet einwandernden Germanen. Die ruhelos die Meere durchpflügenden Wikinger und Normannen kümmerte das mehr äußerlich angenommene Christentum nicht viel; sie bauten Schiffe für ihre Kaufmanns-Raub-und-Beute-Züge. Was taten die im norwegischen Lande seßhaft gebliebenen? Auch sie bauten Schiffe, ebenso in Drachengestalt wie ihre seefahrenden Brüder, aber der Kiel war zum Himmel gerichtet: Sie bauten Kirchenschiffe (siehe Abb. 19 a-c, a: Längsschnitt durch die Stabkirche von Goi in Hallingdal, 12. Jahrhundert. b: Holzkonstruktionen in einem Wikinger-Boot und c: einem Stabkirchendach. (Alle aus Lindholm, 1968)). Von innen glichen die Stabkirchen mit ihren Masten und der schiffsartigen Dachstuhlkonstruktion tatsächlich den Wikingerschiffen, von außen jedoch, durch die Schindeln wie mit einer Schuppenhaut umhüllt, die Drachenköpfe nach Ost und West gerichtet, glichen sie eher einem Drachenwesen, dem uralten, inspirierenden Meeresdrachenwesen der germanischen Mythologie, der von Odhin auf die Erde geworfenen Weisheits-Midgardschlange. Meeresdrache und Drachenschiff sind eines geworden! Die Wikinger messen sich mit der Weisheit und der Wildheit der Außenwelt. Dieses Abenteuer zu bestehen, bedarf des Todesmutes. Um in die Innenwelt des Weisheitsdrachens, in seine Haut – in die Stabkirche – einzutreten, bedarf es auch des Todesmutes: Im Vorraum werden die Waffen der Außenwelt abgelegt, es gilt der Außenwelt zu ersterben und die Gefahren des Geistesmeeres im Seeleninneren nur kraft des Ich zu bestehen. Dieses Geistesabenteuer verlangt die Totalmetamorphose eines Germanen auf Wikingfahrt in einen Christenmenschen. Welche Weisheit der Menschheitsführung regte diese Metamorphose an? Nicht erst als Toter, sondern als ein noch im Leibe Lebender kann der Germane, geborgen im Drachen-Geisterschiff der Stabkirche, kämpfend den Übergang ins Geisterland bei wachem Bewußtsein vollziehen lernen.

Wagen wir zum Schluß einen Ausblick auf die Gegenwart, die keltisch-germanische Kulturepoche. (Seit dem Ersten Weltkrieg nennt Rudolf Steiner sie nur noch die fünfte nachatlantische Kulturepoche. Es scheint so, daß sie durch den Krieg ihres eigentlichen Namens verlustig ging! Das vermochte zu erwecken!!) Was ist eigentlich die Aufgabe dieser Zeit? Um die Antwort zu finden, soll angeknüpft werden an die erwähnte Tatsache der Verkörperung Christi in die germanischen Volksseelen zur Zeit der Völkerwanderung, des arianischen Christentums im Mittelmeerraum in die griechisch-lateinische Kulturepoche. In folgendem wird der Wortlaut Rudolf Steiners52) wiedergegeben. »Zwischen dem Volk oder den Völkern, die da als nordische Barbaren sich auslebten, zu denen der Christus kam, und dem Jesus selber, zu dem als einzelner Mensch der Christus kam, ist nur ein gradueller Unterschied. In Palästina kam der Christus zu dem einzelnen Menschen Jesus. Dann breitete sich der Impuls aus über die südlichen Länder. Da war überall das Tor des Vorstellungslebens da, da konnte er nicht so hinein, wie er in den Menschen Jesus hinein konnte. Wie zu den nördlichen Barbaren der Christus-Impuls kam, da konnte er allerdings nicht zu den einzelnen Menschen überall hinein – die waren keine Jesusse –, aber in die Völkerseelen konnte er hinein; die nahmen ihn als Christus in einer gewissen Beziehung auf Und ein ähnlicher Prozeß spielte sich ab zwischen den Volksseelen und dem Christus wie zwischen dem Jesus und dem Christus. (. . .) Die Kraft, die mit dem Mysterium von Golgatha verbunden ist, sie hat sich einmal in einer wenig bekannten Provinz des römischen Reiches mit dem Menschen des Jesus von Nazareth verbunden, dann mit den Volksseelen Mitteleuropas. Aber sie ist dann ins Innere gegangen. Und aus dem, was da in Mitteleuropa in dem Inneren lebte, sind hervorgegangen solche Leistungen wie die Goethes und des gesamten Goetheanismus.«

In dem welthistorischen Augenblick, da auf Erden die ersten (athanasischen) Dogmen den freien Blick auf das Wesen der Trinität zu verstellen beginnen, geschieht im Übersinnlichen die Grundlegung einer anschauenden Wissenschaft, die in der Sinnenwelt das Walten der Trinität anschaubar macht.

Das heißt, der Goetheanismus ist ein ur-christlicher Impuls, mehr noch, ein Impuls Christi selber! Das heißt zweitens, der Goetheanismus ist die Aufgabe der keltisch-germanischen Epoche, und es heißt drittens, der Goetheanismus ist das Geschenk des Ostsee-Mittelmeerraumes an diese unsere Zeit. Wir erinnern uns, wie die Arianer Menschen waren, die unmittelbar, ohne Vorstellung, als reine Wahrnehmung eine Christus-Begegnung hatten. So möchte man den Goetheanismus den modernen Arianismus in Bezug auf die Natur nennen. Denn er geht aus von der unmittelbaren Anschauung, der Wahrnehmung. Und, wie Herr Wilenius betont hat, von der Empfindung des Wahrgenommenen. Der Goetheanismus hält zurück alle die Begriffe, alles das, was ich doch schon weiß. Das heißt, daß der Goetheanismus zunächst einmal eine Reinigung meiner Seele ist. Eine Schulung, daß ich all das, was durch die luziferische Versuchung in die Seele gekommen ist, daß nämlich in allem Seelenleben fortwährend Egoismus hereinspielt, daß ich durch eine Schulung zur Selbstlosigkeit alles Selbstische herauswerfe. Jetzt wird die Seele weit und groß, und die ganze Welt hat darin Platz. Aber die Welt, so wie sie ist, und nicht, wie ich gerne hätte, daß sie sei. So daß die Welt im Ich erstehen kann. Und so könnte man eigentlich ein Wort, daß Ihnen von Paulus her (Gal. 2,20) bekannt ist, umformulieren und sagen: Ich – nun aber nicht Ich, sondern die Welt der Wahrnehmung in mir. Die Welt der Wahrnehmung – das ist die durch den Sohn vom Vater gestaltete Werkwelt – und wir sind mitten im Arianismus!

Dann aber, wenn dieses Ich selbstlos ist, kann seine Weisheit Liebe werden. So kann Goetheanismus werden die Erlösung der Seele vom Egoismus, auf der anderen Seite die Erlösung der Welt von Ihrem Nichtoffenbarsein. Das ist die Vorbereitung von Philadelphia, der sechsten Kulturepoche.

Die spirituelle Grundlegung des Goetheanismus durch Christus in den Volksseelen der Germanen, die als Arianer im Mittelmeerraum weilten – das klingt damit zusammen, wie und wo Goethe die gedankliche Formulierung seiner Wissenschaft gelingt. Seit Goethe am 21. März 1776 sein Gartenhaus an der Ilm bei Weimar bezogen hatte, beginnen seine systematischen Studien der Pflanzengestalt. Kurz vor der Abreise nach Italien ahnt, empfindet er den Ideenorganismus, und dann in Italien kann er schrittweise erstmalig den Begriff der Urpflanze und der Metamorphose formulieren (am 27. September 1786 in Padua, am 25. März 1787 in Neapel und am 17. April 1787 in Palermo auf Sizilien).53) In Italien mit seiner Halbinselgestaltung und der Insel Sizilien, welche Bildungen die Entwicklung der Verstandeskultur fördern, da gelingt es Goethe, seine Anschauung in wissenschaftliche Begriffe zu formen! Im Mittelmeergebiet formulierte Goethe den methodischen Schlüssel zu allen den Wissenschaftsgebieten, mit denen er sich sein Leben lang beschäftigte: Gestalt-Urbild und Gestalt-Verwandlung. Damit entdeckte er das Vater- und Sohnesprinzip und ihr Unterschiedliches in der sinnlichen Welt.

Welches ist nun das Schicksal des Goetheanismus bis auf unsere Tage? Mit tiefem Erstaunen vernimmt man aus dem Munde Rudolf Steiners, daß er die herrschende Wissenschaftsmethodik unserer Zeit sein sollte: »Das, was Platonismus im Griechentum ist, das ist Goetheanismus für den fünften nachatlantischen Zeitraum.« Das sollte sein. Aber was ist? »Gerade das 19. Jahrhundert hat viel dazu getan, um den Goetheanismus im Grabe ruhen zu lassen (. . .)« Aber: »(. . .) das Grab, welches vor allen Dingen in erster Linie die Gedankenlosigkeit der modernen Kultur gräbt, dieses Grab wird doch auch ein Grab sein, aus dem etwas aufersteht. Mit den mitteleuropäischen Volksseelen hat sich verbunden der Christus-Geist; im Schoße dieser Volksseelen ist der Goetheanismus erstanden. Es wird eine Auferstehung kommen, eine Auferstehung, die man sich nicht politisch vorstellen soll, eine Auferstehung die ganz anders aussehen wird, aber eine Auferstehung wird es sein. Der Goetheanismus lebt nicht, der Goetheanismus ruht noch im Grabe für die äußere Kultur. Der Goetheanismus aber muß auferstehen. (. . .) Dann wird zusammenhängen der Weg der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, der im absoluten Sinne zu gewinnen ist, mit dem historischen Weg der Wiederauferweckung des Goetheanismus, aber auch mit dem Impuls, der aus dieser Auferweckung des Goetheanismus kommen kann, zu dem neuen Verständnis des Mysteriums von Golgatha, zu dem richtigen Christus[-]Verständnis, wie es für unsere Zeit notwendig ist«54) Der Goetheanismus als Keimkraft eines erst kommenden Christusverständnisses und eines Christentums der Zukunft!

Zunehmend mehr hört man die Meinung, die Aufgabe unserer gegenwärtigen Kulturepoche sei die Vorbereitung der folgenden sechsten, der slawischen Kulturepoche. Gut – aber was heißt denn im Ernste vorbereiten? Wenn ich ein Dach bauen will, werde ich nicht mit dem Dach beginnen können, sondern werde seinen Bau vorbereiten durch Fundamente, die ich lege und Mauern, die ich aufrichte, und erst als letztes werde ich das Dach bauen. Ebenso ist das Fundament gelegt für die slawische Epoche durch die griechisch-lateinische Zeit mit der geistigen Grundlegung des Goetheanismus, und die tragenden Mauern sind die Auferweckung des Goetheanismus aus seinem Zivilisationsgrab und seine Fortentwicklung in der keltisch-germanischen Epoche. Das ist aber noch lange nicht geleistet, es ist das vielmehr die Aufgabe unserer Gegenwart, an deren allerersten Anfängen wir stehen und die erst im vierten christlichen Jahrtausend erfüllt sein wird.

Erschreckend oft kann man dennoch hören, der Goetheanismus habe ja nur die Aufgabe, auf die Anthroposophie hinzuführen, das eigentliche aber sei die Anthroposophie. Rudolf Steiner selbst hat diese Meinung richtiggestellt, und so schließen wir mit seinem Worte, so wie wir mit ihm begonnen haben:

»Goethe muß als ein Lebendiger unter uns leben und weiter gefühlt und weiter gedacht werden. Das wichtigste im Goetheanismus steht nicht bei Goethe, weil Goethe innerhalb seiner Zeit nicht in der Lage war, es aus dem Geistigen in seine Seele hereinzubringen, weil überall nur die Ansätze dazu da sind. Goethe fordert von uns, daß wir mit ihm arbeiten, mit ihm denken, mit ihm fühlen, daß wir seine Aufgabe, so wie wenn er überall hinter uns stünde und uns auf die Schulter klopfte und Rat erteilte, weiterführen. In diesem Sinne ist das ganze 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeit hinein, man kann sagen, von Goethe abgefallen. Und die Aufgabe unserer Zeit ist, den Weg zu Goethe wieder zurückzufinden. (. . .) Der Weg muß durch anthroposophische Geisteswissenschaft zu Goethe zurück gefunden werden.«

35) Rudolf Steiner, Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt, GA Bd. 158, im Vortrag vom 15. November 1914
36) SI. Stanley, Historische Geologie. Heidelberg 1994
37) Rudolf Steiner, Natur und Mensch in geisteswissenschaftlicher Betrachtung, GA Bd. 352, im Vortrag vom 9. Februar 1924
38) Siehe Anmerkung 35
39) Friedrich Benesch, mündliche Mitteilung
40) Siehe Anmerkung 35
41) H. Fromm, Hrsg., Kalevala. München 1979
42) Andreas Suchantke, Die Signatur der großen Grabenbrüche. Parallelen in Erd- und Menschheitsgeschichte. In »Die Drei« 63/1993, Heft 9, S. 707-729
43) Siehe Anmerkung 35
44) Rudolf Steiner, Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien, GA Bd. 117
45) Rudolf Steiner, Aus schicksaltragender Zeit, GA Bd. 64
46) Uwe Lemke, Gotland, Insel der Götterschiffe. Stuttgart 1978
47) H. Schreiber, Auf den Spuren der Goten. Hamburg 1985
48) Rudolf Steiner, Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen, GA Bd. 109, im Vortrag vom 19. Februar 1909
49) G. Haendler, Die abendländische Kirche im Zeitalter der Völkerwanderung. Berlin 1983
50) Rudolf Steiner, Grundelemente der Esotherik, GA Bd. 93a, im Vortrag vom 27. September 1905
51) Rudolf Steiner, Der Goetheanismus ein Umwandlungsimpuls und Auferstehungsgedanke, Vorträge vom 11./12. Januar 1919. GA Bd. 188
52) Siehe Anmerkung 51
53) Goethe, J.w. v., Italienische Reise. München 1978
54) Siehe Anmerkung 51

Die geistige Bedeutung des Ostseeraumes und das Schicksal Rußlands – Sergej O. Prokofieff

Die geistige Bedeutung des Ostseeraumes und das Schicksal Rußlands
Sergej O. Prokofieff

In vielen schönen Vorträgen haben wir einiges gehört über die Geheimnisse des Ostseeraumes. Und ich möchte zu meinem Thema auch eine kurze Einleitung geben und noch einmal von einem anderen Standpunkt über gewisse Gesetzmäßigkeiten und Besonderheiten dieses Raumes etwas sagen. Denn alle diese verschiedenen Gesichtspunkte, sie können einander nur ergänzen, so daß allmählich in unserer Seele aufsteigen kann die ganze spirituelle Bedeutung dieses Erdengebietes.

Nun kann man im allgemeinen sagen: Wir haben es hier, wie auf andere Weise auch beim Mittelmeerraum, zu tun mit einem lebendigen Organismus. Und es ist außerordentlich aufschlußreich, diesen Organismus zu betrachten von menschenkundlicher Seite her, so, wie Rudolf Steiner uns ein Bild des Menschen präsentiert. Dazu kann uns die Geisteswissenschaft einen Schlüssel geben. Zuerst einmal haben wir in diesem Erdenraum etwas Physisches. Das ist die sichtbare Natur, die den Ostseeraum umgibt. Wir haben hier schon vieles gehört über die ätherische Geographie dieses Raumes. Das ist etwas Gemeinsames, das Physische und das Ätherische. Wenn wir aus dem Ätherischen ins Astralische, ins Seelenhafte übergehen, dann beginnen die Menschen, die Seelenwesen, die um diese See herum leben, eine entscheidende Rolle zu spielen. Aus der Geisteswissenschaft wissen wir, daß der Mensch besteht aus mehreren Wesensgliedern, und diese Wesensglieder sind auch in Europa verteilt bei verschiedenen Völkern, so daß jedes Volk – obwohl natürlich jedes Mitglied dieses Volkes alle Wesensglieder hat – doch eine besondere Veranlagung zu der Entwicklung von diesem oder einem anderen Wesensglied in sich trägt. Das Eigenartige ist, daß wir im Grunde genommen fast alle Wesensglieder völkisch repräsentiert finden in diesem kleinen Ostseeraum. Wenn wir uns das vergegenwärtigen, dann kann uns dieser Raum erscheinen als ein Mensch, und zwar auf eine ganz besondere Weise. Alle seine Wesensglieder entstehen zuerst im Großen und dann im Kleinen, mehr differenziert nochmals sich wiederholend.

Als Ganzes steht diese Gegend vor allem unter dem Einfluß des Ich. Das gehört zu Nordeuropa, das in bestimmter Art auch verbunden ist mit Mitteleuropa, wo der Ich-Impuls der zentrale Impuls ist, aber hier im Norden tritt er sehr differenziert auf. Rudolf Steiner spricht sich so darüber aus: Wir haben diesen Ich-Impuls, wie er bei den Deutschen sozusagen par excellence, in seiner Reinheit sich manifestiert und auch in seiner ganzen Kraft. In Nordeuropa kommt er in gemilderter und differenzierter Art zustande. So tritt beim Norweger mehr die Wirkung des Ichs in der Bewußtseinsseele, beim Dänen in der Verstandes- oder Gemütsseele, beim Schweden in der Empfindungsseele in Erscheinung. Und diese Dreiheit spiegelt sich dann mehr im Kleinen, jetzt von slawischen Eigenschaften geprägt, in den drei baltisch-slawischen Völkern, von denen ein Volk, wie wir von Oskar Borgman Hansen schon gehört haben, nicht mehr eigentlich physisch existiert. Ursprünglich waren es drei baltslawische Völker, die Letten, die Litauer und die sogenannten Borussen oder Prussen. Ich weiß nicht, ob die Sorben, die in Ostdeutschland noch leben, die Nachfolger sind von diesen verschwundenen Borussen? Aber auf jeden Fall haben wir diese Spiegelung. Dann haben wir im Süden des Ostseeraumes das Ich-Volk, die Deutschen, mit denen auf eine besondere Art auch die Polen verbunden sind. Die Polen sind Slawen, aber solche, bei denen auch der Ich-Impuls am stärksten ausgebildet ist. Dies ist noch eine Spiegelung. Dann haben wir gesehen, im Ostseeraum kommen zwei große Ströme zusammen: Einerseits die Germanen, und unter Germanen verstehe ich nicht nur Deutsche, sondern auch die Dänen, Schweden und Norweger einerseits, und andererseits kommen die Slawen, die Baltoslawen, die Polen, und, wie wir sehen werden, etwas später noch die Russen hinzu. Das Eigentümliche dabei ist: Wo die Verschmelzung dieser beiden Ströme geschieht, da wird hineingeschoben noch ein Volk, und das sind die Finnen, die Ugro-Finnen. Und zu Finnland haben wir auch eine Spiegelung. Wir haben ein größeres Land, das der Finnen, und dann spiegelt sich der finnische Impuls wie gemildert auch in Estonia, bei den Esten. Wir haben schon von Arne Klingborg gehört, es wirkt besonders in dieser Gegend im Ostseeraum dieses Spiegelungsgesetz. Alles erscheint hier wie auf wunderbare Weise gespiegelt.

Ich möchte um der Vollkommenheit des Bildes willen auch erwähnen, daß es noch ein anderes Gebiet gibt, wo die Slawen und die Germanen zusammenkommen. Bis zum Anfang dieses Jahrhunderts existierte sogar ein Staat, der die Aufgabe hatte, diese Verschmelzung mehr im Süden von Europa zustandezubringen, und das war die große österreichisch-ungarische Monarchie. Sie hatte eigentlich die Aufgabe, auf andere Art diese Verschmelzung herbeizuführen zwischen Germanen und Slawen und ihren gegenseitigen Austausch zu gewährleisten. Eigenartig ist, daß auch dort, wo es ebenfalls um diese Verbindung geht, ein ugro-finnisches Volk eingeschoben wurde, die Ungarn. So erscheinen die Ugro-Finnen im Norden und im Süden, wo die Aufgabe besteht, daß eine richtige Beziehung zwischen Germanen und Slawen hergestellt werden muß. Da haben wir zu tun mit einem Geheimnis, das ich hier vorerst nicht weiter erörtern möchte.

Wenn wir jetzt alles zusammenschauen, da finden wir mehr im Süden der Ostsee bei den Germanen, bei den Deutschen diesen Ich-Impuls. Der wird dreifach in drei Seelengliedern bei Norwegern, Dänen, Schweden widergespiegelt. Und noch einmal in slawischer Färbung bei den Baltslawen. Dann haben wir den polnischen Impuls, wo im Bereich der Slawen das Ich in dieser slawisch-gemilderten Form erscheint. Und dann haben wir noch die Finnen und Esten, bei denen ein anderes Seelenglied gestaltet wird, und das ist das Glied, das wir aus der Geisteswissenschaft kennen als Seelenleib. Gerade dieses Glied ist es, das den Finnen erlaubt, ihre ganz besondere Beziehung zur Natur zu gestalten.

Wir wissen, daß die Finnen angrenzen im Westen an die Schweden und daß die Beziehungen zwischen Schweden und Finnland nicht immer einfach gewesen sind. Das ist damit verbunden, daß diese Völker einerseits etwas ähnliches haben, dieses seelische Element, aber gleichzeitig eine Polarität. Diese Polarität besteht in folgendem: Das, was bei Schweden rein seelisch sich ausbildet, nämlich die Empfindungsseele, geht bei den Finnen mehr in den Empfindungsleib und verbindet sich dadurch auf ganz andere Art mit der umgebenden Natur, mit der Ätherwelt. Man könnte sagen, es bekommt – wenn man diese Worte jetzt in ganz positiver Beziehung gebraucht – die Beziehung zur Natur bei den Finnen und gemildert bei den Esten etwas Magisches. Das konnten Sie alle erleben, als Sie hier auf dieser Bühne die Verse der Kalevala gehört haben in der finnischen Sprache. In der Gewalt dieser Sprache wirkt etwas Magisches, wie Zauberworte, in denen man das Raunen der Bäche und Flüsse, das Sprechen des Waldes, das Rauschen des Meeres wirklich klang mäßig erleben kann. Das hat in sich etwas Magisches.

Nun haben wir jetzt etwas – obwohl der Ostseeraum kein runder Raum ist – was wir als einen Tisch vorstellen können, an dem verschiedene Völker sich zusammen zu einem Festmahl eingefunden haben. Man findet aber bei diesem Festmahl diejenigen Menschen, oder dasjenige Volk, dem eigentlich mein Vortrag gewidmet werden soll im Zusammenhang mit dem Ostseeraum, gar nicht. Man findet an dem Ufer der Ostsee überhaupt nicht die Russen. Denn sie erscheinen auf dieser »Ostseebühne« viel später. Sie sind sozusagen die Letzteingeladenen, die zuletzt Erscheinenden.

Und hier haben wir ein Geheimnis, warum die Russen, die Ostslawen, so spät durchbrechen zur Ostsee. Das hängt mit dem zusammen, was hier schon in vielen Vorträgen dargestellt wurde, daß die Ostsee nach der Darstellung Rudolf Steiners ein Wesen ist, und zwar ein Meeresdrachen. Alle Völker, die gelebt haben um diesen Meeresdrachen, wurden gespeist von den Gaben dieses Drachens. Und diese Gaben bestanden vor allem in der Hellsichtigkeit. Alle Völker, die auf diese oder andere Weise in Berührung kamen mit diesem Drachen, erhielten von diesem Drachen die Gabe der Hellsichtigkeit.

In uralten Zeiten, wo diese Konfiguration der Völker um den Ostseeraum herum entstanden ist, lebten alle diese Völker noch im Zustande der Empfindungsseele. Jetzt möchte ich meine Aufmerksamkeit lenken vor allem auf die zwei großen Gruppen von Germanen und Slawen, denn diese Völker lebten auf ganz verschiedene Weise in der Empfindungsseele. Wenn wir zuerst auf die Germanen hinschauen, auf die Urgermanen, die noch während der Völkerwanderung in Bewegung waren durch das ganze Europa, können wir sagen: Es lebten diese Urgermanen in der Empfindungsseele, aber sie waren innerhalb dieser so veranlagt, daß in ihr ein ganz kräftiges Ich lebte. Aus diesem Ich-Erlebnis entstand die wunderbare germanische Mythologie. Sie entwickelte sich zuerst in der Empfindungsseele, die von dem Meeresdrachen die Kraft des Hellsehens empfangen konnte. Auf der anderen Seite war auch diese Ich-Kraft da, die die einzigartigen Gestalten der germanischen Götter in diese wunderbaren Bilder bringen konnte. Denn gerade aus dem Grunde, daß bei den Germanen das Ich so betont war, hatten sie eine Tendenz, durch ihre Hellsichtigkeit in der geistigen Welt diese Götter, als außerordentlich geprägte Ich-Wesen zu erleben, wie wir sie aus der nordisch-germanischen Mythologie kennen.

Wenn wir in diese alten Zeiten zurückgehen, dann müssen wir sagen: da waren die Völker, die in ihrer Seele von diesem Meeresdrachen die Gabe der Hellsichtigkeit bekommen haben, aber doch ein so selbständiges Ich hatten, daß sie unter dem Einfluß dieses Ich in der Empfindungsseele allmählich eine Brücke finden konnten von der heidnischen Vergangenheit zu dem Christentum. Wir brauchen nur an eine Gestalt zu denken aus der Götterwelt der Nordgermanen, an eine Gestalt, die gerade diese Brücke auf individuelle Weise bildet. Das ist die Gestalt des Widar. Auch einige andere Göttergestalten wie zum Beispiel Wili und We überleben den Weltenbrand. Sie überleben diese Götterdämmerung, bei der die Kräfte der Urhellsichtigkeit zurücktreten und der Ich-Entwicklung Platz geben. Damit schaffen sie gleichzeitig einen Übergang zum Christentum. Denn durch diese Ich-Kraft konnten die Germanen in der Ätherwelt schon die Gestalten sehen, die für sie die Führer werden konnten in das Christentum hinein. Aber was die Germanen dazu brauchten, war ein ganz starkes Ich. Auf schon gemilderte Weise haben auch die Polen ein so gestärktes Ich in der Empfindungsseele, und – in anderer Nuancierung – auch die Baltslawen. Aus diesem Grunde konnten sie schon recht früh in Berührung kommen mit dem Meeresdrachen, und zwar so, daß dieser Meeresdrachen ihnen nicht schadete. Die Russen aber, die Ostslawen, sie durften das nicht, denn sie mußten sich nur allmählich vorbereiten zu ihrer Mission, die noch ganz in der Zukunft lag. So finden wir, daß die Russen, die schon im 8. und 9. Jahrhundert ein riesiges Reich bilden auf dem Territorium des heutigen Zentralrußlands, eigentlich nirgendwo zum Wasser kamen. Im Norden erreichten sie nicht das Ostseeufer, im Süden auch nicht das Ufer des Schwarzen Meeres. Besonders im Norden sollten sie zunächst in keine Berührung mit dem Drachen kommen. Warum?

Die Russen lebten zuerst in ähnlicher seelischer Konfiguration wie alle anderen Völker in diesem Raum. Auch bei ihnen ist die Konfiguration von Empfindungsseele und Ich-Impuls anwesend. Aber wenn bei den Germanen der Akzent ganz stark auf dem Ich liegt, das da in der Empfindungsseele sich entwickelt, liegt bei den Ostslawen der Akzent auf der Empfindungsseele. Sie sind die Menschen, die außerordentlich in ihren Empfindungen begabt sind. Warum sind sie von Anfang an in der Empfindungsseele so begabt? Weil substantiell gerade diese von allen Seelengliedern am nächsten zum Geistselbst steht. Selbstverständlich muß das Geistselbst in die Bewußtseinsseele aufgenommen werden. Aus diesem Grunde muß auch bei den Slawen die Bewußtseinsseele allmählich entwickelt werden. Aber wesensverwandt ist das Geistselbst mit der Empfindungsseele. Deshalb sind – genauso wie die Germanen mit ihrem starken Ich von Anfang an erscheinen, weil ihre Aufgabe in der Ich-Entwicklung liegt – die Slawen allgemein und unter ihnen besonders die Ostslawen mit dieser Qualität der Empfindungsseele außerordentlich begabt. Diese Empfindungsseele ist bei den Slawen mächtig entwickelt. So mächtig, daß für sie immer eine Gefahr besteht, daß die starken Wogen der Empfindungsseele den Ich-Impuls so erfassen, daß er zu ertrinken droht in diesen Seelenwogen. Wegen dieser seelischen Konfiguration und ihrer möglichen Gefahr durften die Ostslawen zuerst nicht an die Ostsee heran. Diese außerordentlich entwickelte, reiche, tiefe Empfindungsseele der Ostslawen durfte nicht von dem Meeresdrachen auch noch die Hellsicht bekommen. Wir werden noch etwas später sehen, welche negativen Folgen es bringen würde, wenn das geschehen wäre. So haben wir die wunderbare, weise Lenkung, daß die Russen, die dieses große Reich im Osten bilden, zuerst nirgendwo an das Meer überhaupt gelangen konnten.

Nun lebten in dieser Gegend, sozusagen zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, die Russen nicht isoliert. Denn von sehr alten Zeiten her ging hier ein wichtiger Weg: der Weg der Waräger aus Südschweden zu den Griechen. Dieser Weg ergänzt einen anderen Weg, den die Wikinger um Europa herum bis ins Mittelmeer gemacht haben. Die Wikinger aus Norwegen sind, wie Sie wissen, die westliche Küste von Europa entlang gegangen und bildeten in Süditalien für kurze Zeit ein mächtiges Reich. Aber von östlicher Seite kam eine andere Strömung, und das waren die Waräger, große Reisende, die mit ihren Booten auf den russischen Flüssen bis nach Griechenland fuhren.

Interessant dabei ist, daß sie, wie auch die Wikinger, gar nicht gerne das offene Meer bereisten. Natürlich, wenn sie hinüberfuhren nach Amerika, wie das von Frau Dr. Sease dargestellt wurde, mußten sie sich schon auf das offene Meer wagen. Trotzdem versuchten sie, wo es auch immer möglich war, der Küste entlang zu segeln. Auf ähnliche Weise fuhren auf ihrem Wege zu den Griechen die Waräger von Südschweden zunächst die dänische Küste entlang, dann die Küste der Insel Rügen und weiter in den finnischen Meerbusen. Dann gingen sie auf dem Fluß Newa in den großen Ladogasee, dann auf den Fluß zum IImensee, wo, ich werde darüber noch sprechen, die große. russische Stadt Nowgorod entstanden ist. Weiter fuhren sie südwärts auf den kleinen Flüssen, wobei sie teilweise ihre Schiffe auf den Schultern getragen haben, bis zum Oberlauf des Dnepr und kamen dann den ganzen Dneprfluß abwärts durch die Stadt Kiew, die zweitgrößte russische Stadt, und schließlich in das Schwarze Meer und durch Bosporus und Dardanellen in das Ägäische Meer bis hin zu den Griechen. Dieser Weg wurde durch viele Jahrhunderte benutzt. Man kann sagen: aus Skandinavien, aus dem Ostseeraum wurde das ganze Europa durch die Routen der Waräger und der Wikinger bis zum Mittelmeer wie umarmt.

Man kann sich fragen: Was veranlaßte die Waräger und Wikinger, solche Routen zu nehmen? Sie haben natürlich damals von äußerer Geographie nicht viel gewußt und haben sich auch nicht nach äußerer Geographie orientiert. Aber sie konnten noch aus ihren hellseherischen Fähigkeiten bestimmte Ätherströmungen wahrnehmen, sozusagen die Ätherstraßen, die nach verschiedenen Richtungen durch Europa gingen. So haben wir zwischen Griechenland und dem Ostseeraum eine ganz wichtige Ätherstraße. Die Zeichen von dieser übersinnlichen Straße finden wir in der Überlieferung der Wanderung des griechischen Gottes Apollo nach Hyperboräa. Sie wissen, Apollo wie auch seine Schwester Diana sind im Ägäischen Meer auf der Insel Delos geboren. Deshalb wurden auf dieser Insel ganz besondere Feste zweimal im Jahr gefeiert. Das erste im Herbst, wo Apollo von Griechenland nach Norden geheimnisvoll wegging, und im Frühling, wo Apollo von Hyperboräa, das im Norden lag, zurückkehrte.

Wo ist dieses Hyperboräa gelegen? Man kann zum Beispiel bei dem griechischen Historiker Herodot finden die Beschreibung des Ortes, wo damals die Griechen Hyperboräa vermuteten. Nach Herodot lag es am Meerufer. Nun, welches Meer kannten überhaupt die Griechen im Norden? Das war vor allem die Ostsee. Und ein Beweis dafür ist, daß sie sie kannten, ist der sogenannte Bernsteinweg, der von der Ostsee bis zur Adria führte. Deshalb fand man auch im Mittelmeerraum oft diesen Bernstein aus der Ostsee. Schon in viel früheren Zeiten – aber darüber wußte selbst Herodot nichts mehr – war noch eine andere Beziehung vom arkadischen Griechenland zum Weißen Meer vorhanden, wo – nach den Angaben Rudolf Steiners in einem frühen Vortrag – ein ganz wichtiges Mysterienzentrum gelegen war. Das war die eigentliche Grenze zu dem Land Hyperboräa. Aber schon in der Zeit von Herodot war es verschollen, und deshalb verband man Hyperboräa viel mehr mit dem Ostseeraum. Geographisch schließt das eine das andere nicht aus, denn gerade der Ostseeraum war eine wichtige Station auf dem Weg Apollos nach Norden. Und die Zeichen davon kann man gerade hier auf der Insel Rügen sehen.

Wir haben schon Arkona besucht, und in seinem ersten Vortrag hat Manfred Schmidt-Brabant skizziert die Gestalt des Gottes Swantewit, dem dieses Heiligtum auf Arkona gewidmet war. Nun, was bedeutet schon dieses Wort Swantewit – oder Svetovit auf russisch? Es besteht aus zwei Worten, nämlich Svet – das Licht, und Vit, das kommt von dem russischen Wort vidit: sehen. Das ist in der russischen Sprache ein wunderbares Wort, weil es verwandt ist mit dem indischen Wort veda, Wissen. Wissen durch das Sehen oder Sehen durch das Wissen. Und das Ganze wird mit dem Licht, mit dem Sonnenlicht verbunden.

So findet man bei dem slawischen Sonnengott Swantewit in diesem Heiligtum auf Rügen gewisse Züge, die auch auf Apollo weisen. Wie wir gehört haben, hatte er in der rechten Hand ein Horn. Aber in der linken Hand hatte er ebenso wie Apollo einen Bogen mit Pfeilen. Dieser Swantewit war auch ein Gott des Wahrsagens wie Apollo für sein Heiligtum in Delphi. Nach verschiedenen Verrichtungen, einmal im Jahr – das Fest des Swantewit war im August, wenn die Ernte kam – konnten seine Priester nach gewissen magischen Verrichtungen diesen Gott fragen und Antworten von ihm erhalten über landwirtschaftliche Arbeiten, über das Wetter, über kriegerische Auseinandersetzungen. Wir können aus diesem Grunde verstehen, warum seine Statue rot war. Und es wird auch überliefert, daß in seinem Heiligtum überall rote Tücher aufgehängt waren. Das hat seine Erklärung darin, daß in den slawischen Sprachen, im russischen jedenfalls, »rot« zugleich »schön« bedeutet, es hat die gleiche Wurzel: krasny – krasivy (rot-schön). Das war aus Urzeiten ein Attribut der Sonne. Die Sonne wird immer in Rußland als die Rote, weil Schöne bezeichnet. Wenn in Griechenland die Sonne nach Plato ein Quell der Güte war, so war sie für die Russen ein Quell der Schönheit.

Auf diese Weise können wir sagen, es spiegelte sich in der Gestalt von Swantewit etwas von der Gestalt des Apollo. Und das kann uns beweisen, daß geistig gesehen die Insel Rügen zweifellos zu diesem Wanderweg des Apollo von Delos nach Hyperboräa gehörte. Diese Ätherstraßen waren wahrnehmbar für Menschen, die vom Meeresdrachen der Ostsee diese Hellsichtigkeit bekommen haben. Aus diesem Grunde suchten die Waräger das Land im Süden, aus dem diese Gottheit Apollo – sie konnten sie ganz anders nennen als die Griechen – zu ihnen gekommen war. Und so gingen sie auch diese Wege, und diese Wege führten sie bis nach Griechenland.

Das alles erzähle ich Ihnen aus dem Grunde, weil diese Wege eine außerordentlich große Bedeutung haben für die Entwicklung der Russen. Um das besser zu verstehen, müssen wir noch ein anderes Thema berühren. Die Russen und die Ostslawen überhaupt hatten auch eine Art Mythologie. Diese Mythologie trug, und da können wir es fast mit Händen greifen, weil die Russen keinen Zugang zuerst zum Ostseeraum hatten, ganz andere Züge als die Nordgermanische. Bei den Germanen, wo der Ich-Impuls so stark war, gestalteten sich besonders diese Götter-Individualitäten. Die verschiedenen Götter treten uns als Ich-Wesen entgegen. Aber bei den Slawen begegnen wir ganz andersartigen Vorstellungen über die geistige Welt. Die äußere Geschichte hat fast nichts darüber überliefert. Und man kann unendlich dankbar sein, daß Rudolf Steiner uns aus seiner Geistesforschung diese verschollenen Formen einer ganz besonderen Mythologie der Slawen zugänglich gemacht hat.

In dieser Mythologie waren nicht die einzelnen Götter entscheidend, sondern drei große Weltensphären, die großen Schichten des geistigen Kosmos. So lebten bei den Slawen zuerst die Bilder von einem himmlischen Vater. Das war die höchste Ebene. Dann kam ein Bild von einer Mutter Erde. Aber die Erde war jetzt nicht physisch gemeint, sondern als weltumfassendes weibliches Wesen noch ganz geistig. Und die Weltgeschichte ging so, daß aus dem Zusammenwirken des himmlischen Vaters und der göttlichen Mutter ein Kind entstand. Und eine Spiegelung des Lebens dieses Kindes war das Leben der Slawen selbst, vor allem ihr Seelenleben. Nachdem sich allmählich diese drei Welten gespalten haben, ging die ganze Entwicklung in die vierte Welt über, und das war eine Welt, die von der Sonne regiert wurde. Hier kann man auch bemerken, daß die sechste Kulturepoche wird eine Wiederholung der zweiten, der urpersischen. Deshalb sagt Rudolf Steiner dort, wo er diese vier Welten beschreibt, es lebte noch etwas ähnliches wie urpersische Religion in dieser vierten Welt. Aus dieser Welt der Sonne, die noch ganz geistig war, entstand die fünfte Welt, und das war die der Elementargeister. Die Slawen erlebten diese Elementargeister nicht individuell, sondern als Einheit, etwa wie eine Welt der Elfen in der Luft, so ungefähr drückt das Rudolf Steiner aus. So haben wir in dieser urslawischen Mythologie nicht einzelne Götter, aber fünf große aufeinanderliegende Welten. Warum fünf? Weil sie entsprechen den fünf Wesensgliedern des Menschen als Mikrokosmos: dem physischen Leib, ätherischen Leib, Astralleib, Ich und dem Geistselbst.

Man kann sagen: bei den Germanen bestand eine ganz individuelle Mythologie mit einzelnen Göttergestalten, weil das Ich von Anfang an betont wurde. Bei den Slawen wurde geboren aus dieser umfassenden Geste eine Mythologie mit diesen Weltensphären, die die verschiedenen Bereiche des Kosmos in einer wunderbar gegliederten Einheit umschlossen. So können wir verstehen, warum gerade bei den Ostslawen später die Sophia eine solche Bedeutung gehabt hat. Sophia als das weltumfassende Prinzip, als eine weltdurchdringende Weltenseele. Bei den Germanen und auch bei den Polen entstand mehr die Marien-Verehrung. Hier traten die Marien-Sophienkräfte mehr individualisiert auf und wurden erlebt in der Gestalt einer irdischen Frau, Maria. Dagegen in Rußland sprechen, wie wir sehen werden, zum Beispiel die Nowgoroder weniger über Maria, sie sprechen über Sophia, und sie nennen ihr Land Sophienland.

Nun, was bedeutete eigentlich dieser Einfluß von Germanen, die immer wieder durch Rußland hindurch gezogen sind, auch für die Russen selber? Wir haben gesehen, daß bei den Russen eine Gefahr darinnen bestand, daß das Ich ertrinken könnte in den reichen, tiefen und breiten Wogen der Empfindungsseele. Und so bestand eine Notwendigkeit, daß das Ich in der weiteren Entwicklung der Russen gestärkt werden mußte. Aber um zu verstehen, wie es geschah, müssen wir jetzt noch etwas aus der Geisteswissenschaft hinzunehmen. Ein großer Unterschied zwischen Germanen und Slawen und vor allem den Russen bestand darinnen, daß bei den Germanen schon von früheren Zeiten her die Erzengel die einzelnen Völker zu ergreifen begannen und individuell führten. Schon in der Zeit der Völkerwanderung und etwas später verbanden sich die verschiedenen Erzengel mit den jeweiligen germanischen Stämmen. Da war eine unmittelbare Durchdringung für eine längere Zeit oder durch eine rhythmische Abfolge, eine Durchdringung zwischen dem Volkserzengel und dem Volk. Ganz anders war es bei den Russen. Der russische Erzengel hat, damals und auch heute, noch nie mit seinem Volk eine volle Verbindung gehabt. Das wird erst in der sechsten Kulturepoche geschehen. Aus diesem Grunde haben wir im Osten eine ganz besondere, eigenartige Beziehung zwischen dem Volksgeist und dem Volk, indem der Volksgeist zwar bei dem Volke wirkt, aber sich noch nicht in das Volk hinein inkarnieren kann. Dagegen konnte bei den Germanen gerade durch die Tatsache, daß diese Inkarnation stattfand, dann der Volksgeist von innen her die Ich-Entwicklung fördern. Wie war es dann dem russischen Erzengel möglich, diese Ich-Entwicklung bei den Russen zu fördern? Er konnte das nur durch die äußeren Einflüsse, die sozusagen zugelassen wurden. Der erste Einfluß kam durch die Waräger. Sie brachten nach Rußland eine Gottheit, die in Nowgorod und auch in Kiew eine entscheidende Bedeutung hatte. Das war der Gott Perun. Wenn man auf seine Eigenschaften hinschaut, hat dieser russische Gott als Attribut einen Donnerhammer und einen Blitz, Bogen und Pfeil. Ihm war auch der vierte Tag der Woche, der Donnerstag gewidmet, an dem seine Feste gefeiert wurden. Man errät sofort, das ist ein russischer Abglanz des germanischen Gottes Thor oder Donar, dieses mächtigen Engels, der den Germanen das Ich gegeben hat. Der Abglanz dieser Gottheit wurde nach Rußland getragen, und dies war eigentlich der einzige Gott, der in Rußland eine individuelle Gestaltung bekommen hat.

Doch war das alles nicht genug, um das Ich bei den Russen in den Wogen der Empfindungsseele zu festigen. Da kam noch ein zweiter Impuls. Und dieser Impuls wird in der Geschichte beschrieben als die Einladung der Waräger durch die Russen. Dieses Ereignis wird im heutigen Rußland sehr von nationalistischen Kreisen in Frage gestellt, sogar bestritten, obwohl die Tatsache in der ältesten russischen Chronik ganz ausführlich beschrieben wird. Auch wird sie durch die Geistesforschung Rudolf Steiners bestätigt. In dieser ältesten russischen Chronik, Nestor-Chronik genannt, wird es so beschrieben: Die Russen hatten von Anfang an ein großes Land, das weit und erfüllt von allen möglichen Schätzen war, aber sie hatten keine Ordnung darinnen, ein Zustand, der sich immer wieder in der russischen Geschichte wiederholt, im Großen, aber auch im Kleinen. Deshalb wandten sich eines Tages die russischen Fürsten, die besonders im Norden um die Stadt Nowgorod herum lebten, an die Waräger – und sie kannten sehr gut die Waräger, weil die immer wieder auf Ihren Griechenland-Reisen durch ihre Gegenden gekommen waren – mit einem Brief, mit einer Sendung, worin stand: Unser Land ist groß, reich und weit, aber in unserem Land herrscht keine Ordnung. Kommt zu uns und bringt uns die Ordnung. Natürlich war es in Wirklichkeit keine »Einladung«, sondern ein Eroberungszug der Waräger. Wichtig aber ist, daß aus den Inspirationen des Volksgeistes dieser einzige Eroberungszug – es gab deren hunderte in der russischen Geschichte – empfunden wurde als eine Einladung. Daran sieht man diese Inspirationen des russischen Volksgeistes! Und deshalb müssen wir dieses Ereignis nicht nur physisch nehmen, sondern auch geistig.

Was bedeuten eigentlich diese Worte: Unser Land ist groß, voller Schätze, weit und schön, aber da ist keine Ordnung, das heißt: kein Herrscher im Lande? Geistig gesehen können wir diese Worte so verstehen: Unsere Empfindungsseele – und das möchten eigentlich die Russen den Warägern sagen – ist breit, tief und voll von Schätzen, aber in dieser Seelenlandschaft fehlt ein starkes Ich, oder, wie die Griechen sagen würden, Kyrios, der Herr der Seelenkräfte. Natürlich hatten die Russen ein Ich, das ist ohne Zweifel, aber dieses Ich war nicht stark genug, um diesen Wogen der Empfindungsseele standzuhalten. Dann kamen zu ihnen die Waräger, es kamen die warägischen Fürsten mit ihren Familien und Gefolge. Einer von Ihnen ist geblieben, er ist dann Fürst von Nowgorod geworden, Rurik hieß er. Später übersiedelte er nach Kiew. Dieser Waräger Rurik war der erste russische Fürst, und sein Fürstengeschlecht regierte bis zum 16. Jahrhundert, bis ein anderes Geschlecht, das der Romanow, auf den Thron gestiegen ist. Was aber dadurch geistig geschah, ist folgendes: Die Waräger sind auch mit ihren Stämmen, Familien und Anverwandten gekommen. Dadurch geschah, was Rudolf Steiner als Blutmischung beschreibt zwischen Germanen und Slawen. Und bildlich, aber auch nicht nur bildlich, erhielt damals jeder Russe ein Tröpfchen germanischen Blutes. Wir wissen, Blut ist ein besonderer Saft (Goethe), ein Träger der Ich-Kräfte. Und dadurch konnte das Ich bei den Russen konsolidiert werden. Es konnte dadurch Halt bekommen in den Wogen der Empfindungsseele. Aus diesem Grunde wurde dieser Eroberungszug der Waräger als eine freundliche Einladung empfunden. Es war der Volksgeist der Russen, der damals nicht von innen auf die Russen wirken konnte und deshalb einen Einfluß von außen brauchte. Und auf diese eigenartige Weise hat der russische Volksgeist diesen germanischen Einfluß selber eingeleitet.

Dieses Ereignis steht am Ausgangspunkt der russischen Geschichte. Wenn man diese älteste Nestor-Chronik nimmt, sieht man deutlich, wie von da an beginnt die russische Geschichte, sie beginnt, nachdem dieses Gleichgewicht geschaffen wurde zwischen Ich und Empfindungsseele. Seit dieser Zeit haben wir eine große, auch ethnische Verwandtschaft zwischen Germanen und Russen; zum Beispiel finden wir bei beiden Völkern Dorfgemeinschaften. In Europa findet man soziale Strukturen wie Dorfgemeinschaften nur bei Germanen und Slawen. Die Dorfgemeinschaft fußt auf dem Wirken des Ich in der Empfindungsseele. Dann haben wir die freien Hansestädte: Hamburg, Bremen, Lübeck und andere. Und wenn wir schauen auf Nowgorod – die Stadt lag nicht am Meeresufer – finden wir schon im elften, zwölften Jahrhundert eine freie Stadtrepublik von Nowgorod. Eine Hansestadt, aber auf dem Trockenen. Nicht ganz auf dem Trockenen, sie haben den sehr schönen IImensee und einen Fluß, aber vor dem Meeresdrachen hatten sie doch Respekt, und deshalb entwickelte sich diese Nowgorodische Republik nicht nach Westen, sondern mehr und mehr nach Osten und Nordosten. Aber sie hatte schon damals eine wirkliche Volksregierung. Heutzutage vergegenwärtigen sich die Russen selbst oft nicht, daß sie schon eine echt demokratische Regierung in ihrer Geschichte hatten. Das wurde dann nur überwuchert von den Tataren und später zerstört von den moskowitischen Zaren. Aber sie haben schon diese Demokratie gehabt mit Volksversammlung und einem Rat der Ältesten. Obwohl es da nicht immer nur mit Worten zuging, in diesem russischen Parlament, sondern ab und zu auch mit den Fäusten. Und trotzdem, das war wirklich menschlich. So stand geschrieben in der Gesetzgebung von Nowgorod aus dem neunten, zehnten Jahrhundert: Jeder Bürger von Nowgorod ist frei. Und dies kam durch diese Einflüsse, die die Waräger gebracht haben.

Dann gingen die zwei Wege auseinander. Bei den Germanen entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten das Ich rasch, von der Empfindungsseele zur Verstandes- oder Gemütsseele und dann zur Bewußtseinsseele. Die Russen dagegen blieben fast für das ganze Jahrtausend in dem Zustand des Wirkens des Ich in der Empfindungsseele. Erst durch Peter den Großen, das heißt im 17. Jahrhundert, beginnt bei den Russen die Verstandes- oder Gemütsseele sich allmählich zu entwickeln. Was ist Verstandes- oder Gemütsseele? Rudolf Steiner sagt, das ist die Empfindungsseele, die das Denken zu benutzen lernt. Und erst als der Russe in diesem Sinne begonnen hatte, das Denken zu ergreifen, durfte er sich an den Meeresdrachen heranwagen. Deshalb geschieht es, daß durch Peter den Großen ein Durchbruch gelingt. Jetzt, am Anfang des 17. Jahrhunderts, kommen die Russen an das Ufer der Ostsee und bauen dort in der Newamündung St. Petersburg, die Stadt, die durch fast 200 Jahre dann die Hauptstadt des russischen Imperiums wurde. Diese Stadt ist ganz aus der Verstandes- oder Gemütsseele gebaut worden, mit klassischen Gebäuden, geraden Straßen, großangelegten Parks und so weiter.

Auch möchte ich hier erwähnen, daß die Russen, bevor sie zu diesem Ostseeraum, zu diesem Festtisch durchgestoßen sind, auf mittelbarem Weg doch die hellseherischen Impulse erhielten. Das geschah durch die Finnen. Die Finnen waren für die Russen wie die menschlichen Vertreter dieses Meeresdrachens, sie waren die weisen Zauberer. Und in nördlichen Gegenden Rußlands war in jedem Dorf ein Haus, irgendwo am Ende des Dorfes, wo einige Finnen lebten. Sie waren die Heiler, sie waren die Wahrsager, und zu ihnen ging man, wenn man irgendwelche Fragen hatte, die nur aus dem Zusammenleben mit der Elementarwelt beantwortet werden konnten. Man hatte vor ihnen Respekt, ein wenig Angst, aber man brauchte ihre Hilfe.

Bevor wir jetzt unseren Blick auf die Zukunft des Ostseeraumes richten, möchte ich noch ein paar Worte sagen über die Insel Rügen. Kehren wir nochmals zurück zu dem Gott Swantewit. Wir sehen gerade an dem, was auf dieser Insel noch bis in das 10. und 11. Jahrhundert hinein geschah, worin die Gefahr für die Russen lag, wenn sie zu früh in den Ostseeraum durchgestoßen wären. Dadurch, daß die Slawen, die auf der Insel Rügen lebten, diese Hellsichtigkeit von dem Drachen bekommen hatten und gleichzeitig nicht dieses gestärkte Ich besaßen wie die Germanen, konnten sie nicht mehr den Weg finden vom Heidentum zum Christentum. Sie haben bis zum 11. Jahrhundert, das heißt bis zu der Zeit, wo sie von den Dänen besiegt wurden, immer gegen ihre christliche Umgebung gekämpft und wollten weiter kämpfen. Die Russen aber mußten, um die Kräfte der Empfindungsseele innerlich zu entwickeln, geschützt werden vor dem Meeresdrachen, um die Seele reif zu machen für den Christus-Impuls. Sie durften nicht nach außen gehen in diese Naturhellsichtigkeit. Wo aber die mächtigen Innigkeitskräfte der Empfindungsseele, wie hier auf Rügen, in die natürliche Hellsichtigkeit gingen, inspiriert von dem Meeresdrachen, da konnten die Slawen überhaupt nicht mehr das Christentum aufnehmen.

Nun möchte ich jetzt zum Abschluß etwas über die Zukunft Rußlands im Zusammenhang mit dem Ostseeraum sagen. Dazu muß man sich hinwenden zu der Völkerkunde, zu dem, was Rudolf Steiner in seinem Zyklus über die Volksseelen55) gesagt hat. Dort charakterisierte er unsere Epoche so, daß er sagte: Die fünfte nach atlantische Kulturepoche ist von drei Geistern, von drei Archai oder von einem Trifolium regiert: Das ist der eigentliche Zeitgeist (ich meine jetzt nicht Michael sondern den Zeitgeist, der die ganze fünfte nachatlantische Kulturepoche führt); dieser Zeitgeist ist in seiner Wirksamkeit unterstützt einerseits von dem Arche des exoterischen Christentums, dem ehemaligen griechischen Erzengel, und andererseits von dem ägyptischen Erzengel, der in unserer Epoche als Zeitgeist, als Arche wirkt. Aus diesem Grunde ist unsere Epoche die Wiederholung der dritten nachatlantischen Kulturperiode, der ägyptischen. So gehört zu der Hauptsignatur unserer Zeit, daß sie von diesem Trifolium regiert wird: von dem eigentlichen Zeitgeist und seinen zwei Helfern.
Nun, aus der Tatsache, daß die Russen das Christentum bekommen haben aus Griechenland, vermittelt von Byzanz, können wir entnehmen, daß der russische Erzengel in einer besonderen Beziehung steht zu dem Geist des exoterischen Christentums, dem ehemaligen griechischen Erzengel. Und das ist wirklich der Fall. Rudolf Steiner beschreibt im Volksseelenzyklus, daß der russische Erzengel eine Art Kind oder Zögling von dem Arche des exoterischen Christentums ist. Hier haben wir die Beziehung wie von Eltern zu einem Kinde. Der russische Erzengel muß von diesem Arche auf seine zukünftige Mission vorbereitet werden.

Nun haben wir noch einen anderen Geist, einen anderen Erzengel, der für eine kürzere Zeit auch ein Schüler war von dem Arche, dem Geist des exoterischen Christentums. Da haben wir zu tun mit einer ganz geheimnisvollen Wesenheit, die im Volksseelenzyklus als Erzengel des Nordens bezeichnet wird. In Urzeiten hat er gewirkt in dem Geistgebiet, das über Mitteldeutschland liegt als Geistzentrum ungefähr um die Städte Detmold und Paderborn. Dann wurde er geschickt nach Norden, um dort alle nordischen Volksgeister zu führen, das heißt alle Volksgeister, die mit ihren Völkern hier in der Gegend des Ostseeraumes wirken. Das bedeutet, daß dieser nordische Erzengel auf dem Wege ist, ein Arche zu werden und somit die verschiedenen Erzengel der nordeuropäischen Völker zu inspirieren. Und dann sagt Rudolf Steiner im Volksseelenzyklus, daß dieser Erzengel für eine bestimmte Zeit auch ein Schüler von dem Geiste des exoterischen Christentums war. Dadurch konnte er die Impulse des Christentums auch in dieser Gegend verbreiten. Er selber hatte aber noch eine andere Aufgabe. Wie wir gesehen haben, waren die beiden Erzengel – der russische Volksgeist, der jüngste im Chorus der europäischen Erzengel, und der nordische, der zu den ältesten gehört, weil er auf dem Wege ist, ein Arche zu werden – Schüler sozusagen eines Arche, und zwar des Geistes des exoterischen Christentums. Das kann uns auch von einer anderen Seite her den schon beschriebenen Weg zwischen Nord und Süd, zwischen Waräger und Griechen, vor diesem geistigen Hintergrund verständlicher machen.

Hier entsteht die Frage, wie die Entwicklung dieses geheimnisvollen Geistes des Nordens weitergeht. Rudolf Steiner betont, daß er besonders mit unserer Geisteswissenschaft verbunden ist. Und er wird derjenige sein, der gerade im Ostseeraum alle anderen Volksgeister inspirieren wird, so daß hier im Norden die Geisteswissenschaft einmal ein Volkselement werden kann. In Mitteleuropa muß die Geisteswissenschaft die höchste Blüte der Kultur werden. Wenn man denkt an Goethe, Schiller, Novalis und andere, kann man sich fragen: Ist nicht unsere Geisteswissenschaft die Erfüllung ihrer Ahnungen und Hoffnungen? Wahrlich ist die Geisteswissenschaft die höchste Blüte der ganzen mitteleuropäischen Kultur! Im Norden aber muß die Geisteswissenschaft volkstümlich werden. Und wenn man in Schweden nach Järna kommt, kann man schon die Ansätze dafür real erleben. In Järna findet man nicht nur eine Blüte schwedischer Kultur, sondern noch etwas anderes. Järna ist auf dem Weg, ein Ort zu werden, wo Geisteswissenschaft allmählich ein Teil des Volkslebens selbst wird. Und darinnen liegt die Aufgabe des Erzengels des Nordens. Rudolf Steiner gibt sogar einen Moment an, einen Zeitpunkt, zu welchem dies im Norden erreicht werden muß, und das ist ungefähr die Mitte der fünften nachatlantischen Kulturepoche. Fünfhundert Jahre haben wir noch für diese Aufgabe. Das ist gar kein großer Zeitraum, wenn man bedenkt, wie wenig wir erreicht haben in den fast hundert Jahren, die nach der Begründung der Anthroposophie schon verlaufen sind. Was bedeutet es aber, wenn Rudolf Steiner sagt: um das Jahr 2500, um die Mitte der fünften nachatlantischen Kulturepoche, muß oder kann erreicht werden, daß die Geisteswissenschaft hier im Norden, im Ostseeraum volkstümlich wird? Wenn das zum erwähnten Zeitpunkt erreicht wird, dann kann nach Rudolf Steiner in den folgenden Jahrhunderten die Geisteswissenschaft von Nordeuropa ausstrahlen in die ganze Menschheit. Geistig gesehen ist somit das Jahr 2500 ungefähr die Zeit, wo der Geist des Nordens sich voll auf die Stufe des Zeitgeistes erheben wird, so daß alles, was spirituell im Norden gesammelt wurde, jetzt für die ganze Menschheit von Bedeutung ist, weil es nicht von einem Erzengel, sondern von einem Arche in sie hineingetragen wird. Und die wichtigsten Kräfte dieses Arche des Nordens werden dann der Vorbereitung der sechsten Kulturepoche dienen. Mit anderen Worten, sie werden in die Richtung Osteuropas getragen, werden, wie Arne Klingborg das so schön dargestellt hat, in diesen geistigen Strömen nach Osten fließen. Wenn wir hinzunehmen, daß Rudolf Steiner gesagt haben soll, daß die nächste Kulturepoche im Norden entstehen muß, wahrscheinlich in dieser Gegend des Ostseeraums, kann man durchaus annehmen, daß von dieser Zeit an, um 2500, wo die Geisteswissenschaft im Norden volkstümlich wird und dann nach Osten getragen wird, daß dann der Geist des exoterischen Christentums, der heute noch den russischen Erzengel führt, seine Aufgabe abgeben wird an den Geist des Nordens. Dieser Geist des Nordens wird von 2500 an als neuer Arche den russischen Erzengel weiter erziehen, daß dieser Erzengel dann seine Aufgabe in der sechsten Kulturepoche übernehmen kann. Das wird aber nur geschehen, wenn wirklich im Ostseeraum in diesen noch zur Verfügung stehenden 500 Jahren die Geisteswissenschaft, die Anthroposophie unter den Inspirationen von diesem Geist des Nordens und mit Hilfe aller Erzengel in diesen Regionen wirklich ein Teil des Volkslebens werden wird.

In diesem Sinne ist auch Rußland entscheidend mit dem Ostseeraum verbunden. So daß man sagen kann: das ganze Schicksal Rußlands im Bezug auf die sechste Kulturepoche und damit das Schicksal des Slawentums überhaupt ist von der Entwicklung dieses Ostseeraumes abhängig.

Aber vor allem ist es abhängig von uns allen. Denn was dazu geschehen muß, ist, daß die Anthroposophie, die moderne Geisteswissenschaft, die so wesensverwandt ist mit diesem Geist des Nordens, hier in Nordeuropa durch unsere Taten ein wahres Leben wird, das alle Gebiete der Wissenschaft, Kunst und Religion bis in die neue soziale Gestaltung hinein durchdringt und verwandelt.

In der germanischen Mythologie haben alle diese Völker dafür eine Grundlage, weil diese Mythologie einmal von diesem Geiste des Nordens inspiriert war. Dann wird dasjenige, was in diesem Raum geistig entwickelt wird, nach Osten fließen als volkstümliche Geisteswissenschaft, das heißt als die Geisteswissenschaft, die man nicht nur denkt, nicht nur fühlt, sondern die man lebt bis in die Alltäglichkeit hinein. Solche Geisteswissenschaft wird dann den Russen, ja, den Slawen überhaupt die Wege in die Zukunft zeigen unter der Führung des Geistes des Nordens, der auf die geschilderte Weise der Erzieher des russischen Volksgeistes bis zum Beginn der sechsten Kulturepoche sein wird.

55) Rudolf Steiner, Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der nordisch-germanischen Mythologie, GA Bd. 121

Die Zukunft der nordischen Mysterien – Manfred Schmidt-Brabant

Die Zukunft der nordischen Mysterien
Manfred Schmidt-Brabant

Liebe Freunde,

Tagungen der Anthroposophischen Gesellschaft, deren Aufgabe die Pflege der Geisteswissenschaft ist, sind immer auch Tagungen, die das Studium des Einzelnen, ganz individuelles Forschen und Nachsinnen bringen sollen. Und so soll diese Schlußbetrachtung aus diesen verschiedensten Darstellungen heraus auch Anregungen aufzeigen, wo die Forschung weitergehen muß, wo wir große Lücken haben, wo auch der Einzelne vielleicht ganz individuell anknüpfen kann. Die Zukunft der nordischen Mysterien ist ein Unterthema zur Zukunft der Mysterien überhaupt. Und diese ist wiederum ein Unterthema zur Zukunft der Menschheit.

Wir machen uns im allgemeinen nicht klar, mit welcher Selbstverständlichkeit wir von der Zukunft sprechen. Wir sagen da, so wie Sergej Prokofieff eben, »im Jahre 2500« wird dies und jenes geschehen, und »im Jahre 3500 wird die sechste Kulturepoche beginnen« mit den und jenen Inhalten. Wenn man einen Menschen der Außenwelt fragt, was wird denn in 1500 Jahren sein, so wird er die Achseln zucken und sagen: Das weiß kein Mensch.

Wieso sprechen wir denn mit solcher Selbstverständlichkeit von Zukunftsabschnitten, ohne daß wird das Gefühl haben, uns auf vage Prophezeiungen Rudolf Steiners stützen zu müssen? Weil wir den Gang der Menschheitsgeschichte ablesen am Aufbau des Menschen selbst. Wir schauen in unser Seelen inneres hinein – natürlich erfordert es eine gewisse Mühe, eine gewisse Beobachtung und Kraft – wir schauen in unser Seeleninneres hinein und stellen fest, da gibt es Anfänge einer ganz bestimmten Seelenart, die nennen wir die Bewußtseinsseele. Darunter finden wir eine Schicht des bereits ausgebildeten Seelenvermögens: Verstandes- oder Gemütsseele. Darunter – oder dahinter, wie auch immer man das nennen will – wieder eine andere Schicht, wir können sie nennen die Empfindungsseele. Wir müssen das nicht glauben, wir können diese Seelenschichten aufsuchen. Und indem wir sie aufsuchen, spüren wir: Diese ist eine jüngere Schicht, erst in der Entwicklung begriffen, und jene ist eine ältere Schicht, gut ausgestaltet; darunter eine noch tiefere, ältere Schicht. Und wenn man dann nur ein wenig Geschichtsforschung oder auch nur Geschichtsbetrachtung treibt, angeleitet durch Rudolf Steiner, dann sieht man: Diese ausgebildete Schicht der Verstandes- und Gemütsseele, die lebte und wurde entwickelt in einer gewissen Zeit, und noch weiter zurück stößt man auf die noch tiefere Schicht der Empfindungsseele und bekommt ein Verständnis dafür, wie sie in den Mysterienkulturen von Chaldäa und BabyIon ausgebildet wurde. Und so weiter wandernd durch die eigene Wesenheit stößt man auf den Empfindungsleib und kann ein Verständnis dafür gewinnen, daß dieser Empfindungsleib in einer alten Kultur, in einer urpersischen Kultur ausgebildet wurde, davor der Ätherleib in der urindischen Kultur, davor die lange Bildungszeit des physischen Leibes. Und man kann noch weiter gehen im Verstehen der eigenen Wesenheit und einen Zugang finden, daß da die eigene physische Leiblichkeit überhaupt veranlagt wurde in uralten Entwicklungszuständen, dem alten Saturn, und dann geschaffen wurden die Uranfänge des Ätherischen auf der alten Sonne und so fort durch den alten Mond bis zur Erde hindurch.

Und so können wir uns geleitet fühlen, in innerer Seelenbeobachtung nun auch die Empfindung zu bekommen: Über diese Bewußtseinsseele hinaus wird es weiter gehen. Da wird ein Seelenglied kommen, das ist ja bereits vorgezeichnet in uns – wir können seine Konturen innerlich wahrnehmen – und das kann man nennen das Geistselbst. Aber damit im Zusammenhang steht auch die Empfindung – oder mehr, die begründete Erkenntnis: Erst einmal muß diese Bewußtseinsseele voll ausgebildet sein, damit sinnvoll und gesund und entwicklungsrichtig sich das Geistselbst entfalten kann. Man wird, wenn man eine solche Betrachtung anstellt, eine gewisse Sicherheit gewinnen im Darinstehen innerhalb der Zeit- und Geschichtsentwicklung überhaupt. Und man wird dann auch etwas reduzieren können die Beziehungen, die Rudolf Steiner zu den kommenden Kulturepochen hergestellt hat, man wird sie ihrer Zukünftigkeit entkleiden. Er spricht von der kommenden sechsten, der slawischen Kulturepoche, sich stützend auf das russische Volk.

Man wird aber auch eine gewisse Vorsicht walten lassen. Denken Sie, um die Zeitenwende herum wäre zu einem gebildeten Römer jemand gekommen und hätte ihm gesagt: In 2000 Jahren wird die ganze Kultur bestimmt und getragen sein von den Germanen und den Angelsachsen. So drückt sich ja Rudolf Steiner auch aus. Der Römer hätte gesagt: Germanen, diese Halbbären in den Wäldern? Und wer sind Angeln, und wer sind Sachsen? Und was sprechen die für Sprachen? Englisch, französisch, deutsch? Schwedisch? Der gebildete Mensch spricht lateinisch! – Er hätte es nicht geglaubt. Und so müssen wir uns, um uns nicht durch falsche Bilder das innere Zukunftsschauen zu verbauen, natürlich sagen: in 2000 Jahren etwa – denn jede Kulturepoche braucht einige Jahrhunderte Anlauf, wir stehen jetzt am Beginn des Bewußtseinsseelen-Jahrtausends, haben 1500 Jahre Entwicklung der Bewußtseinsseele vor uns, und so wird die sechste nachatlantische Kulturepoche auch einige Jahrhunderte brauchen, bis sie im Jahre 4000 anfängt, zu ihrer vollen Blüte aufzuerstehen – in 2000 Jahren, was wird da aus den heutigen Völkern geworden sein? Was wird aus den Sprachen geworden sein? Es gab nicht nur im ersten Jahrtausend die großen Völkerwanderungen. Es gibt solche weiter und immer weiter. Völker werden sich mischen; vielleicht wird die ganze europäische Bevölkerung einmal »russisch« sein, aber »russisch« wird dann etwas ganz anderes bedeuten, als das, was es heute bedeutet.

Und doch, auch wenn wir diese Vorbehalte machen und sagen, wir wissen zwar, was innerlich in den Menschen geschehen wird, müssen wir sagen: Wir schauen heute schon hin, wie im kommenden Jahrtausend der Ausbildung der Bewußtseinsseele in dem Raum der Völker, die wir heute die russischen Völker, die Ostslawen nennen, die Bewußtseinsseele gepflegt und entwickelt wird, um zu verstehen, wie ganz besonders aus diesen Bewußtseinsseelenkräften heraus erblühen kann die Geistselbstkultur.

Aber dann kommt etwas anderes hinzu. Sergej Prokofieff hat eben hingewiesen auf jenes eigentümliche kommende Ereignis, das jener übergreifende Volksgeist – Rudolf Steiner nennt ihn einmal den nordischen Volksgeist, ein anderes Mal den Volksgeist der skandinavischen Völker – im Begriff ist, aufzusteigen in den großen nächsten Zeitraum hinein zu einem Zeitgeist. Nun, ein Zeitgeist ist immer ein Geist, der wirkt für die ganze Erde. Ich kann das Wirken eines Zeitgeistes, auch Michaels, nicht einschränken auf irgendein Volk oder Erdgebiet wie Europa, Amerika. Michael ist ebenso Zeitgeist in Japan wie auf Neuseeland wie in Zentralafrika. Man würde das Wesen eines Zeitgeistes, eines Arche, nicht verstehen, wenn man ihn nur aus dem Blickwinkel einer bestimmten Kultur heraus verstehen will. Und doch wirkt der Zeitgeist aus einer bestimmten Kultur herauskommend für die ganze Erde. Und so hat Sergej Prokofieff mit Recht darauf hingewiesen, daß, wenn dieser nordische Volksgeist aufsteigt zum Arche, er von dieser Kultur ausgehend eine Aufgabe bekommen wird für die ganze Menschheit.

Man kann da aufmerksam werden durch ein Wort Rudolf Steiners, das große Perspektiven eröffnet. Er knüpft an an eine Bemerkung, die der südamerikanische General Smatts gemacht hat anläßlich einer damals stattfindenden Konferenz, und er sagt, dieser General Smatts hat aus einer gewissen instinktiven Genialität heraus gesagt, der Ausgangspunkt der Kulturinteressen verlagert sich jetzt langsam von Nordsee und Atlantik zum Stillen Ozean. Es wird eine Weltkultur entstehen, der Schwerpunkt dieser Weltkultur wird aus dem Norden zum Stillen Ozean, zum Pazifik fortgetragen. Nun, das ist eben für Betrachter der Weltereignisse mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit geworden. Es sind Bücher erschienen, die sprechen vom 20. Jahrhundert als dem pazifischen Jahrhundert. Aber Rudolf Steiner setzt nun eine Warnung hinzu. Er sagt – das war am 23. September 192156 – da begänne man nun zu debattieren, welche wirtschaftliche Rolle wird Japan spielen. Das alles aber werde zu nichts führen. Wir brauchen eine Seelenverfassung, die eine Weltkultur wird umspannen können. Und das sei nur möglich durch geistige Vertiefung.

Und so stehen wir tatsächlich als Betrachter des Weltganzen vor der Situation, uns sagen zu müssen: es entsteht eine Weltkultur, aber diese Weltkultur wird in große Gefahren kommen, wird drohen in einen Kulturzerfall hineinzugeraten, wenn es nicht wieder kommt zu einer Erneuerung der Mysterien. Es steht ja die ganze Anthroposophische Gesellschaft unter diesem Auftrag mitzuwirken, daß neue Mysterien entstehen. Nicht wiederbelebte alte! In Vorträgen vor der Weihnachtstagung57 spricht Rudolf Steiner davon, daß es sich nicht darum handeln kann, irgendwelche alten Mysterien zu erneuern, gleichsam aufzuwärmen. Sondern, so fordert er dort, das Auffinden eines ganz neuen Mysterienprinzips ist notwendig. Mit diesem neuen Mysterienprinzip wird aber wieder entstehen, was wir am Anfang betrachtet haben, das, woraus eigentlich die letzten Mysterienreste hervorgegangen sind: daß es eine Mysterienkultur um die Erde gegeben hat. Daß noch in der nachatlantischen Zeit die Mysterienregionen zusammenhingen in einem großen Mysterienorganismus, der die ganze Erde umspannte. Das ist eigentlich die Aufgabe der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, wenn sie sich als Weltgesellschaft versteht, über die Erde hin, von Kalifornien bis Tokyo, von Kapstadt bis Lappland, mitzuwirken, daß überall in berechtigter Weise eine Erneuerung der Mysterien möglich wird, aus den jeweiligen oder auf den jeweiligen Volkskulturen und Volksreligionen heraus.

Und in diesem kommenden Weltmysterienorganismus wird nun eben das Gebiet, auf das wir hier schauen und das wir eigentlich mehr oder weniger provisorisch den Ostseeraum nennen, eine Herzrolle spielen. Es wird eine gestaltende Rolle spielen. Was von dem nordischen Volksgeist ausgeht, wenn er aufsteigt zu einem Archewesen, wird eine formende, gestaltende, eine anregende Kraft haben. Wir müssen das so sehen, damit wir nicht – diese Gefahr ist naturgemäß vorhanden, nicht moralisch ist es gemeint – nicht in einen Ostseechauvinismus verfallen. Die Ostseemysterien werden ihre Aufgabe in dem Maße erfüllen, in dem sie begreifen, daß sie für die ganze Menschheit da sind. Wohl eingeschränkt in besonderem Maße für das, was als sechste Kultur sich bilden will, aber doch eigentlich für die ganze Menschheit.

Warum verlagert sich in der fünften nachatlantischen Kultur das geschichtliche Geschehen zum Pazifik? Alle Kulturen waren ja lange Zeit hindurch eine Wiederholung erdgeschichtlicher Tatbestände. Wir schauen auf den alten Saturn, die Sonne, den Mond. Dann finden wir, als die Erde beginnt, wie sich in der polaren Epoche wiederholt der Saturnzustand, in der hyperboräischen der Sonnenzustand der Erde, in der lemurischen Epoche der Mondenzustand; in der Atlantis beginnt das eigentlich irdische Element. Nun spricht die okkulte Überlieferung und die Geisteswissenschaft von gewissen Regionen, in denen sich diese großen »Wurzelrassen«, wie man früher sagte, dieser Erde entfaltet haben: Die erste, die polare, die sich vor allem dort abspielte, wo die Pole, der Nordpol vor allem, heute sind, die hyperboräische Epoche unterhalb der Polregion eben in jenen Regionen, die da aufgezeigt wurden bis hin zum Weißen Meer, und dann die lemurische Epoche, so auch Rudolf Steiner, im pazifischen Raum. Er nennt sogar die Ureinwohner Australiens, die Aborigines, die letzten Reste der lemurischen Menschen.

Es ist eine große Frage, die auch von einigen Freunden bearbeitet wird, die Frage nämlich, wie die geologischen Erdzeitalter in Einklang zu bringen sind mit den geisteswissenschaftlichen Angaben. Guenther Wachsmuth hat das als erster versucht in seiner Erd- und Menschheitsgeschichte, andere sind ihm gefolgt. Es sind zwei, man möchte sagen Erkenntnisvoraussetzungen notwendig, um das zusammenzufügen, was da zunächst scheinbar gar nicht zusammenpaßt – außer daß vielleicht das erwähnte Gondwanaland in etwa die Region charakterisiert, in der Lemurien gewesen sein soll. Zwei Voraussetzungen: eine philosophische, und das ist, daß wir nicht extrapolieren können, als sei die Zeit immer so taktmäßig abgelaufen, wie wir das heute denken. Die Zeit selbst ist ein Organismus. Sie ist ein Teil dessen, was sich als ätherische Welt darstellt. Und Rudolf Steiner spricht ja dezidiert davon, daß zu andern Zeiten Zeitabläufe viel rascher gingen, anders gingen, organischer gingen, sich verlangsamten, sich verschnellten. Das nennt er sogar ein Urgeheimnis unserer Epoche; er drückt sich so aus: Wenn die Wissenschaft einmal entdecken wird, wie die Abdrücke von Pflanzen auf Steinen wirklich zustande gekommen sind, dann wird sie ein Urgeheimnis unserer ganzen Epoche entdeckt haben. Und er hat es dann später zu Waldorflehrern und anderen mündlich näher erläutert: Je weiter man zurückkommt, desto mehr gehen ätherisches Geschehen und substantiell-materielles Geschehen ineinander über. Die Substanzen waren leichter, lockerer, die ätherischen Substanzen waren einprägsam. Und was ich heute vorfinde in dem scheinbaren Abdruck eines Blattes auf einem Stein, das war, als es zustande kam, ein beweglich-ätherisch-substantieller Vorgang. Und ein weiteres, worauf Rudolf Steiner aufmerksam macht, ist, daß die Erde sich im Laufe dieser Zeitalter verdichtet hat. Im Archaikum oder Kambrium darf ich nicht mit der gleichen Erdoberfläche wie heute rechnen. Sie war weiter ausgedehnt und hat sich erst allmählich zusammengezogen, verdichtet, so daß ich heute den physischen, harten Stein vor mir habe, der in Erdvergangenheiten noch ein substantieller Vorgang gewesen war. Aber ich wiederhole, es liegt hier eine große Aufgabe. Man kann froh sein, wenn Freunde daran arbeiten, weil vieles für die künftigen Mysterien davon abhängt, daß die Menschen wirklich verstehen, am Anfang waren Erde und Mensch wirklich eines. Am Anfang war der Himmel, war der makrokosmische Mensch, war der Adam Kadmon, und aus ihm heraus sind getreten die Naturreiche; und er selbst mußte, wie die jüdische Legende sagt, in Tausende von Stücken zerschlagen werden, in all die Einzelindividualitäten.

Nun hängt dieses Aufsteigen des nordischen Erzengels zum Arche von bestimmten Vorgängen ab. Man kann sie damit beschreiben, so formuliert es Rudolf Steiner, daß die Menschen im Inneren dasjenige zu bewältigen haben, was die Alten geschaut haben als die kommende Götterdämmerung, als den Weltenbrand. Das wird gerade etwas sein, was die Menschen hier im Norden bewältigen müssen. Hier, so sagt Rudolf Steiner, hatte sich am längsten noch das Hellsehen erhalten, als es schon längst abgeglommen war in Griechenland und selbst im späten Ägypten, bis es dann hier auch mit der neueren Zeit zunächst zum Stillstand kam. Aber so, wie es hier im Norden bis zuletzt am längsten gelebt hatte, so wird es auch hier als erstes erwachen. Und in diesem Erwachen eines neuen Hellsehens wird der Mensch nun hineingestellt werden in jenen großen Weltenumbruch der Götterdämmerung. Wir alle werden darinstehen, wir alle sind im Begriff darinzustehen. An anderer Stelle, in einem ganz anderen Zusammenhang, nennt Rudolf Steiner es das Jüngste Gericht, das jetzt beginnt. Wir kommen darauf zurück. Es hängt dieser Weltenuntergang oder das, was man als Weltenuntergang erleben kann, damit zusammen, daß früher die gesamte Mysterienbildung und dadurch die Bildung des menschlichen Ichs durch die Leiblichkeit und damit durch die Natur erfolgte. Jene großen Impulsatoren: Odhin, Freyr, Balder sie sprachen durch die Leiber. Das Ich war ja noch ganz jung, ganz unmündig, es sollte erwachen, es wurde gestärkt, aber es war noch nicht in der Lage, sich selbst zu erziehen. Und so sprach die geistige Welt gerade durch alles, was der Mensch erlebte im nördlichen Mysterienstrom, durch Sterne und Wind und Wasser und Berge und Bäume, was er hineinwirken fühlte in seine Leiblichkeit. Sein physischer Leib belehrte ihn, sein Ätherleib belehrte ihn, sein Astralleib belehrte ihn, bis eine Zeit erreicht war, in der das menschliche Ich nun so stark herausgebildet wurde, daß es notwendig wurde, daß dieses Ich selbst den Fortgang der Entwicklung für sich selbst übernahm. Das war im strengen Sinne eigentlich erst mit Ablauf des Kali Yuga gegeben – und sie ist immer noch nicht ganz erreicht, die Emanzipation des Ich von den Einflüssen der Leiblichkeit –, in jenem Weltenmoment, wo es überhaupt erst möglich wurde, eine Philosophie der Freiheit zu schreiben. Das Buch charakterisiert den Beginn der WeItenwende. Damit stehen wir vor dem Punkt, wo wir zu einem Verständnis kommen müssen, wie nun die künftige, nächste Kulturepoche sich gestalten wird.

Wir wurden früher durch unseren Astralleib gebildet. Über ihn wirkten die Seelengötter. Und vorgebildet in uns waren Seelenglieder. Da war der Astralleib, wie Rudolf Steiner sagt, schon vorläufig umgewandelt in eine Empfindungsseele, der Ätherleib schon vorläufig umgewandelt in die Verstandes-Gemütsseele, der physische Leib ist im Begriffe, in eine vorläufige Umwandlung hineinzukommen in die Bewußtseinsseele hinein. Aber was wird denn die eigentliche Zukunft sein? Daß das Ich selbst durch die Wandlung des Naturgegebenen sich die höheren Wesensglieder schafft und im Schaffen der höheren Wesensglieder die neuen Mysterien begründet und erlebt. Und das ist eigentlich erst in der sechsten nachatlantischen Epoche der Fall. Das Ich wird den Astralleib umwandeln zu einem geistigen Selbst. Das gewöhnliche niedere Selbst, als das wir ja auch den Astralleib bezeichnen können, wird durch die Kräfte des Ich geläutert, spiritualisiert und gewandelt zum Geistselbst. Darum die Verwandtschaft, die Sergej Prokofieff charakterisiert zwischen der mächtigen Empfindungsseele, die schon ein provisorisch umgewandelter Astralleib ist, und der kommenden Geistselbstkultur, die begreiflicherweise von einer Menschheit getragen wird, die so mächtig in der Empfindungsseele gelebt hat und leben kann.

Aber indem die Menschen dieses gewahr werden, erleben sie einen Abgrund. Sie erleben ein Ende, ein Zeitenende. Sie erleben, daß die große alte Schöpferwelt, alles, was da hereinkam durch die Urlehrer, was da gesprochen wurde von Thor und Odhin und den Göttern, zu Ende ist. Sie erleben, wie das untergeht. Und nun wird folgendes eintreten – wir kommen jetzt in ein Gebiet herein eigentümlicher Natur – wo aus der Region heraus sich Elemente eines eigentümlichen Schulungsweges auskristallisieren. Die Menschen des Nordens werden wieder in den kommenden Jahrhunderten hellsichtig werden. Sie werden wieder wahrnehmen Thor, Odhin und Freyr, die drei nennt Rudolf Steiner aus gutem Grund, wie Sie gleich sehen werden. Aber die Menschen – und das ist das Entscheidende – werden mit einem neuen Hellsehen kommen müssen. Mit einem Hellsehen, in dem gewirkt haben die Christuskräfte. Ein Hellsehen, daß sie empfangen dadurch vom nordischen Volksgeist, der zum Arche werden wird, weil dieser Volksgeist – so heißt es auch bei Rudolf Steiner – die Erziehung des Christus genossen hat. Christus selbst erzieht diesen großmächtigen skandinavischen Volksgeist. Durch die Erziehung des Christus wird er fähig, zum Zeitgeist aufzusteigen. Von ihm kommen bereits jetzt alle jene Impulse, die den Menschen befähigen, mit einem neuen, durchchristeten , – lassen wir offen, was das heißt – Hellsehen hereinzuschauen in die Götterwelt, um jetzt, sagt Rudolf Steiner, etwas wahrzunehmen, was die Alten so nicht wahrgenommen haben: die Gegenmächte. Von der Gegenwart an ist es nicht mehr möglich, Thor zu sehen ohne die Midgardschlange, Odhin zu sehen ohne den Fenriswolf, Freyr zu sehen ohne Surtur. Was heißt das?

Wir haben hingeblickt, daß in der Mythologie ganz zurecht Thor angeschaut wurde als der, der den Menschen die Ich-Erkraftung gab; man kann nicht sagen: das Ich gegeben hat, das geht ja zurück auf die Elohim in der lemurischen Zeit, aber die Ich-Erkraftung, die kam von Thor. Aber mit der Ich-Erkraftung war zugleich gegeben die Selbstheit, der Egoismus. Das Ich konnte nicht aus dem Leibe heraus entstehen, ohne daß mit diesem Ich zugleich die Selbstsucht sich ausbildete, und das nannte die alte Mythologie Midgardschlange. Die Midgardschlange lebt in jedem Menschen, so wie die Thorkräfte in jedem Menschen leben. Und es steht nun vor dem neuen Betrachter dieses Göttertatbestandes die Frage: Werde ich hineingezogen in die Götterdämmerung, in den Göttertod, oder gelingt es mir, den Weltenuntergang innerlich zu überstehen? – Denn was sagt denn die Mythologie? Thor und die Midgardschlange töten sich gegenseitig. Immer wieder kommt aus den Kräften des Thor die Ich-Erkraftung und durch die Ich-Erkraftung die Midgardschlange, die Selbstsucht, der Egoismus, der gleichsam das Ich-Schaffende wieder verschlingt. Das war, was die Alten in Bildern sahen: In der Götterdämmerung sterben die Götter durch ihre Gegenkräfte. Und so blickten sie hin auf den Kampf, den Odhin ausfocht mit dem Fenriswolf, Odhin, er, der dem Menschen die Sprache geschenkt hat, die Seelenfähigkeiten geschenkt hat, der mit der Sprache und den Seelenfähigkeiten das gegeben hatte, was damals als Hellsehen möglich war: sein Gegner ist der Fenriswolf. Der Fenriswolf ist jedwedes altes atavistisches Hellsehen. Es ist wichtig und bemerkenswert, daß Rudolf Steiner bei Besprechung dieser Tatbestände mit allergrößtem Nachdruck davon spricht, daß das alte atavistische Hellsehen, der Fenriswolf, die größte Gefahr für die kommende Menschheit in Europa ist. Das alte Hellsehen kam aus den Leibes- und Seelenfähigkeiten. Es ist ja so, daß man, wie Rudolf Steiner es sagt, hinweisen muß darauf, die Menschen sind viel mehr hellsichtig, als sie wissen. In gewisser Hinsicht ist jeder Mensch hellsichtig. Er bemerkt es nur nicht. Die Erlebnisse sind sehr fein, sie treten auf wie Ahnungen, wie Stimmungen, wie innere Direktiven, der Mensch fühlt sich zu jenem und diesem veranlaßt; nur weil er – Anwesende sind natürlich ausgenommen – durch das grobmaterialistische Zeitalter erwartet, der Erzengel käme aus der Wand wie ein Pferd, deshalb übersieht er die feinen, am Rande des Bewußtseins aufhuschenden Erlebnisse. Dafür sind ja die Konzentrationsübungen und so weiter notwendig, daß man diese feinen, huschenden Erlebnisse lernt festzuhalten, hereinzubringen in die Gedankentätigkeit.

Aber auch das alte atavistische Hellsehen lebt in uns allen nach. Und es könnte sein, daß, wenn nun mit Ablauf des Kali Yuga, im Lichten Zeitalter, die Geistwahrnehmungkräfte sich wieder beleben, sich auch das alte atavistische Hellsehen wieder belebt. Wenn man hinblickt auf die Schönheit, die Größe, die Gewalt der nordischen Mysterien, dann muß man auch auf ihre Gefahren blicken. Nirgendwo kann der Fenriswolf so gefährlich werden wie hier im Norden. Darauf blickten die Alten hin und sagten, auch hier töten sich beide gegenseitig: Odhin tötet den Fenriswolf, und der Fenriswolf tötet Odhin.

Und sie schauten auf das Dritte, sie schauten hin auf Freyr. Freyr hatte die Menschen begabt mit Erdenfähigkeiten, daß er tüchtig wurde die Erde zu ergreifen, den Pflug zu führen, Schiffe zu bauen, das war die Gabe Freyrs. Die Alten sahen, wie Freyr in Kampf kommt mit dem Herrscher von Muspelheim, der Feuererde. Sie dachten sich ja Niflheim, dem Asenheim, gegenüber eine Feuerwelt. Und der Herrscher der Feuerwelt war Surtur mit dem Flammenschwert. Das ist eine Form von Ahriman, sowie Loki eine Form von Luzifer war in der alten Mythologie. Und Freyr kämpft mit Surtur. Die Erdenfähigkeiten, die Freyr gegeben hat, drohen dauernd materiell zu werden, materialistisch zu werden, bloß materielle Handhabung zu werden. Und Surtur, indem er Freyr tötet und sich auch Freyr gegen ihn tötend wendet, ist eigentlich der, der durch das Flammenschwert den ganzen Weltenbrand überhaupt auslöst. Das war die große Vision der Alten: Thor und Midgardschlange haben sich gegenseitig getötet, Odhin und der Fenriswolf und Freyr und Surtur sind im Kampfe verstrickt, und da setzt Surtur durch das Flammenschwert den Weltenbrand in Gang. Der materialistische Ahriman, so würden wir heute sagen, der im Menschen wirksam werdende, die Fähigkeiten nur auf das Materielle lenkende Ahriman löst aus den Untergang der alten Welt.

Nun, sie wissen, daß die nordische Mythologie ein eigentümliches Bild entwickelt. Aus dem Weltenbrand, aus dem Weltenuntergang, aus dem Ende aller alten Mysterien bleibt übrig einer der Götter, der geheimnisvolle Widar. Rudolf Steiner macht darauf aufmerksam, wie verborgen, wie versteckt man von diesem Widar gesprochen hat. Es gibt von ihm eigentlich gar keine Bilder. Er erwähnt eines, das bei Köln gefunden ist; ein wenig charakteristisches Bild. Es gibt Freunde, die haben quer durch Europa gesucht. Man spürt deutlich, die Hände der Mysterien liegen noch auf dieser Gottheit. Und doch spricht Rudolf Steiner davon, daß die Alten richtig geschaut haben: Widar wird den Fenriswolf besiegen und damit sozusagen auch die anderen Menschenfeinde. Widar wird der sein, der für alle Menschen das besiegt, was aus Leibeskräften, aus Lebenskräften und Naturkräften heraus gespeist wird, statt daß das Ich sich der Christus-Wesenheit öffnet und dadurch die Kräfte gewinnt, selbst die Welt umzugestalten.

Es ist sehr interessant, wie die Alten sich vorgestellt haben, daß Widar den Fenriswolf besiegt. In einer tiefen, mysterienbegründeten Mythologie wird ein Bild entwickelt. Um dieses Bild zu verstehen, machen wir einen Umweg. Wir schauen zurück auf jene Ordensgemeinschaft des Mittelalters, über die Rudolf Steiner mit seltener Anteilnahme, Liebe und Herzlichkeit gesprochen hat, den großen Templerorden. Dieser Templerorden ist ja im Unterschied zu anderen Orden, die durch kriegerische oder politische Verwicklungen untergingen, planmäßig vernichtet worden, durch große okkulte Gegenmächte. In einem Gespräch mit Rittelmeyer sagte Rudolf Steiner, man muß heute noch aufpassen, wenn man die Geheimnisse der Templer enthüllt, nicht ermordet zu werden. Er setzt sogar hinzu, Schiller war im Begriff, die Geheimnisse der Templer zu enthüllen und wurde deshalb ermordet. So drückt sich Rudolf Steiner aus. Ich habe dann einmal einen Brief bekommen von jemandem, der in Weimar das Totenattest von Schiller gelesen hat, er schrieb mir: Aber Schiller war ja so krank! Es war natürlich, daß er starb, das sagen ja selbst die Arzte im Attest und wundern sich, daß er so lange gelebt hat. Rudolf Steiner sagt, Schiller hätte noch lange leben können, auch mit diesem Herzen, das sich so zusammengezogen hatte. Schiller ist von mächtigen Gegenkräften beiseite geräumt worden, bevor er, der große politische Dichter, der er auch war, das Geheimnis der Templer enthüllte.

Rudolf Steiner hat es uns enthüllt. Wir fassen es zusammen. Der Mensch, so sagen die spirituellen Überlieferungen, war ursprünglich bestimmt, nach zwei Seiten sein Leben auf der Erde zu entfalten: der Erde gegenüber in der vita activa, der geistigen Welt gegenüber in der vita contemplativa. So wurde von den Göttern der freie Mensch gedacht, die Erde gestaltend und von der Erde sein Verhältnis zur geistigen Welt regelnd. Dann kam der Sündenfall. Der Mensch wurde seiner ursprünglichen Kräfte durch den Sündenfall beraubt, er war nicht mehr fähig, aus eigener Freiheit heraus in der vita activa das äußere Leben zu gestalten und in eigener Selbstbestimmung in der vita contemplativa das geistige Leben zu gestalten, er bedurfte führender Mächte. Und so wurde ihm die Kirche gegeben für die vita contemplativa, und es wurde ihm der Staat gegeben für die vita activa. Die Templer-Mythologie, ihre Geheimlehre, drückte das so aus, indem sie sagte: für die vita contemplativa wurde ihm der Papst gegeben als Oberhaupt, und für die vita activa wurde ihm der Kaiser gegeben.

Was wollten die Templer? Sie wollten den Menschen von den Folgen des Sündenfalls befreien. Sie wollten ihn wieder auf die eigenen Füße stellen in einer vita contemplativa der geistigen Welt gegenüber und auf die eigenen Füße in der vita activa der äußeren Welt, dem Sozialen gegenüber. Das bedeutet nicht, daß der Mensch nicht religiöses Leben gehabt hätte, auch in einem kirchlichen Zusammenhang, das bedeutet nicht, daß er nicht soziales Leben gehabt hätte, auch in einem staatlichen Zusammenhang, sondern daß er nicht der Bestimmte, sondern der Bestimmende sein würde in vita activa und vita comtemplativa. Dagegen haben sich die Mächte der damaligen Zeit gewandt. Clemens V. und Philipp IV., der sogenannte Schöne, Rudolf Steiner nennt sie nur Kreaturen, verbanden sich, um den Templerorden zu vernichten, hinter beiden standen uralte schwarze und böse Mächte.

Allerdings sagt Rudolf Steiner, er ging auch wieder mit einem gewissen weltgeschichtlichen Recht zugrunde. Die Menschheit war noch nicht reif für das, was die Templer bringen wollten. Wie wollten sie denn den Menschen den Weg weisen, wie gingen sie selbst den Weg? Rudolf Steiner spricht davon, daß viele von ihnen eingeweiht waren durch den Christus, durch eine christliche Einweihung gegangen waren. Wie wollten sie denn den Weg weisen?

Dieser strenge Orden hatte Affilierte, Verbündete, die draußen im Leben standen und doch teilnahmen an den Templergeheimnissen. Und nachdem der Templerorden 1307-14 wirklich zerschlagen worden war, schrieb einer dieser Affilierten kurze Zeit später die Templergeheimnisse auf. Es war Dante in seiner göttlichen Komödie. Ausdrücklich macht Rudolf Steiner aufmerksam, daß das so ist und daß nun vor allen Dingen Dante im Schulungsweg – denn die Göttliche Komödie ist ja ein Schulungsweg – zeigt den Weg, den die Templer die Menschen führen wollten, um die Bevormundung aufzuheben, um die eigene Souveränität herzustellen, und das war der Weg zur Sophia. Ausdrücklich sagt Rudolf Steiner, daß dieses Wesen in der Göttlichen Komödie dasselbe ist, was die Templer verehrten und zu dem sie hinstrebten. Und wir verstehen aus heutigen Schulungselementen heraus, wie das aufgebaut ist: Da muß der Mensch zunächst gehen durch den Anblick des Abgrundes und des Bösen, das in ihm selber ist; durch das Inferno, die Hölle, er schaut alles, was im Menschen leben kann. Einmal sagt Rudolf Steiner, wenn man ein Angehöriger des fünften nachatlantischen Zeitraums ist, sollte man wissen, daß die Neigung zu jedem Verbrechen in jeder Menschenseele lebt. Ob aus der Neigung eine Tat wird, sagt er, das hängt von ganz anderen Umständen ab. Aber die Neigung zu jedem Verbrechen, zu jedem Bösen liegt mit Notwendigkeit auf der Seele dessen, der ein richtiger Angehöriger des fünften nachatlantischen Zeitraums ist. Und so schreibt Dante, aus der Templeresoterik heraus gleichsam vor dem Tore der Bewußtseinsseele diese Göttliche Komödie, die Rudolf Steiner, man möchte sagen, gar nicht hoch genug schätzen konnte in seinen Bemerkungen, die er darüber macht: Der Mensch geht durch das Inferno seines eigenen Selbst. Er muß lernen zu ertragen im Anblick dieser furchtbaren Bilder, was er in sich trägt. Er muß seine Tierheit im Abgrund schauen. Und dann kommt die Katharsis, die Läuterung, das Purgatorium. Der Mensch erlebt, wie jetzt umgewandelt wird das Unvollkommene in ihm, welche Anstrengung die Seele machen muß, um sich zu reinigen. Und dann kommt am Schlusse dieses Purgatoriums jener gewaltige Augenblick, wo der Führer zu ihm sagt: Dein Wille ist jetzt gereinigt, von jetzt an sei du dein eigener Kaiser und dein eigener Papst. Jetzt darf der Mensch aufsteigen in die Welt der Erleuchtung, Paradiso. Er steigt auf, er wird hingeführt zur Sophia, hereingeleitet in die Himmelsrose, er erlebt im Wesen der Sophia, daß die Welt nur auf eines gebaut ist: auf die Liebe. Er kommt bis zum Anschauen der Trinität, man möchte sagen, bis zur Wahrnehmung der ersten Hierarchie, wie sie repräsentiert die Trinität. Das lebte in den Templern, strömte durch ganz Europa, strömte bis in den Norden hinauf. – Ich war ganz freudig bewegt, als wir hier in einer alten Kirche drei Templerkreuze entdeckten. Alt, denn das spätere Chorgestühl, das Orgelgestühl wurde darüber gebaut, so daß das Templerkreuz verdeckt ist. So merkt man, es kommt aus einer alten Zeit.

Nun schauen wir vielleicht mit einem etwas anderen Verständnis wieder hinein in die kommende Zeit, wenn wir sagen: Wir haben eintausendfünfhundert Jahre Entwicklung der Bewußtseinsseele vor uns. Und wir beginnen zu verstehen, daß alles davon abhängen wird, daß wir diese eintausendfünfhundert Jahre in der rechten Weise durchschreiten – Rudolf Steiner spricht einmal von einer wichtigen Inkarnation für uns alle im Jahre 2800, wo gewisse Dinge dann vorbereitet sein werden, und wo die Seelen der Anthroposophen, seien sie einmal oder zweimal im 20. und 21. Jahrhundert dagewesen, wiederkommen werden zu einem großen, mächtigen Kulturimpuls. Wir schauen jedenfalls auf diese Zukunft mit einem großen Verständnis und mit einer gewissen Sorge. Diese Sorge erfüllte einen der größten Geister der europäischen Mysteriengeschichte, den größten Geist Christian Rosenkreutz. Rudolf Steiner schildert, wie er im 16. Jahrhundert zwei Konferenzen von Eingeweihten einberuft – man darf sich diese nicht zu groß vorstellen, die zweite war eine Konferenz von sieben bis zwölf, die erste Konferenz vielleicht von um die einundzwanzig bis dreißig Menschen –, und wie er mit diesen Eingeweihten eine große Sorge bespricht: Ob die Menschen durch die Bewußtseinsseele werden hindurchkommen, oder ob sie werden zugrundegehen. – Die Empfindungsseele ist ein provisorisch umgewandelter Astralleib. Die Verstandesseele ein umgestalteter Ätherleib. Die Bewußtseinsseele wandelt auf der einen Seite den physischen Leib um, oder besser: entwickelt sich am physischen Leib einerseits, und andererseits grenzt sie an das entstehen wollende Geistselbst. So, wie die Empfindungsseele an den Astralleib angrenzt oder an die Verstandesseele – wunderbar zu beobachten bei den romanischen Völkern, bei den Italienern grenzt die Empfindungsseele an den Astralleib, man muß einmal Italiener reden sehen: das ist ja immer wie ein Sturmwind, und bei den Spaniern grenzt die Empfindungsseele an die Verstandesseele, das ist etwas ganz anderes, die stolzieren da ganz anders umher – so ist es mit der Bewußtseinsseele: sie grenzt nun ihrerseits an das Geistselbst. Aber jetzt ist nicht die Verstandesseele entscheidend, sondern das Physische.

Und so formuliert Rudolf Steiner, daß Christian Rosenkreutz mit den ihm befreundeten, ihm zusammenarbeitenden Eingeweihten folgende Gefahr besprach: Es ist möglich, daß sich in der Bewußtseinsseelenzeit die Menschen spalten in zwei Ströme. Der eine Strom wird sich nur der Erde zuwenden, wir würden sagen: als Technokraten. Der andere Strom wird sich nur dem Geistigen zuwenden. Er wird nur auftauchen wollen in das Geistige. Und die Menschheit würde ihren Fortgang nicht finden, weil die Zuwendung bloß zum Geistigen unvollkommen und die Zuwendung bloß zur Erde technokratisch, geistlos und damit unmenschlich werden müßte. Und viele von ihnen wissen, daß dort eine Entscheidung getroffen wurde: die Entscheidung, einen aus dem Kreise dieser großen Eingeweihten hinauszuschicken in den Weltenraum, so daß er die Seelen, die auf dem Wege zur Erde sind, imprägniert mit etwas, das sie fähig macht, nicht auseinanderzureißen, sondern Erdenmensch und Geistmensch zugleich zu sein, Erdengestaltender und Meditant. Das war die Aussendung des Buddha zum Mars. Der Mars ist ja immer derjenige Planet, auch bei Rudolf Steiner, der mit den Sprachkräften zusammenhängt, der zusammenhängt mit dem, was der Mensch aus der Sprache und mit der Sprache an Geistigkeit entwickelt. Und seit dieser Zeit – 1604 fand das Ereignis statt, die Konferenzen vorher, im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts – seit dieser Zeit empfangen alle Menschenseelen, wenn sie aus Weltenmitternacht zur neuen Inkarnation herniedersteigen, auf dem Mars, der seine Atmosphäre geistig durch die Wirkung des Buddha völlig verändert hat, eine Prägung. Und diese Prägung ist, daß wir fähig sind, aus der Sprache und mit der Sprache in der Welt zu wirken und gleichzeitig aus der Sprache und mit der Sprache uns in der Meditation zu erheben. Die geistige Welt aufzusuchen und die physische Welt zu gestalten. Es ist ein neuer, ein verchristlichter Odhinsimpuls. Einmal sagt Rudolf Steiner auch, es habe der Buddha auf dem Mars eine ähnliche Tat vollbracht wie der Christus auf der Erde. Es ist die Buddha-Wesenheit so eng wie nur denkbar mit der Christuswesenheit verbunden.

Und hier muß man durch die, wenn man so will, erweiterte geisteswissenschaftliche Mythologie nun hinein sich tasten in diese sich wandelnden nordischen Mysterien. Man muß beginnen, nun ausgehend von Widar – er war der einzige, der in der alten Mythologie herüberreichte über den Weltenbrand – zu verstehen, wie sich die neuen Mysterien ausgestalten. Unser aller ist Widar, sagt Rudolf Steiner, und er setzt hinzu: auch für uns Mitteleuropäer, als wollte er sagen: Ihr dürft ihn nicht beschlagnahmen im Norden. Widar ist uns allen, er drückt sich ganz merkwürdig aus. Er beschreibt ihn ja als denjenigen, der heute den Menschen in die Verbindung mit den Christuskräften bringt, der den Menschen führen kann zu einem wirklichen Verständnis des Christus. Des Christus, der eine Tat jetzt vollbringt, die Rudolf Steiner als das Jüngste Gericht bezeichnet – eine andere Terminologie für Weltenende, für Götterdämmerung.

Nun, viele von Ihnen wissen natürlich, wie Widar den Fenriswolf besiegt. Er fertigt sich einen dicken Schuh an, und dieser Schuh ist gebildet aus den Lederabgängen – das ist die wörtliche Übersetzung – aller Schuhe der Menschen, die über die Erde gehen. Also wenn man da – es gab ja noch keine Gummischuhe – mit seinen Lederschuhen umherlief, so wird immer etwas Leder abgerieben. Und Widar sammelt den gesamten Lederabrieb, fertigt sich daraus einen dicken Schuh, und diesen Schuh setzt er dem Fenriswolf in den Rachen, drückt seinen Unterkiefer nieder und reißt den Oberkiefer hoch, so daß der Fenriswolf mitten entzweigerissen wird.

Ein wunderbares Bild! Was sind denn die Lederabgänge, die Spuren der Schritte der Menschen? Ihr Schicksal, das sie über die Erde geführt hat. Jeder Mensch geht anders, jeder Mensch geht andere Wege, jeder Mensch hinterläßt sozusagen andere Lederspuren auf der Erde: das individuelle Karma. Es war ja gar nicht möglich in der alten Zeit, von Ausnahmen abgesehen, so von individuellem Karma zu sprechen, wie wir heute davon sprechen dürfen und auch müssen. Widar ist derjenige, der jetzt, nachdem die Götterwelt durch die allgemeine Natur gewirkt hat, aufgreift das, was vom individuellen Ich kommt. Es gibt eine Bemerkung, die Rudolf Steiner über die Templeresoterik macht, die noch einmal zusammenhängt mit unseren Mysterienbetrachtungen. Sie ist enthalten in einem Vortrag von ihm, Die Wanderung der Rassen,58 in dem auch sonst vieles enthalten ist zu dem, was uns beschäftigt hat über die Ströme der Völker. Da sagt er, die Templer hatten unter anderem zwei Grundsätze. Der eine: Wir nehmen wieder an den Glauben an die Elementarkräfte in der Welt. Dieser war ja zu ihrer Zeit schon untergegangen. Er hatte gelebt in den nordischen Mysterien und auch in Nachklängen noch, aber als die Templerblüte war im 12. und 13. Jahrhundert, war er vollkommen untergegangen. Sie griffen das wieder auf, und daraus erblühte ihre ungeheure Erkenntnis in der Äthergeographie, in allen Geheimnissen, die zusammenhängen mit diesen Elementarkräften. Ihr anderer Grundsatz: Wir glauben, daß die Schicksale der Menschen ein Ergebnis der Gestirnzusammenhänge sind, und daß der Mensch selbst herausgeboren ist aus den großen Gestirnzusammenhängen. Und Rudolf Steiner fährt fort: Aus diesen zwei Grundsätzen ist die Kultur der germanisch-englischen Rasse herausgewachsen (es ist die Zeit, in der er noch nicht numerisch spricht, aus gutem Grunde nannte er die gegenwärtige Kulturepoche vom Weltkrieg ab nurmehr die fünfte nachatlantische Epoche). Es kommt in diesen Templergrundsätzen noch einmal zum Ausdruck, was uns bereits beschäftigt hat. Wir sagten vorhin, auch in den nordischen Mysterien gibt es etwas, was sich ergänzt: das Baltisch-Slawische eben mit einer starken Hinneigung zu dem, was eben diese Kräfte der Erde sind, und das Nordische in der Mythologie, das Hinausgehen in die Sternenwelt, beides aber zusammenwirkend.

Wenn man die Aufgabe, die Rudolf Steiner dieser nordischen Welt gestellt hat, versucht, noch etwas weiter zu vertiefen, dann kann man fragen: Was ist denn nun das, was ich da schon mehrfach zitiert habe: das Jüngste Gericht? Der Ausdruck fällt in den Vorträgen von Karlsruhe Von Jesus zu Christus,59 und zwar zusammenhängend mit jenem gewaltigen Bild, daß vom Ende des Jahrhunderts an Christus der Herr des Karmas ist. Das Karma war bisher etwas, das sich mit Weltennotwendigkeit vollzog. Da stand Moses mit den Gesetzen, da stand der Cherub mit dem scharfen Schwert als Imagination, wenn ein Mensch sein Lebensbuch lesen wollte. Jetzt steht an dieser Stelle der Christus. Aus ihm erfließt, wie das Karma eines Menschen sich weiter gestalten soll. Aus dem Urwesen der Liebe wird jetzt das Karma weitergebildet, jedem Menschen angemessen. Moses sagte noch: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das Karmagesetz, unerbittlich zeigt es die Folgen einer Tat. Der Christus spricht, ich werde Dein Karma wandeln, wie es Deiner Individualität gemäß ist. Indem Christus Herr des Karmas wird, wird das Karma aus dem scharfen überindividuellen Gesetz zu einem menschlich-individuellen. Ein großes Geheimnis weht natürlich um dieses Bild. Aber Rudolf Steiner meint, das war gemeint, wenn die Alten sagten, es steht geschrieben: Er kommt zu scheiden die Geister. Das Jüngste Gericht, es ist nicht ein Tag, sondern es ist eine ganze Menschheitsperiode.

Und nun können wir zurückkehren zu dieser Aufgabe einer volkstümlichen Anthroposophie. Ich kann unter dem Vorausgeschickten ja gar nicht anders – auch durch meine Tätigkeit, die mich ununterbrochen um die ganze Welt führt – als sagen, das muß ja eine Gabe des Nordens an alle Kulturen und an alle Völker sein. Es muß volkstümliche Anthroposophie geben in Japan und in den arabischen Staaten und in Afrika und Südamerika und wo auch immer. Was heißt das aber? Sergej Prokofieff hat darauf hingewiesen. Es kann sich nicht um sozusagen eine Primitivanthroposophie handeln auf unterstem Volksschulniveau, in der Art des Katechismus – ich habe ein Buch da draußen liegen gesehen: Lexikon der Anthroposophie. Nichts gegen den ehrenwerten Verfasser! Aber das ist bestimmt nicht gemeint mit volkstümlicher Anthroposophie. Ich glaube, daß das, was Sergej Prokofieff angedeutet hat, dieses Element einer Lebensempfindung, einer Lebenskraft, in diese Richtung geht, und zwar bezogen auf die Individualität.

Ich würde unter volkstümlicher Anthroposophie immer verstehen auch individuelle Anthroposophie. Ein großes Rätsel für uns im Vorstand und für viele Tätige war: warum heißt es mit solcher Schärfe in den Prinzipien der Weihnachtstagung: »Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Eine Dogmatik auf irgendeinem Gebiet ist ausgeschlossen.« Das ist ja nur die Negativformulierung von: »Es ist die Anthroposophie vollkommen auf die Individualität gestellt.« Sie ist kein Dogma. Keine Lebensvorschrift. Das ist sektiererisch. Sondern sie fordert, daß der Mensch aus sich selbst, aus diesem warmen Lebensgefühl für das Spirituelle, sein Leben gestaltet.

Ich habe nun den Eindruck – und ich habe das immer zum Ausdruck gebracht – daß in Järna eine Keimzelle gelegt ist. Und ein Wort muß hier nun nochmals gesagt werden, sonst können wir nicht ruhigen Gewissens auseinandergehen: Ich selber habe, da ich es von alten Mitgliedern so gehört hatte, zitiert, daß Rudolf Steiner sagte: Es müssen in Europa neben dem Goetheanum in Dornach noch zwei weitere Goetheanen entstehen, eines auf Rügen und eines im Ruhrgebiet. Und dann gab es eine lange Diskussion: Nein, er hat nicht gesagt, auf Rügen, sondern er hat gesagt, da, wo schon einmal – große Mysterienstätten waren, können die neuen Mysterienstätten nicht entstehen. Und ich glaube – es ist einfach zu präzise formuliert überliefert – er hat gemeint: im Raum von Rügen. Er hat gemeint: im Ostseeraum. Und den Freunden in Järna, Arne Klingborg weiß das, habe ich oft gesagt: Was ihr hier macht, das kommt mir vor wie jenes zweite Goetheanum, das nun nicht an einer wichtigen Stelle im Oberrhein als erstes entstehen mußte, sondern das nun hineingesetzt ist in diesen nordischen Raum. Und wie das ist mit dem Westen, der herübergeht über das Ruhrgebiet vielleicht auch nach Holland hinein – man muß es offen lassen. Es sind Gesten – aber entscheidende Gesten. Warum? Rudolf Steiner spricht von vielen Goetheanen, die im nächsten Jahrhundert entstehen. Es paßt nicht zur Anthroposophie, daß es nur ein Goetheanum gibt. Die neuen Mysterien sind Kollegialmysterien. Was wir brauchen in die kommenden Jahrhunderte hinein, ist ein Kollegium von Goetheanen über die Erde hin. Ein Kollegium neuer Mysterienstätten. Ich sage das als Erster Vorsitzender am Goetheanum, wohl wissend, wie wir ringen müssen, daß wir finanziell durchkommen. Ich sage es trotzdem. Man kann dem Goetheanum in Dornach spenden und dennoch irgendwo ein zweites bauen.

Unsere Gesellschaft baut, und das ist der Auftrag in die kommenden Jahrhunderte hinein, an einer Weltmysteriengesellschaft. An einer Gesellschaft für die differenzierten Weltmysterien. Und da wird eine Goetheanum-ähnliche Einrichtung im Ostseeraum eine lehrende und vor allem eine inspirierende Rolle spielen müssen. Vielen Menschen, auch Menschenrassen, fällt es nicht leicht, sich in die Anthroposophie hineinzufinden. Den nordischen Menschen fällt es leicht, auch wenn sie manchmal etwas träge sind und sich Zeit dabei lassen. An sich ist der nordische Mensch, der Mensch des Ostseeraumes, wie wir ihn charakterisiert haben, prädestiniert dafür, Anthroposophie aufzunehmen und auch dafür, sie in die Welt zu tragen.

Wir können in dieser Gesellschaft diesen Impuls dann vor allem mit der nötigen Kraft in die Welt bringen, wenn wir wissen, daß hinter allem etwas steht, was auch hier im Norden beginnen wird: etwas, was alles umgreift, alles überhöht, in dem alles seine Erfüllung findet. Und das ist das Schauen des ätherischen Christus. Das wird nur möglich sein aus einer geisteswissenschaftlichen Neigung, aus einem Fühlen und Wollen heraus, das begriffen hat, warum vom Manu her durch die Jahrtausende hindurch betrieben wurde die Heiligung der Persönlichkeit des Menschen, seines Ich, als eines Gefäßes, das den Christus aufnehmen kann. Denn das Schauen des ätherischen Christus wird ein ganz individuelles Erlebnis ein. Es wird bei jedem Menschen anders sein, und doch wird es immer derselbe Christus sein. Und man kann die Empfindung haben, oder die Frage – und mit dieser fragenden Empfindung möchte ich schließen –, daß dieses Wahrnehmen, das immer stärker werden wird, das immer mächtiger werden wird unter den Menschen, der wirkliche Führer sein wird, der über den Erzengeln und Archai steht, sie belehrend, sie inspirierend, der Führer sein wird durch die Gefährnisse des Bewußtseinsseelenzeitalters hindurch in das Zeitalter der mit ihm so tief verbundenen Wesenheit, in das Zeitalter der Sophia hinein.

56) Enthalten in: Rudolf Steiner, Anthroposophie als Kosmosophie, GA Bd. 207
57) Rudolf Steiner, Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft, GA Bd. 258
58) Bisher nur abgedruckt im Jahrbuch Gäa-Sophia, 1928/29
59) Rudolf Steiner, GA Bd. 131

Die Kalevala und das Kalevipoeg – Sirje Purga

Die Kalevala und das Kalevipoeg
Sirje Purga

Wir haben gestern und heute viel gehört über die baltischen Länder. Ich möchte Ihnen einiges erzählen über das estnische Volk. Estland gehört zum Baltikum, aber das ist unsere äußere Zugehörigkeit. Innerlich sind wir besonders eng mit dem finnischen Volk verbunden, denn die estnische Sprache gehört zu der finno-ugrischen Sprachgruppe, und so ist das Finnische für uns eine vertraute und leicht zu verstehende Sprache. Unsere Völker haben gemeinsame Wurzeln und sind zusammen in das Ostseegebiet gekommen, wo sie schon seit fünftausend Jahren ansässig sind. Auch unsere spätere Geschichte weist in vielem ähnliche Züge auf.

Worin sich aber ganz besonders die tiefe Beziehung zwischen beiden Völkern ausdrückt, das sind ihre Volksepen, das finnische, die Kalevala, und das estnische, das Kalevipoeg. In der Kalevala sehen wir vor uns grandiose Bilder von der Erschaffung der Welt und von der Entwicklung der menschlichen Seelenkräfte, dargestellt in solchen Gestalten wie Wäinämöinen, IImarinen, Lemminkäinen, oder der Ätherkräfte, wie in der Geschichte vom Sampo. Das Epos Kalevala endet mit der Ankündigung einer neuen Entwicklung, der Aufnahme des Christus-Ereignisses in die menschliche Seele hinein. Im estnischen Epos Kalevipoeg, das heißt: »Kalevs Sohn«, finden sich andere Bilder: Bilder von dem Heruntersteigen des Ich in den Menschen, von dessen Entwicklung im Kontakt mit den Gegenkräften bis zum Ende des Zeitalters der Bewußtseinsseele. Das Epos schließt mit einer Verkündigung der Ankunft der sechsten Kulturepoche. Alle die Seelenkräfte, die in der Darstellung der Kalevala als Urbilder sich herausgebildet haben, sind im Kalevipoeg ins Innere der Menschenseele heruntergestiegen und stehen im Dienst der Ich-Entwicklung. So sind beide Epen miteinander verbunden wie die Idee in der geistigen Welt und ihre Verkörperung im irdischen Menschen.

Heute entsteht die Frage: Warum sind diese Epen so spät erst, im 19. Jahrhundert, zum Vorschein gekommen? Die Entwicklung des finnischen wie des estnischen Volkes wurden über lange Zeit unter dem Deckel gehalten. Ohne damit eine Bewertung vornehmen zu wollen, muß gesagt werden: Es ist eine Realität, daß dieser Deckel für Estland die Baltendeutschen waren, die im 13. Jahrhundert auf dem Kreuzzug nach Estland gekommen sind, das Land mit Schlössern und Gutshöfen besiedelten und die Urbevölkerung im Stand der Leibeigenschaft hielten. Später wurde Estland abwechselnd von den Schweden und Russen beherrscht, wurde Opfer vieler Kriege und Krankheitsepidemien. Die Finnen waren in ihrer Entwicklung freier, jedoch von den Schweden unterdrückt. Die europäische Kultur hatte Einfluß nur auf die Herrschenden dieser Länder, nicht jedoch unter dem Volk. So aber konnte sich die vorzeitliche Kultur sowohl des finnischen als auch des estnischen Volks ungeachtet äußerer Abgeschiedenheit bewahren. Sie lebte in der frühen Handarbeitskunst, in den Volksliedern, in Märchen, Sagen und Epen weiter. Auch das alte Hellsehen, aus dem sich diese Kultur ernährte, hat sich lange erhalten. Wir können sehen, wie diese Kultur noch an die Sampokräfte, die Ätherkräfte angeschlossen war. Und das liegt auch der Entstehung der Volksepen zugrunde.

Als im Jahre 1817 die Leibeigenschaft aufgehoben worden war, begann ein Anstieg des Selbstbewußtseins der einheimischen Bevölkerung und eine wunderbar schnelle Entwicklung. In kurzer Zeit holte man die bisherige Entwicklung Europas ein, und hundert Jahre später waren Estland und Finnland selbständige Kulturstaaten von europäischem kulturellem Niveau, wo etwa im Jahre 1923 in Finnland und 1924 in Estland anthroposophische Gesellschaften begründet wurden. Unter den ersten Literaturwerken, die als Volksausgaben erschienen, waren die Epen der beiden Länder, 1849 die Kalevala in Finnland, 1861 das Kalevipoeg auf estnisch und deutsch in Estland. Elias Lönnrot in Finnland, F. R. Kreutzwald in Estland haben diese Epen im Volk gesammelt und zusammengestellt. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des materialistischen Denkens ist später das Verständnis der Muttersprache und damit der Epen völlig verlorengegangen, und so sind sie als literarische Denkmäler gerettet worden.

Was können sie heute der Welt geben? In der Zwischenzeit ist der Samen eines neuen, den Materialismus überwindenden Bewußtseins als Anthroposophie in der Menschheit aufgegangen, was es uns ermöglicht, aus dem Bewußtsein des begrifflichen Denkens heraus wieder zurück zum Bilderbewußtsein zu finden, nun aber zusammen mit dem klaren Denken. Wenn wir diese Epen mit Hilfe der Anthroposophie analysieren, so helfen uns diese Bilder bei den ersten eigenen Schritten, wieder zu Bildern zu kommen.
Das berücksichtigend kann man verstehen, warum Rudolf Steiner gesagt hat, daß die europäische Kultur sich nicht weiterentwickeln kann, wenn die Kalevala-Bilder nicht aufgenommen werden. Warum hat er nicht über das Kalevipoeg gesprochen? Hat ihn niemand danach gefragt, oder sollte dieses Epos dem Ichbewußtsein selber zum Entdecken bleiben?

Das Epos besteht aus dem Anruf – der Einleitung – und zwanzig Gesängen. Die ersten sieben Gesänge beschreiben die Vorbereitung zu einer neuen Entwicklung: das Heruntersteigen des Ich aus der geistigen Welt und seine Ankunft auf der Erde. Die zweiten sieben Gesänge sprechen vom Ausgang der Entwicklung und von der Aktivität der Gegenkräfte. Die letzten sechs Gesänge geben uns ein Bild vom völligen Durchdringen des physischen Leibes durch das Ich und vom Umwenden der Entwicklung zurück zu den geistigen Welten. Es durchzieht das gesamte Epos eine wunderbar große Ehrfurcht vor der geistigen Welt. Kreutzwalds Begabung berücksichtigend, kann man sagen, daß das Epos in seiner Niederschrift auch ein schönes Kunstwerk geworden ist. Bewunderns[-]wert ist, wie sein inspiriertes Bewußtsein das geschichtliche Werden der Ich-Entwicklung in ein einheitliches Ganzes zusammengebunden hat. Er hat über seine Arbeit berichtet, daß er sie nur morgens nach dem Aufwachen getan hat, gleich wie Goethe seinen Faust geschrieben hat.

Ich erlaube mir, Ihnen den Anfang und die letzten Worte des Epos vorzutragen:

Leihe mir die Harfe, Wäinämöinä,
Herrliches Meer bewegt das Herz mir,
Aus dem Schatze der alten Zeiten
Treibt’s mich mächtig ein Lied zu singen.
Grauer Vorzeit Stimmen erwachen.
Bewegt euch, geheimnisvolle Worte,
Die mir und dir von besseren Zeiten singen
Und von dem Reiz der schöneren Tage.

Und die letzten Worte des Epos sind:

Aber einmal nahet die Zeit sich,
Wo die Späne von zwei Enden ,
Angezündet lohn und lodern,
Gleicher Zeit die Flammengluten
Machen frei die Hand des Helden
Und geht heim der Kalevi
Seinen Kindern Glück zu bringen,
Estenlande neu zu schaffen.

Kreutzwald selbst hat vorausgesagt, daß noch in tausend Jahren das Kalevipoeg auf den Bücherbrettern stehen wird von Menschen, die von der estnischen Sprache nicht mehr den Tüpfel auf dem „i“ verstehen werden.

Der Ostsee-Bernstein und seine Bedeutung in den Mysterien – Ewa Wasniewska

Der Ostsee-Bernstein und seine Bedeutung in den Mysterien
Ewa Wasniewska

Ich bin dankbar und fühle mich sehr verbunden mit allem, was bis jetzt auf dieser Tagung ausgesprochen wurde. Viele wichtige Ideen brauche ich nicht selbst vorzubringen, sie leben schon in diesem Raum, und ich werde das Vorhandene weiter führen.

Bernstein! Ich habe einige echte Stücke auf den Tisch gelegt, um später einen persönlichen Kontakt zu ermöglichen. Bernstein ist eine interessante und dabei so geheimnisvolle Substanz, daß man sagen kann, sie ist auch heute, zum Ende des 20. Jahrhunderts, den Chemikern, Geologen, Physikern noch kaum bekannt. Chemisch gesehen ist Bernstein ein Polymer, das so viele Metamorphosen hinter sich hat, daß die Analyse keine genaue, statistisch überprüfbare Verbindung zwischen den chemischen Substanzen angeben kann. Nur ganz allgemein läßt sich feststellen: Bernstein enthält ungefähr 76 Prozent Kohlenstoff, 10 Prozent Sauerstoff, 11 Prozent Wasserstoff und einige andere Substanzen. Das Problem der Analyse ist dabei, daß sich Bernstein in keinem Lösungsmittel ganz löst, eine exakte Analyse aber ist nur möglich, wenn das ganze Stück gelöst werden kann.

Wir wissen, Bernstein stammt von Bäumen, ist also pflanzlich-organische Substanz. Rudolf Steiner sprach im Zusammenhang eines medizinischen Hinweises von ihm als dem Saft uralter Koniferenbäume. Das sagen auch moderne Geologen. Bernstein hat Inklusionen, selten pflanzliche, viel öfter tierische, und diese Inklusionen sind nach der Rechnung der Geologen etwa 40 bis 60 Millionen Jahre alt.

Die Bernsteinsubstanz in der Hand zu halten, ist ein ganz besonderes Erlebnis: Bernstein ist sehr leicht, eigentlich leichter als Wasser, schwimmt im salzigen Wasser, ist immer warm. Er ist sehr weich. Und es gibt ihn in einer ganzen Palette von Farben: schwarz, braun, rot, gelb, weiß; sehr selten blau und grün. Er hat ein sehr empfindliches Verhältnis zu dem Licht. Und neben der Beziehung zu Wärme und Licht zeigt er eine dritte Qualität: Elektrizität. Bernstein ist die einzige natürliche Substanz, die eigene Elektriziät hervorbringt. Der griechische Name für Bernstein – bei Aristoteles finden wir ihn – ist Elektron, das heißt, unser Wort Elektrizität stammt von Elektron, dem Namen des Bernsteins.

Diese Substanz ist nie flüssig. Erwärmt auf bis zu ungefähr vierhundert Grad bleibt sie immer plastisch, um dann plötzlich zu verschwinden, das heißt in die Gasform überzugehen. Dabei duftet sie. Der Name »Bern«stein bedeutet brennender Stein.

Man findet zusammen mit dem Bernstein auch anderes fossiles Harz, genauso alt wie der Bernstein, das aber nicht diese Verwandlung durchgemacht hat. Das heißt, die ursprüngliche Substanz war verschiedenen Arten der Verwandlung unterworfen, und nur eine davon führte zum Bernstein. Und das Bernstein-Werden hat viel zu tun mit den Ostseeraum-Mysterien, mit Wärme, Licht und Luft. Luft ist immer eingeschlossen im Bernstein, in Kügelchen, in Blasenform, bis zu 60 Prozent, ja bis zu 93 Prozent bei weißem Bernstein. Durchsichtiger Bernstein hat größere, undurchsichtiger Bernstein hat kleinere Luftkügelchen, aber in größerer Menge. Was bedeutet diese Luft im Sinne der Mysterien? Rudolf Steiner sagt sinngemäß über die Luft im »Jungmedizinerkurs«:60) Luft werdet Ihr in eurer Wesenheit nur erleben, wenn Ihr sie erlebt als Mut. Überall, wo Wind auftritt, wehender Wind in der Natur, werdet Ihr in eurer eigenen Seele Mut empfinden. Alles, was Ihr seht in der äußeren Natur als Luft, das ist Mut. Mut ist Luft. Das sollt Ihr in eurer Seele erleben. Wasser ist die äußere Erscheinung der Empfindung. Wo Empfindung auftritt, ist innerlich dasselbe da, was wir finden, wo Wasser auftritt. Wasser ist Empfindung. Und wo Erde auftritt, feste Erde – Erde ist dasselbe wie Gedanken. Im Gedanken erfriert ja das Leben.

Diese im Bernstein eingeschlossene Luft und dieses in ihm, in den Kohlenstoff hinein konzentrierte Licht – denn das ist Elektrizität – ist eine von Hyperboräa bis heute in die irdische Substanz geschriebene Aufgabe. Bernstein zeigt sich als ein Schriftzeichen der Ostseemysterien, das auch für die weitere Zukunft aufgeschrieben ist.

Den pflanzlichen Heilmitteln schreiben wir drei Qualitäten zu: Sulfur, Merkur, Salz. Bernstein umfaßt in besonderer Weise – als einziger nichtpflanzlicher Stoff – alle drei Qualitäten: er brennt – Sulfur, er ist plastisch bei Erwärmung – Merkur, und er gibt Asche – Salz. Ein besonderer Bestandteil dieser Asche ist die Bernsteinsäure. Gerade im Hinblick auf die Bernsteinsäure unterscheidet sich der Ostseebernstein von allen andern Bernsteinsorten; der eigentliche Bernsteinname ist deshalb reserviert für den baltischen Bernstein. Alle anderen Bernsteine tragen Ortnamen. Der Ostseebernstein enthält 3 bis 8 Prozent Bernsteinsäure, alle anderen haben keine bis höchstens 0,3 Prozent Bernsteinsäure. Die Bernsteinsäure ist der physische Träger für die besonderen Qualitäten, Wirkungen und Aufgaben, die dem Ostseebernstein immer zugesprochen wurden. Überall in der Welt bei archäologischen Funden spielt Bernstein eine Rolle, und meist ist es Bernstein aus der Ostsee. Das älteste Fundstück wird von Archäologen auf 30000 Jahre geschätzt, und es gibt kaum eine wichtige archäologische FundsteIle, wo kein Bernsteinschmuck anzutreffen ist. Zur Bestimmung seiner Herkunft wird der Gehalt an Bernsteinsäure herangezogen.
In Ägypten, in Asien, überall haben die Kulturströmungen und Mysterien Bernstein von der Ostsee benutzt. Warum verwendeten sie nicht den eigenen Bernstein vor Ort? Warum war der Ostseebernstein so wichtig? Dieser besondere Raum war in frühgeschichtlicher Zeit eigentlich immer bekannt als ein Raum, der für die Mysterien eine besondere Rolle spielt. Heute wissen wir, daß in allen Mysterien zur Förderung des Einweihungsprozesses pulverisierter Bernstein verbrannt wurde, um dieses spezifische Zusammenwirken von Licht, Wärme, Luft in ihren geistigen Qualitäten zu bekommen. Wieviel Mut brauchte der Einzuweihende, um den Einweihungsgang zu gehen!

Manche Hinweise auf die Aufgabe des Bernsteins in der älteren Menschheitsgeschichte sind in der Mythologie enthalten. Eine große Bedeutung hatte der Bernstein in Griechenland. Homer erwähnt in seiner Odyssee nur einen einzigen Edelstein mehrmals, und das ist Bernstein. Ebenso ist die Geburt Apollos in der Legende eng mit dem Bernstein verbunden: Seine Mutter konnte nicht gebären. Eine große Gold- und Bernsteinstückekette, drei Ellen lang, erlaubte ihr aber, Apollo auf die Welt zu bringen. Apollo selbst, so wurde es in seiner Orakelstätte überliefert, war im Nordland, in Hyperboräa, um dort zu lernen. Dieses Hyperboräa spielt eine große Rolle in der griechischen Mythologie.

Das Wort »Elektron« bedeutet im Griechischen einerseits »Schutz«, aber es bezeichnet auch eine Metallverbindung von Gold und Silber, also eine besondere Verbindung zwischen Mond und Sonne. Dieser Verbindung wurde eine schützende Qualität für die Menschen zugesprochen.

Die Griechen haben in ihrer Mythologie auch eine Entstehungsgeschichte des Bernsteins überliefert. Wir lesen da über Eridanos, einen Fluß. Interessanterweise hat Eridanos zwei Spiegelflüsse, einen in Norditalien und einen in Griechenland, aber eigentlich bedeutet Eridanos Ostsee. Die Ostsee hat ja ihre heutige Gestalt erst seit der Eiszeit. Davor war sie eine Kette kleiner Seen, Eisseen, die verbunden waren durch einen Fluß. Dieser Fluß, der Eridanos, hat vom Norden, aus dem Gebiet, das jetzt zu Finnland, Schweden und Norwegen gehört, den Bernstein nach Süden getragen.

In diesem Land, das die Geologen Scandia nennen, ist aus Koniferen der Bernstein in unglaublich großen Mengen entstanden. Es ist abstrakt, diese Zahlen zu nennen, aber heute beträgt die Ausbeute an Bernstein in jedem Jahr ungefähr 50000 kg, früher wurde Bernstein in noch größeren Mengen gefunden. Diese große Menge Substanz ist dort im Norden entstanden, ich möchte sagen: durch Mysterienwirkung; aber bitte denken Sie nun nicht, die Substanz Bernstein sei nun ganz mechanisch mit dieser Aufgabe verbunden!

Und diese nordgewachsene Substanz wurde gegen Ende der Eiszeit von dem Eridanus transportiert hin über das gesamte Südufer der heutigen Ostsee, von der Nordseeseite über Rügen, über das heutige Polen bis nach Samland. Die Lagen des Bernsteins sind keine Schichten wie die der Kohle, sondern einzelne kleine oder größere Stücke sind in den Schichten anderen Materials verstreut. Auch die geographische Streuung ist sehr interessant. In der Nordseegegend finden wir überwiegend Stücke mit braun-rötlicher Farbe, sehr dunkle Stücke zumeist, dann eine braun-orange Färbung hier auf Rügen, orange bis gelb und etwas mit braun gemischt in Polen, und in Samland ist er ganz hell gelb mit weißen Tönen.

Bernstein findet man am häufigsten im Frühling, das ist die Fische-Zeit; es ist Sturmzeit, und da holt das Wasser ihn vom tiefen Meer ans Ufer vor allem kurz vor Sonnenaufgang. Die Bernsteinsucher sind in der alten Zeit am Strand ohne Schuhe gegangen, um nach dem Wärmegefühl die Stücke zu finden, das klappt auch heute. Am Südufer der Ostsee gab es einen Mysterienort der Prussen, wir wissen heute nicht genau wo, der eng verbunden war mit dem Bernstein. Man trug als Einweihungszeichen auf der Haut unpolierten Bernstein.

Kurzzeitig, vielleicht zwanzig Jahre lang, gab es in diesem Gebiet eine sehr interessante Verbindung zwischen der Kirche und den alten Mysterien, sogar mit einem christlichen Bischof.
Doch dann kam, gerufen auch von den Polen, der Deutschritterorden, der durch 200 Jahre ein Monopol innehatte über den Bernstein. Unter seiner Ordensregel war es bei Todesstrafe verboten, unbearbeiteten Bernstein zu besitzen. Die Deutschritter schickten den Bernstein zur Bearbeitung ausschließlich nach anderen Orten. Am Südufer der Ostsee bestand also lange Zeit gar keine Möglichkeit, den Bernstein zu bearbeiten, der nächste Ort, wo er bearbeitet wurde, war Lübeck, oder er ging in den Süden nach Venedig. Durch den Polierprozeß gehen Elementarwesen in die Luft, und das heißt also, daß der ganze Raum über 200 Jahre keinerlei Verbindung hatte mit den Kräften aus dem Bernsteinpulver.

Der Deutschritterorden kam ja auch in den tragischen Konflikt zu den Polen, mit denen er sich zuerst in Übereinstimmung befunden hatte, als er – auch aus geistigen Hintergründen heraus – den wichtigen nationalen Impuls des Litauers und polnischen Königs Jagiello bekämpfte. Dieser Konflikt hat noch jahrhundertelang die deutsch-polnische Geschichte beeinflußt.61)

Der Orden wurde geschlagen in der Schlacht von Tannenbaum 1410, und es kam zu der Situation, daß Jagiello bis vor Marienburg kam mit seinen Soldaten, er hätte diese Marienburg zerstören können. Das aber tat er nicht, weil die Deutschritter unter dem Mariapatronat standen. Er war wirklich eine große Persönlichkeit, und er hat das bewußt nicht getan, wenn man das auch später einen unglaublichen politischen Fehler genannt hat. Der Mariaschutz war ihm heilig, und bis heute ist er für die Polen bedeutungsvoll geblieben.

Mit der Ordensregel des Deutschritterordens über den Bernsteinhandel beginnt ein neues Bernsteinverständnis. Er wird nun als Schmuck, als ein Gegenstand für das tägliche Leben gesehen, auch für das religiöse Leben, aber nicht mehr in Verbindung mit den Mysterien.

Mit Bernstein ist die Qualität Mut verbunden. Ich möchte das einfach so in den Raum stellen. Der Mut, die Liebe zur Freiheit, war immer in diesem Gebiet eine höchste Qualität. Liebe zur Freiheit bis zum Lebensopfer. Auch in der modernen Zeit. Es ist kein Zufall, daß gerade von Danzig der Widerstand gegen die sozialistische Herrschaft ausgegangen ist, daß von hier die Solidarität-Bewegung gekommen ist. Ich erinnere mich daran: Gerade in der Zeit, als ich noch Kind war, sind bedeutende Mengen an Bernstein gefunden worden, der aber nicht so gut geeignet war für die Schmuckherstellung, so daß damals bei der Verarbeitung jede Menge Bernstein pulverisiert wurde; die ganze Stadt war in diese besondere Duftatmosphäre gehüllt. Zehn Jahre später, im Jahre 1980, entstand dieser erste Befreiungsimpuls.

Und diesen Gedanken möchte ich gern mit einem Wort von Rudolf Steiner verbinden: »Gerade so, wie wir zur Freiheit kommen durch die Durchstrahlung des Gedankenlebens mit dem Willen, so kommen wir zur Liebe durch die Durchsetzung des Willenslebens mit Gedanken. Wir entwickeln in unserem Handeln Liebe dadurch, daß wir die Gedanken hineinstrahlen lassen in das Willensgemäße; wir entwickeln in unserem Denken Freiheit dadurch, daß wir das Willensgemäße hineinstrahlen lassen in die Gedanken. Und da wir als Mensch eine Ganzheit, eine Totalität sind, so wird, wenn wir dazu kommen, in dem Gedankenleben die Freiheit und in dem Willensleben die Liebe zu finden, in unserem Handeln die Freiheit, in unserem Denken die Liebe mitwirken. Sie durchstrahlen einander, und wir vollziehen ein Handeln, ein gedankenvolles Handeln in Liebe, ein willensdurchsetztes Denken, aus dem wieder das Handlungsgemäße in Freiheit entspringt.
Sie sehen, wie im Menschen die zwei größten Ideale zusammenwachsen, Freiheit und Liebe. Und Freiheit und Liebe sind auch dasjenige, was eben der Mensch, wenn er dasteht in der Welt, in sich so verwirklichen kann, daß gewissermaßen das eine mit dem anderen sich gerade durch den Menschen für die Welt verbindet.«62)

Bernstein hat immer, dem Wandel der Zeiten entsprechend, seine neue Aufgabe gefunden, die aber auch immer die älteste ist. Die Freiheit und die Liebe müssen wir selber verwirklichen – den Mut dazu, ihn vermag die Luft aus dem Bernstein zu stärken.

Man sollte den Bernstein heute auf neue Art benutzen, nicht gerade als Talisman oder als ein Amulett. Man kann ihn benutzen zum Beispiel als Heilmittel. Bernstein war zu allen Zeiten ein Heilmittel. In jeder kleinsten Apotheke des 19. Jahrhunderts war Bernstein als Heilmittel vorhanden. Nur unsere materialistische Zeit hat ihn ganz vergessen. Bernstein ist eine zukünftige Substanz.

60) Enthalten in GA 316, Vortrag vom 6. Januar 1924
61) Karl Heyer hat zu diesem Thema auf der 3. Danziger Ostsee-Tagung 1927 einen Vortrag gehalten, der auch veröffentlicht ist in »Die Drei« 1928.
62) Rudolf Steiner, Die Brücke zwischen der Weltgeistigkeit und dem Physischen des Menschen, GA Bd. 202

Der Völkerraum der Ostsee als Zentrum für Europa. – Erich Trummler („Gäa-Sophia“ 1929)

„Gäa-Sophia“

Jahrbuch der naturwissenschaftlichen Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum Dornach

Herausgeber: Für die naturwissenschaftliche Sektion
Dr. Guenther Wachsmuth

Band 111

„Völkerkunde“

1 9 2 9

Orient-Occident-Verlag
Stuttgart – Den Haag – London

Der Völkerraum der Ostsee als Zentrum für Europa.
Erich Trummler

Das Dauerwesen, das Ich des Menschen, willigt beim Ergreifen eines Erdenleibes in Bedingungen ein, durch die es mit dem Leben eines bestimmten Erdgebietes in Zusammenhang tritt. Zwischen dem ätherischen Leibe eines jeden Menschen und dem ätherisch-elementaren Charakter einer Erdenlandschaft findet jener Austausch von Kräften statt, den der Mensch als Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volkstum erlebt. So bildet sich die physisch-ätherische Leiblichkeit jedes Menschen stets nach dem jeweiligen Verhältnis von Land und Meer, das in dem Erdgebiet vorwaltet, auf dem er wieder jung wird. Die harten Knochen und die weichen Muskeln bilden sich, je nachdem ob die ätherischen Kräfte der Wasser-Erde oder der Erdenfeste vorwalten, im bestimmten Verhältnis zueinander aus. Durch die besonderen ätherischen Grundverhältnisse, wie sie innerhalb eines Erdgebietes wirksam sind, fliessen die charakteristischen Tingierungen, durch die ein Volkstemperament sich abschattet und die Grundlage abgibt für das Wirken übersinnlicher Lenkerkräfte eines Volksgeistes. Völker sind auf Erden als abnorme Ausgliederungen aus den grossen Urrassen entstanden, die selbst wieder als Abweichungen von der Norm der göttlichen Schöpfungstaten sich bildeten. Den Rassen- und Völkerbildungen innerhalb des Weltenstandes Mensch entsprechen unaufhörliche Differenzierungen des Erdenleibes, des universalen ätherischen Organismus Erde. Volksgeister sind die Bauherrn der Völkerwohnungen im Ätherisch-Physischen, haben die Differenzierung der Erdenlandschaften bewirkt. Gerade in dem Maaße, als diese übersinnlichen Baukräfte abnorme Schöpfungsprozesse für die Erdentwicklung herbeiführten, halfen sie die irdischen Grundlagen schaffen für das Freiheitswirken des Menschen, in dessen gewaltigste Krise die Menschheit heute eintritt. Aber diese abnormen übersinnlichen Taten werden von innen heraus, aus dem Menschheits-Innern selbst überholt und adlerhaft überflogen von den neuen Schöpferkräften, die seit dem Mysterium auf Golgatha aus dem Ichkern des Menschen heraus am Leibe der Erde ihre Arbeit begonnen haben.

Das innerhalb der Volkheit sich ausdrückende Leben des Menschen hatte seine höchsten Erfüllungen in den Kulturen des Altertums, vor der Ankunft des Christus in einem irdischen Leibe. Für eine icharme, noch ichferne Menschheit gab die volkliche Verbundenheit den Wurzelgrund, den Kern der Bewusstseinsbildung. Der Blutzusammenhang, die Versippung innerhalb einer Volkheit, gewährte den Menschen die schauende Wahrnehmung für übersinnliche Führerwinke. Das Band des Volksgeistes war stark und erschuf sich selbst in den Menschen seiner Führung als das Bewusstsein der Volksgruppe. Nur die seltensten Menschen, Lehrer und Schüler der grossen Mysterienwege, vermochten – aus einer Art Vorschau des Sonnen-Ichs – ihre Zugehörigkeit zu einem Volkstum in „Echtheit„, als wirkliche Träger des Volksgeistes zu erfüllen. Solche „echten“ Träger der Erzgewalt eines Volkes waren im Sinne dieses übersinnlichen Volksführers „kosmisch intelligent„. Sie hatten die Schauensseele für die Entscheidungen ihres Volksgeistes. „Kosmische Intelligenz – das sind die gegenseitigen Verhaltungsmassregeln der höheren Hierarchien„, sagt Rudolf Steiner. Im Leben der nachchristlichen Menschheit, mit gewaltig mahnender Deutlichkeit erst in unserem Zeitalter, greift es als ein heilig-öffentliches Geheimnis um sich: dass es jeglicher individuellen Entwicklung innerhalb der Menschheit unausweichbar zur Aufgabe gesetzt ist, die, verglichen mit dem Altertumszustand, schon verfallende blutshafte Zugehörigkeit zum Volkstum rein geistig zu erfüllen, also rein im Ich schöpferisch zu überwinden; das höhere Ich, als das wahrhaft Selbstlose im Menschen, so zu stärken, dass es im Sinne eines Volksgeistes zum Träger kosmischer Intelligenz werden kann. Nur im ich-durchdrungenen Bewusstsein kann der Mensch noch, aus heutigem, zukunfttragenden Zeitengeiste, dem Geist seines Volkes dienen. Zwei Sätze Rudolf Steiners lauten: „Was nicht ein bewusstes Ich hat, können wir nicht als ein moralisches Wesen ansprechen.“ „Wir sprechen von Moralität nur bei einem Wesen, das in der Lage ist, aus dem mit seinem innersten Wesen verknüpften Wesenskern Impulse aufsteigen zu lassen.“ Was ist aber das Ziel des Ich und damit aller wirklich moralischen Kraft? Novalis sagt es: „jeder Mensch kann seinen jüngsten Tag durch Sittlichkeit herbeirufen.“ Auf das Gesamte des Völkerwerdens übertragen, würde das bedeuten: jeder Mensch kann durch die im Ich geistig erarbeitete Erfüllung seiner jeweiligen Volkszugehörigkeit am Erlöschen alles Völkerwesens, insofern es abnorme Werdevorgänge an Mensch und Erde heranträgt, arbeiten. Sowie man nie zur Erkenntnis der höheren, ätherischen Gesetzmässigkeiten der lebendigen Natur (der nicht getöteten) kommen kann, wenn man unbedingt und blind naturverbunden lebt, sondern erst, wenn man die Freiheit gewinnt, sich jeden Augenblick aus der Naturverbundenheit durch Todesliebe zu lösen, so wird man nie genial, mit dem höheren Selbst, wahrhaft menschlich, das Schicksal eines Volkes erfüllen können, solange man nicht jene tragischen Schauer heil durchschritten hat, in denen man – wie es Wilhelm Meister geschieht – freigesprochen wird durch die Natur selbst, also auch durch die Volksnatur. Damit wird man erst wahrhaft zugeeignet dem Volksgeiste und lernt die kosmische Intelligenz der „Engel des Vaterlands“ (Hölderlin) tragen.
Gibt es im europäischen Bereich Anzeichen dafür, dass diese freie Erfüllung der Volkszugehörigkeiten, diese aus dem Ich heraus zu leistende schöpferische Überwindung der Volkheit als solcher in ein Stadium getreten ist, das vom Menschen die Bewährung jener geistigen Kräfte schon fordert, wie sie im Sinne jenes Novaliswortes läge: „jeder Mensch kann seinen jüngsten Tag durch Sittlichkeit herbeirufen„? Im prüfenden Hinhören auf das Sprachverhalten heutiger Menschen kann etwas von der Beziehung eines Menschen-Ichs zu den übersinnlichen Wesensbereichen erkannt werden, denen auch „die Engel des Vaterlands“ angehören. Man wird im heutigen Europa Menschen innerlich begegnen können, die mit aller Macht ihrer Seele ins Reine zu kommen suchen mit dem Sinne ihrer Volksabstammung. Im Wie ihres Sprechens drückt es sich am stärksten aus. Könnte es heute nicht schon Volksmissionen geben, die selbst einen so unmittelbaren Zusammenhang mit der Norm, den Urmaaßen der göttlichen Schöpfung haben, dass sie die ihnen verbundenen Menschen anleiten zu der im Ich zu erarbeitenden Überwindung aller Völkerdifferenzierung überhaupt? Die Tatsache Volk weist immer auf kämpferische Erlebnisse hin normaler und abnormer übersinnlicher Führermächte untereinander. Die Geistesforschung Rudolf Steiners hat solche Völkermissionen, in deren Zeichen heute schon um den jüngsten Tag aller Volkheit überhaupt gekämpft wird, ihrem wahren Wesen nach gerade im europäischen Bereich gefunden und erkannt.

Europa ist der Erdteil, auf dem die Menschheit sich in ihrer mittleren Lebenslage darlebt. Sie erscheint hier wie in der Lebensmitte zwischen dem Urbeginn aller Geburten und dem „jüngsten Tag„, dem letzten ihrer Tode. Wie in einem Freiheit gewährenden Ausgleich der Lebens- und der Sterbekräfte. Die Altertumskulturen dieses Erdteils, seit Anbruch der nachatlantischen Zeiten keimhaft schon Zukunftszustände der Menschheit in sich tragend, bereiteten das Bewusstseinsseelenzeitalter vor, in dem die Menschheit heute lebt. Europäisches Altertum ist deshalb so rätselhaft. Es ist durchströmt von der noch unmittelbar erschauten Weisheit nachwirkender Atlantis. Aber es verwendet sie zur Bildung einer Menschenerde für das eigentlich tragische, faustische Zeitalter der Menschheit. Europa war für die Völker, die sich auf diesem Erdteil bildeten, eine Art Jenseits von Altertum und Jugendtum, um einen Sprachgebrauch des Novalis anzuwenden. Es war jahrtausendjährige Erziehung auf die Lebensmitte der Menschheit hin, auf eine Menscheitskultur wie auf der Schwelle zwischen Tod und Leben, im Ausgleich zwischen dem immerwährenden Geborenwerden und Sterben. Europa ist in solchem Sinne seit Hellas der Ort der Erdenklassik der Menschheit.

Mit gewaltigen einförmigen Erdflächen ist Europa einverwachsen in den asiatischen Kontinent. Die Erdenfeste überwiegt im Osten. Das Gedankenleben des Russen ist erdmütterlich inspiriert. An der physischen Leibhaftigkeit, an der physischen Stützung seines Denkens, dem Gehirn, insofern es physische Organisation ist, geschieht dem Osteuropäer die übersinnliche, inspirierende Arbeit seines Volksgeistes. Sie bewirkt ihm eine Physis, von der sich der Menschengeist beim Überschreiten der Todesschwelle leicht abzulösen vermag. Sie „erleichtert“ ihm die Erde.

Nach Westen zu schliesst sich die Bildung des Erdteils in reicherer Formensprache auf, gliedert sich mit Halbinsel und Inselbildungen dem Wässrigen des atlantischen Ozeans entgegen. Übermässig wirken hier „Genien des Meeres“ in die Hüllennatur des Menschen hinein, Bildekräfte der Wassererde, die den ätherischen Leib des Menschen konstituieren. Der Westeuropäer, insbesondere der Franzose, in modifizierter Art aber auch die auf den irisch-britischen Inseln lebende Menschheit, ist vor allem mit dem Lebensleibe der Feuchte des Erdkreises ausgesetzt. Er erlebt im ätherischen Leibe seine Einverwobenheit in die Strahlung des Volksgeistes. Werden einem solcherart vom Volksgeist zubereiteten Lebensleibe Gedankenleichname einverwoben, totes Gedankenwerk eingeschrieben, wie es im Leben der Neuzeit, dem kosmosentfremdeten, geschieht, so vermag sich ein Menschengeist nach dem Überschreiten der Todesschwelle nur schwer aus solcher ätherischen Hülle zu lösen. Sie bindet ihn in die Elemente des Erdkreises.

In der Mitte Europas treten diese beiden übermässigen Verhältnisse des Menschen zu den Bildekräften der Erdenlandschaft aus ihrer Einseitigkeit heraus. Ein gemässigter Zustand und rhythmischer Ausgleich ist hier das Vorwaltende in der naturgeistigen, elementarischen Grundlage für das Verhältnis des Menschen zum Volksgeist. Die Bildekräfte des Wässrigen und der Erdenfeste wirken in Mitteleuropa aus einem Harmonieverhältnis unmittelbar in die physische Konstitution des Menschen. Schon die besondere Konfiguration der Bildekräfte schafft also in der Mitte Europas einen Völkerraum, der geeignet ist als Naturgrundlage für eine im Ich erarbeitete Kultur des Masses, der in Freiheit gestalteten Lebensmitte der Menschheit.

Wo liegt der sinnlich-übersinnliche Stützpunkt für diese Urverhältnisse des europäischen Kontinents?


Zwei Binnenmeere greifen in die Bildung Europas im Süden und Norden ein, das mittelländische Meer und die Ostsee. Wie mit Fühlern strecken sich durch das Mittelmeer die Halbinseln, auf denen die griechisch-römischen Kulturen blühten, nach dem Kontinent der schwarzen Rasse hin. Es ist das Grenzmeer zwischen Afrika und Europa. Im Osten, gegen das Jordanland, stösst es wie an die Stirn Asiens, Grenzbereich einer dritten Welt. In diesem Gesamtraum erkämpfte der Geist des Erdteils seine Ablösung von den asiatisch-afrikanischen Kulturen. Es ist für Europa das Meer der Vergangenheit. Die Spannung zwischen fremden Welten liegt über dem Mittelmeer.

Anders im Norden. Auch die Ostsee, das baltische Meer, ist vom Westen her tief hineingenommen in die östlichen Gebiete Europas. Aber dieses nordöstliche Binnenmeer scheidet nicht fremde Welten, sondern sammelt die Länder des nördlichen Europa auf ein im Elementarischen wogendes Zentrum hin. Schon der Gestus der skandinavischen Halbinselbildung ist hierfür bezeichnend. Da umgreifen Kräfte der Erdenfeste von Nord-Osten her einen sehr gegliederten Raum. Wie hereingerufen in die ganze Tiefe des Erdteils ist diese nördliche Meereswelt. Im Süden wird sie in stumpfer Kontur von der norddeutschen Tiefebene umgrenzt, die mit ihrer vielfältigen Seenbildung wie an ihrer Verwandtschaft mit diesem Meereswesen festzuhalten scheint. Die stumpfe Küstenbildung wird nur an einer Stelle sehr bewegt, da wo die Insel Rügen sich dem Festland vorlagert. Diese für die Altertumskulturen Europas so bedeutsame Insel sendet ein vogelartiges Landgebilde gegen den Nordosten, einem auffliegenden Schwan vergleichbar, dessen Hauptkörper in der Gegend von Stubbenkammer sich befände, dessen eine Schwinge durch das Kap von Arkona angedeutet wäre, die andere durch die Steilküste in der Gegend von Göhren. Dieses dreifach gegliederte Halbinselgebilde, das im Altertum wichtigste Kultstätten trug, weist nach Nord-Osten. Im höheren Norden wird die Ostsee wie umschlossen von den im Urgestein ruhenden schützenden Kräften Skandinaviens, des uralten Thule. So ist die Ostsee das eigentlich europäische Meer. Ganz Nordeuropa in seiner ausgewogenen Verteilung von Wasser und festem Land zeigt wie in einer elementarischen Figur das Urverhältnis der Bildekräfte Europas selbst. Wie zu einem rhythmischen Wirbel sind die Ostsee und das aus dem finnischen Gebiet sie umgreifende skandinavische Festland ineinandergefügt. Von den einfachen Konturen, an denen sich Land und Meer trennen, kann man hier das Harmonieverhältnis von Feuchte und Feste für ganz Europa ablesen. Die nördliche Gesamtkonfiguration von Wasser und Land drückt das ätherische Urverhältnis aus, das für Mitteleuropa gilt. Vielleicht darf man sogar sagen: die Ostsee liegt nur scheinbar im Norden, sie ist eigentlich das die Mitte des Erdteils begründende Wesen. Sie ist äthergeographisch das Zentrum Europas. Eine solche Anschauung würde ganz den Angaben entsprechen. die Rudolf Steiner zur Entstehungsgeschichte des Ostseeraumes gegeben hat. In seinen Vorträgen über die „Kalewala“ schildert er die Entstehung des skythischen Meeres, wie man die Ostsee im Altertum auch nannte, folgendermassen: Gerufen vom Volksgeiste, der dem altfinnischen Volke eine Erdenwohnung baute, brachen Heere von Wassergeistern auf von Westen nach Osten. Die Ostsee entstand als ein gewaltiges Meeresdrachenwesen, das sich mit seinen elementansehen Genienheeren herauslöst aus dem westlichen Ozean, seinen Hals durch die Sunde zwischen Jütland, den dänischen Inseln und Skandia hindurchzwängt und mit seinem Haupte, wie mit drei Fühlern die Küsten Altfinnlands inspirierend und buchtend, sich dem Nord-Osten Europas eingliedert. Den Meeresdrachen des skythischen Meeres (wer dächte nicht an die Drachenkiele der Wikingerschiffe, an die Drachenhäupter auf den Dachsimsen altnorwegischer Stavkirchen) nennt Rudolf Steiner den „Inspirator der europäischen Menschheit“. Dieses Wasser-Ätherische habe sich herübergedrängt vom atlantischen Meer, um aus seiner Naturgeistigkeit heraus die Seele des altfinnischen Menschen, den zum Träger ureuropäischer Mysterien bestimmten, zu inspirieren. Mit dreifacher Elementesprache habe das Ostsee-Meereswesen die ätherische Leibhaftigkeit der altfinnischen Menschen so prägen helfen, dass sie sich in der Dreigespaltenheit der Seele, in einer „apollinisch“ erleuchteten Seelentrinität erleben konnten: traumhaft empfindend die aus dem Seelen-Innern aufsteigenden Lichtmächte, verstandes-seelisch die Kräfte der eigenen Lebensgestalt der irdischen Physis einprägend, bewusstseinsmächtig mit den Gewalten der äusseren Sinneswelt zusammenwachsend. Dieses apollinisch-seherische Erleben der Seele „in sich selbst„, in ihrer kosmischen Dreifaltigkeit, war noch vor-ichlich. Es hat, wie die Mysterien Griechenlands, seinen Ursprung in jenem kosmischen Ereignis der spätatlantischen Zeit, als die göttliche Macht, auf welche die Griechen mit dem Apollo-Namen deuteten, die Seelenkräfte des Menschen – Fühlen, Denken und Wollen – heilte und in harmonischen Ausgleich brachte. Dadurch wird auch verständlich, warum die Griechen sagten, Apollo käme in jedem Frühling vom Norden, von den Hyperboräern her, zu ihnen zurück. Das Geheimnis Altfinnlands, als das eigentlich ureuropaische Geheimnis, ist sozusagen das „übernördliche„, hyperboräische „Jenseits“ zu dem schon ganz ich-nahen, entschlossenen Diesseits der griechischen Kultur. In dem Volksepos der Finnen, der Kalewala, ist uns eine Spur dieser dreifaltig-kosmischen Uroffenbarung im altfinnischen Menschen erhalten. Als Wäinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen kommt ihre Kraft zum Menschen. In der Erdenlandschaft, die dem ursprünglich den ganzen Osten des skythischen Meeres umsiedelnden altfinnischen Volke zur Basis diente, drückte sich diese dreifach inspirierende Wasser-Erdenbildung aus als rigaischer, finnischer und bottnischer Meerbusen. Von diesem Meeresdrachen der Ostsee, in seiner Gesamtheit elementarischer Mächte, sagte Rudolf Steiner: „Er enthält alles, was geistig ist in der europäischen Menschheit. Würden wir ihn vollständig verstehen, diesen Drachen, würden wir uns ihm ganz hingeben können, dann würden wir alle Hellseher sein. Aber die europäische Menschheit hat nicht die Aufgabe, etwa bloss hellsehend zu sein, sondern sie hat die Aufgabe, gerade denjenigen Teil des Seelenhaften zu entwickeln, der über das Hellsehen herausragt, wie die Inseln aus dem Meere herausragen.“ Aus dem bloss Seelenhaften soll durch die Freiheitsarbeit des Menschen die Bewusstseinsnatur herausgearbeitet werden. Wie eine landschaftlich-ätherische Gewähr für diese Bewusstseinsarbeit haben die Elemente einst die britischen Inseln aus dem Atlantischen Meere gehoben. Auf den nordwestlichen Inseln Europas. sowie in der granitenen Landschaft des norwegischen Volksgeistes, haben die elementarischen Kräfte der Erdenfeste eine Trutzburg der atlantischen Gewässer-Fülle entgegengestellt. Die Engländer und in anderer Art die Norweger sind Bewusstseinsseelenvölker. Zwischen den finnischen Gebieten und den britischen Inseln hat sich die Dreiheit der skandinavischen Völker herausgestaltet, in immer sich erneuernden Zusammenhängen zu den Wesenskräften der Mitte Europas. Was im altfinnischen Volke vorichlich als kosmische Dreifaltigkeit der Seelenmächte erlebt wurde, bildete sich in den drei skandinavischen Völkern – Schweden, Dänen und Norwegern – im Verlaufe ihrer geschichtlichen Differenzierung aus der nordisch-germanischen Einheit ichkräftig in Sonderung aus. In allen drei skandinavischen Völkern ist, schon durch ihre Urgeschichte vorgebildet, ein starkes verinnerlichtes Ichgefühl, vom Volksgeiste her gewollt, da, ähnlich wie im Menschen der deutschen, mitteleuropäischen Welt. Aus verinnerlichtem Ichgefühl (verglichen mit den ganz andersartigen Ichzuständen etwa mongolischer Menschen) lebt der Schwede vorzugsweise in den Kräften der Empfindungsseele, der Däne in der Verstandesseele, der Norweger in Werdevorgängen der Bewusstseinsseele. Es ist, als lebe im höheren Norden Europas der Gesamtmensch, der mit seinen verschiedenen Wesengliedern als eine werdende Menschheit in die verschiedenen Völker Europas hineingeheimnist ist, wie in einer Wiederholung und Verdichtung seines ganzen Wesens noch einmal auf. Die Wesensglieder des Menschen, so wie sie sich aus dem Zusammenhang der skandinavischen Völkermissionen darleben, sind eine Art kleiner Mensch im grossen Menschen, der Europas Wesen ausmacht. Man könnte das Ostseezentrum, von seinem nördlichen Kräftespiel her, in seinem Verhältnis zu Gesamt-Europa dem menschlichen Kehlkopf vergleichen, der ja seinerseits eine verfeinerte Abbreviatur der ganzen Bewegungsgestalt des Menschen ist. Ein Vergleich, der im Hinblick auf die Tatsache als berechtigt erscheint, dass hier im Norden, ursprünglich zentriert auf den dänischen Inseln, aber die Menschheit ganz Nordeuropas durchbildend, die Mysterien Odhins ihre Stätten hatten, des Gottes der höheren Sprachgewalt und der Runen. Naturgeistige Geheimnisse der Sprachbegabung und des Ich-Ertragens wurden in den nordisch-germanischen Mysterien verwaltet.
Diese Völkermissionen Ostsee-Europas, in ihrem Altertum dazu bestimmt, unser heutiges Zeitalter innerhalb der europäischen Welt selbst vorzubereiten, sind es, die heute in gewandelter Form wirksam werden wollen für die beginnende Exkarnation der Menschheit. Die Geistesforschung Rudolf Steiners hat die Völkermissionen Norwegens und Schwedens in ihrer gewandelten Bestimmung erkannt: Menschen vom Volksgeiste her zu stärken für eine rein geistige, rein aus dem Ich heraus bewährte Erfüllung ihrer Volkszugehörigkeit. Für eine Ablösung der Menschheit von der Blutsgebundenheit an die abnormen volklichen Wesenskräfte durch moralische, d. h. ichentstammte Taten. Die gewaltigen Vorträge Rudolf Steiners, die dies behandeln und wie zur Vollendung der 1910 gehaltenen Vorträge „Über die Mission der einzelnen Volksseelen im Zusammenhang mit der nordisch-germanischen Mythologie“ nach dem Weltkrieg 1921 in Kristiania gegeben wurden, sind in der Wochenschrift „Das Goetheanum“ veröffentlicht (Jahrgang 1928, beginnend in Heft 31).



Was an diesen geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen auffällt, ist, dass für die norwegische Volksgeistigkeit die Bedeutung des schlafenden Menschen, für die schwedische die des wachenden Menschen geltend gemacht wird. Den Menschen im norwegischen Volkstum wird durch ihren Volksgeist die Gabe zuteil, sich im Schlafesbewusstsein in tiefer Verbundenheit zu finden mit allem Götterwirken in der Natur, zumal der ätherisch-kraftvollen, elementeklaren, im krystallinischen Urgestein gegründeten Natur ihrer nördlichen Erde. Erst nach dem Tode, als Summe aller Schlafesnächte eines Lebens, werden solche naturmessianischen Erfahrungen des schlafenden Menschen fruchtbar. Dem im Ich errungenen moralischen Wesen solcher Seelen werden sie da zur Kraft, den schaffenden Geist, die „werktätige Wissenschaft“ (Schelling) der Natur anderen Seelen zu lehren. Zu Naturlehrern unter den Abgeschiedenen sind Menschen aus dem Norwegertum heraus bestimmt. Was heisst es, dass sogenannte Tote den Geist der Natur lehren? Nur einige Hinweise seien im Rahmen dieser Studie im Sinne der Geisteswissenschaft gegeben.

Das Geisteswesen der durch die Schwelle des Todes geschrittenen Menschen ist zumal in der ersten Zeit nach dem Tode zu intensivstem Schaffen an den Reichen der Natur berufen. Entelechien, die im Tode sich rein und vollkommen aus ihrer irdischen Leibesgebundenheit zu lösen vermögen, werden weisere Kräfte frei haben für dieses jenseitige Naturschaffen als solche, die ihren irdischen Daseinsdrang noch über die Schwelle des Todes weit hinaustragen. Der erste Bereich, in dem die Toten wirken, ist derselbe, in welchem die Gruppenseelen der Tiergattungen ihr wesenhaftes Dasein haben. An der Höherentwicklung der Tiere arbeiten die Toten zuerst. Im Dasein der tierischen Welt entscheiden weisere – oder dumpfere Kräfte der Toten über die Weiterentwicklung zu vollkommeneren Stufen. Dieses erste Reich, in das sich die Abgeschiedenen einleben, ist für alle Toten gemeinsam. Kosmische Taten, von höchster Bedeutung für die Bildung der Erde, geschehen hier, je nach der naturgeistigen Weisheit derer, die durch die Todesschwelle gingen. An dieser einzigen übersinnlichen Tatsache kann die Bedeutung einer Volksmission ermessen werden, die Menschenseelen zu einem naturweisen nachtodlichen Bewusstsein erziehen will. Unermesslich, wirksam auch für das pflanzliche und mineralische Reich, ist die kosmische Arbeit der Toten in den verschiedenen Stadien ihres Lebens zwischen Tod und Wiedergeburt.

Menschenseelen, die sich im schwedischen Volkstum inkarnieren, sind durch die Kraft ihres Volksgeistes dazu bestimmt, empfindungsklar zusammenzuwachsen mit den Eindrücken der Sinneswelt. Bei tagwachem Bewusstsein, durch den besonderen Empfindungswert ihrer Sinneswahrnehmungen, stauen sie Erfahrungen an im Zusammenwachsen mit dem waltenden Willen in der Natur. Erst nach dem Tode wird ihnen dieses aufgestaute Geisteswollen helfende Kraft. Willensfeuer der Gottnatur können sie in andern erdenabgeschiedenen Seelen entfachen. Was ist in diesem Falle an der Mission dieses Volkes gewandelt? Rudolf Steiner schildert einmal die Rolle des Gottes Freyr im nordisch-germanischen Mythos. „Freyr der Gott, und Freia, seine Schwester, waren in ihrem Ursprung gedacht und empfunden als diejenigen Engelwesen, welche in die menschliche Seele gegossen haben alles dasjenige, was die menschliche Seele brauchte, um unmittelbar auf dem physischen Plane fortzuentwickeln die alten, durch das hellseherische Vermögen aufgenommenen Kräfte.“ Freyr lebt in den übersinnlichen Kräften, die der Mensch beim sinnlichen Wahrnehmungsakt verstrahlt. Nordische Mysterien schauten diese Verbindung der kosmischen Freyrkräfte mit den Riesenkräften, die in der verirdischten physischen Organisation walten im Bilde der Ehe Freyrs mit der Riesentochter Gerd. Mit der Entwicklung höherer Erkenntnisfähigkeiten des Menschen-Ichs in heutiger Zeit geschieht auch die Lösung der Freyrkräfte aus ihrer Verfangenheit in der physischen Sinnesorganisation. Der romantische Philosoph Franz v. Baader schildert einmal, wie sich der innere Sinn, also geistige Organe, nicht bleibend entwickeln können, ohne das vergängliche Wesen der äusseren Welt aufzuheben oder selbst vergehen zu machen. Wo der innere Sinn innert den äusseren Sinnen erst aufzugehen beginnt, wird er sich auch nur teilweise bemerklich machen. „Nur bei völliger Befreiung des inneren Sinnes wird derselbe als nirgends ausschliesslich, weil überall, ganz seine Objektivität in und durch jeden äusseren Sinn kundgeben. Der Eintritt des inneren Schauens macht sich übrigens durch Rührung (Gefühl) merklich, weil nach dem Satze, corpora non agunt nisi soluta‘ vorerst die Flüssigmachung des äusseren Sinnes vor sich gehen muss, ehe dieser als solcher hervorzutreten vermag.“ Sätze, die hier auf das heutige Wirken des schwedischen Volksgeistes angewendet seien. Schwedische Menschen, von ihrem Volksgeist zur Ausbildung der empfindungsseelischen Kräfte in besonderer Art bestimmt, arbeiten an der Ablösung der durch die Freyr-kräfte bewirkten Konstitution der Sinnesorgane. In der Mission dieser Volkheit liegt es heute, die „Flüssigmachung der äusseren Sinne“ geltend zu machen im Menschheitswerden und dadurch eine Kraft in Menschenseelen zu bewirken, die sie im nachtodliehen Dasein dazu bestimmt, Willensimpulse in anderen Seelen zu entfachen. „Der Tote„, sagt Rudolf Steiner, „weiss im wesentlichen durch den Willen, während der Erdenmensch im wesentlichen durch die Vorstellung weiss.“ Nach seinem Verweilen im Seelenreich, wo er an der Höherentwicklung der tierischen Gattungen arbeitet, lebt sich der Tote in ein sich weitendes Leben von Willensimpulsen ein. Verbindungen zwischen den Seelen der Abgeschiedenen schliessen sich. Als Willensstärkung oder Willensschwächung erfahren die Toten aneinander kosmisch-weisheitsvolle Freundschaften, Reifungen, Wandlungen der Schicksalskräfte. Für dieses kosmische Freundschaftswirken bildet der Volksgeist der Schweden Menschenströmungen heran.


Rudolf Steiner hat nur für die Wandlung der Völkermissionen Norwegens und Schwedens Hinweise gegeben. Es läge die Frage nahe, welche Aufgabe die dänische Volkheit für Gegenwart und Zukunft hat. Es sei hier immerhin auf bedeutsame Worte N. F. S. Grundtvigs hingewiesen, des grossen dänischen Führers, der ein echter Träger kosmischer Intelligenz im Sinne nordischen Volksgeistes war. Im Vorwort zu seiner prophetischen Dichtung „Neujahrsmorgen“ spricht Grundtvig von einem „Wiederaufleben des Heldengeistes im Norden zu christlichen Taten“ und sagt: „Die Betrachtung der Neuzeit lehrt mich, dass wenn Gottes Wort bestehen soll, eine wundersame Auferweckung geschehen muss, und es ist nicht bloss Liebe zur Volkheit, die meine Hoffnung hat entstehen lassen, diese Auferweckung hier im Norden zu erleben, es ist die ganze Menschheitsgeschichte, die wie mit Gottes Finger darauf hinzeigt, es ist die ganze nordische Geschichte, die mir die Vorbereitung dazu zeigt. Durch die Hand der Vorsehung, die nie fehl weist und unmöglich gehindert werden kann, wird sie ihr Ziel erreichen.“ „Darum bin ich so sicher, dass Dänemark das Palästina der Geschichte ist. Sollte irgend ein anderes Volk die Kinder Dans und Skjolds ihres herrlichen Erbes berauben, so kann es nur geschehen, dass es sich den Geist unserer Väter zueignet, den die abtrünnigen Kinder selbst verstiessen, gleichwie Israels Erbe im Geiste überging auf die Heiden, die sich im Christus geistlebendig zueigneten Abraham, Isaak und Jakob.“ „Dänemarks Tote sind doch nur Träumende, die nun in Bälde auferstehen werden.“

Die Mission Dänemarks zielt auf das Ermutigungswerk, jene „wundersame Auferweckung“ des höheren Ich im inspirativen, kosmischen Denken für den Norden Europas zu bewirken, auf die Grundtvig deutete. In dem Zeitalter, in dem die Menschen sich in der Kraft der Verstandesseele entwickelten, geschahen auch die Urereignisse der Christenheit in Palästina. Aus der Volkheit der Dänen lebt sich eine Verstandesseelenkultur nordisch-ichstark dar. Was ist das Wesen der Verstandesseele? Es ist „die vom Denken bediente Seele„. (Rudolf Steiner. „Theosophie„.) In ihr bewährt das Ich den denkerischen Mut zu sich selbst und bedient sich dabei der Kräfte des ätherischen Leibes. Fähigkeiten des Mitleids, der Liebe, machen ihr Wesen aus (die 5. Seligpreisung zielt auf die Verstandesseele!) und bewirken die wahrhaftige Ausbildung des Denkens. Dem höheren Erkenntnisstreben verwandelt sich die Verstandesseele in die Inspirationsseele, die sich allein auf den ätherischen Organismus stützt. Gerade die Gestalt Grundtvigs legt Zeugnis ab von einem inspirativen Denken, das jenseits aller Trübung durch den physischen Organismus sich hält. Das Ich des Menschen erkennt sich selbst im inspirativen Denken als Träger kosmischer Intelligenz und beheimatet sich dadurch in der Welt der ätherischen Erscheinungen. Einige Zeilen aus dem Gedichte „Neujahrsmorgen“ mögen andeuten, wie sehr Grundtvig als ein Schauender um die Macht wusste, die der Inbegriff kosmischer Intelligenz selbst ist: Die Verse bergen das Geheimnis des Völkerraumes rings der Ostsee: Menschen-Iche heranzubilden, die durch Sittlichkeit, durch ein Sich-Erschaffen im „lebendigen Wort“ auch den jüngsten Tag der Völker herbeirufen und Heilung von den abnormen Schöpfungsprozessen bewirken helfen, die sich an die Tatsache der Völkerexistenzen auf Erden knüpfen:

Im Nordlicht sah ich / den Sonnenherold / sonnengleich er lohte. / kalte Flamme war sein Glanz.